Nur noch 2600 frei Warum sind Intensivbetten schon wieder knapp?
28.10.2021, 17:42 Uhr
Viele Intensivpflegerinnen und -pfleger haben erschöpft und frustriert ihren Beruf aufgegeben.
(Foto: REUTERS)
Die vierte Welle hat erst begonnen, den Höhepunkt wird sie vermutlich nicht vor dem kommenden Jahr erreichen. Doch schon jetzt werden die Krankenhaus-Kapazitäten knapp, aktuell gibt es nur noch rund 2600 freie betreibbare Intensivbetten. Warum ist das so, was läuft falsch in Deutschland?
Bei Forderungen, mit dem Ende der epidemischen Notlage am 25.November in Deutschland einen "Freedom Day" nach britischem, dänischem oder schwedischem Vorbild zu feiern, bleiben nicht nur signifikante Unterschiede bei Impfquoten, Alters- und Sozialstrukturen oder geografische beziehungsweise sozialgeografische Besonderheiten unberücksichtigt. Auch die Kapazitäten deutscher Krankenhäuser werden oft völlig falsch eingeschätzt. Tatsächlich sind die freien betreibbaren Betten jetzt schon knapper als zum Höhepunkt der vergangenen Winterwelle.
Eklatanter Personalmangel
Aktuell zeichnet sich noch keine Überlastung der Krankenhäuser ab, aber die vierte Welle hat auch erst begonnen und mit den derzeit zum Teil rasant steigenden Neuinfektionen könnte die Luft schon bald knapp werden. Heute stieg die Zahl der Corona-Intensivpatienten um 39 auf 1800. In den vergangenen zehn Tagen gab es im Schnitt rund 35 Neuaufnahmen.
Das scheint nicht viel zu sein. Problematisch ist aber, dass schon jetzt weniger freie betreibbare Intensivbetten zur Verfügung stehen als zum Jahresanfang, als fast 6000 Menschen mit einer Covid-Infektion intensiv versorgt werden mussten. Heute meldete das DIVI-Intensivregister 2611 freie Betten, am 3. Januar waren es 3723. Zurückzuführen sind die geringen Kapazitäten vor allem auf einen eklatanten Personalmangel.
"Stille Hoffnung" Notfallreserve
Theoretisch gibt es in Deutschland noch jede Menge freier Intensivbetten. Mit rund sechs Betten pro 100.000 Einwohnern hatte die Bundesrepublik laut OECD schon 2019 nach Japan und Südkorea theoretisch weltweit die beste Versorgung. In der Corona-Krise wurde weiter aufgestockt und die DIVI weist aktuell eine Notfallreserve von knapp 10.450 Intensivbetten aus.
Diese zusätzlichen Kapazitäten stehen aber still und können nur durch Personal aus anderen Bereichen in Betrieb genommen werden. Das heißt einerseits, dass dort Betreuungslücken entstehen und nicht notwendige Operationen verschoben werden müssen. Andererseits sind Pfleger aus anderen Stationen nur bedingt auf Intensivstationen einsetzbar. Das Gleiche gilt für Leasing-Kräfte, mit denen die Krankenhäuser die Lücken zu füllen versuchen.
Zu einer zusätzlichen Verknappung führte im Februar die Rückkehr zu Personaluntergrenzen von zwei Patienten pro Pflegekraft in der Tagschicht, nachts auf drei. Zuvor mussten auf Intensivstationen 2,5 beziehungsweise 3,5 Patienten betreut werden. Von Beginn der Corona-Pandemie an bis August 2020 gab es gar keine Untergrenze.
Der medizinisch-wissenschaftliche Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, schrieb ntv.de, er habe trotzdem "die stille Hoffnung, dass uns die Notfallreserve über den Winter retten wird". Die Stimmung habe in den Krankenhäusern aber bereits einen Tiefpunkt erreicht, sagt er. "Die ist teils unterirdisch. Es wird einen Kampf geben um die Betten, Chirurgen wollen operieren (zu Recht) und andere Disziplinen ihre Fälle machen. Das wird mit Corona und, wenn wir Pech haben, Influenza konkurrieren." Hier gelte Landesrecht und "aus dem Dilemma kommt man nur mit einer glasklaren Ansage der Gesundheitsminister raus".
Fünf Bundesländer im roten Bereich
Derzeit ist nicht die Lage in den beiden Bundesländern mit den höchsten Fallzahlen am dramatischsten. In Thüringen (Inzidenz 260) sind noch 11,6 Prozent der betreibbaren Intensivbetten frei, in Sachsen (239) sind es 13,3 Prozent. Bayern, das mit 209 Neuinfektionen die dritthöchste Inzidenz hat, ist mit 10,00 Prozent aber schon im roten Bereich, den auch vier weitere Bundesländer bereits erreicht haben. Am schlechtesten ist die Situation in Berlin (Inzidenz 129), wo nur noch 6,4 Prozent der betreibbaren Intensivbetten nicht belegt sind.
Dass hohe Impfquoten nicht zwingend freie Intensivkapazitäten bedeutet, sieht man in Bremen, wo rund 81 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten haben - mit Abstand die höchste Quote der 16 Bundesländer. Trotzdem sind dort nur noch 6,8 Prozent der Intensivbetten frei.
Das liegt unter anderem daran, dass die Intensivstationen hohe Inzidenzen erst mit zwei bis drei Wochen Verzögerung zu spüren bekommen. Die Hansestadt zählt jetzt zwar nur noch 75 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche, am ersten Oktober waren es aber noch 120.
Auch im Saarland, das mit 60 Fällen aktuell die niedrigste Inzidenz und die zweithöchste Impfquote (75,6 Prozent) hat, sind nur noch 7,8 Prozent der Kapazitäten frei. In Hamburg (73,8 Prozent/92) stehen noch 8,1 der betreibbaren Betten zur Verfügung.
Stationen auch ohne Corona nahe am Limit
Ein Grund für knappe Kapazitäten trotz vergleichsweise niedriger Inzidenzen, könnte sein, dass die Stationen oft auch ohne Corona-Krise aus Kostengründen nahe an der Auslastungsgrenze betrieben werden. So liegen laut DIVI in Bremen bisher nur in 17 der 167 belegten Intensivbetten Corona-Patienten. In Hamburg sind es 38 von 464, im Saarland 15 von 379, in Berlin 112 von 979, in Bayern 366 von 2785.
Ein Blick auf die Belegung in den Landkreisen zeigt, dass die Lage regional oft schon weit dramatischer ist und etliche Stationen bereits voll belegt sind. Viele davon findet man in Bayern, einige in Thüringen oder Sachsen, aber auch in Bundesländern mit niedrigeren Inzidenzen. Die Beispiele der beiden Landkreise mit den höchsten Fallzahlen Deutschlands zeigen, dass es auch sehr große Unterschiede auf engem Raum gibt und Prozentwerte auf Kreisebene wenig Aussagekraft haben.
Der Landkreis Mühldorf am Inn ist aktuell mit mehr als 600 Neuinfektionen trauriger Rekordhalter. Die Intensiv-Kapazität ist dort bereits voll ausgeschöpft, in den insgesamt nur zwölf Betten liegen zwei Corona-Patienten. Der benachbarte Landkreis Traunstein hat die zweithöchste Inzidenz mit 510 Fällen. Dort sind aber noch 8,3 Prozent der betreibbaren Betten verfügbar. In Zahlen heißt das, 3 von insgesamt 36 Betten sind frei, acht der Patienten haben Covid-19.
Es ist ein deutschlandweiter Flickenteppich, weshalb es im Winter darauf ankommt, die Patienten so zu verteilen, dass alle zur Verfügung stehenden Kapazitäten auch genutzt werden. "Eine strategische Patientenverlegung sollte frühzeitig avisiert werden", riet Karagiannidis Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek, der auf eine "punktuelle Auslastung von Kapazitätsgrenzen" hinwies. Eine frühzeitige strategische Planung sei besser, als auf Sicht zu fahren.
Nur wenige Kliniken für schwerste Fälle gerüstet
Wenige Corona-Patienten bedeutet aber nicht automatisch eine geringe Belastung der Stationen. Man kann Covid-19-Fälle nicht mit "normalen" Patienten vergleichen, es gibt verschiedene Stufen der Intensivbehandlung und auch Krankenhaus ist nicht gleich Krankenhaus. "Es gibt kleinere und größere Krankenhäuser. Wir unterscheiden Grundversorger, Regelversorger, Schwerpunktversorger und Maximalversorger", erklärt ein Narkosearzt auf Twitter. "Kleine Krankenhäuser sind üblicherweise für die Regelversorgung zuständig. Das heißt, sie sind für alltägliche Krankheiten und Verletzungen gerüstet, nicht aber für komplizierte Operationen oder eben die Behandlung von schwerstkranken Covid-19-Patienten, die invasiv (intubiert) beatmet werden müssen."
Das trifft besonders dann zu, wenn sie eine ECMO benötigen, eine Extrakorporale Membranoxygenisierung. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine künstliche Lunge. Durch sie fließt das Blut des Patienten und wird mit Sauerstoff angereichert, weil seine eigene Lunge dies nicht mehr kann. Normale Krankenhäuser haben so etwas nicht, auch gut ausgestattete Einrichtungen nur selten. ECMOs findet man gewöhnlich in den großen Häusern wie beispielsweise der Berliner Charité.
"Low-Care"-Behandlungen, bei denen keine invasive Beatmung erfolgt, können oft auf Normalstationen ausgelagert werden. Problematisch sind daher vor allem die "High-Care"-Fälle. Diese Betten benötigen nicht nur viel, sondern auch hochqualifiziertes Personal.
Covid-19-Patienten brauchen mehr und länger Pflege
Dass Intensivbetreuung vor allem auch personalintensiv bedeutet, gilt schon in normalen Zeiten. Die Corona-Pandemie hat die Situation allerdings nochmal deutlich verschärft. Denn während andere Patienten, beispielsweise nach einer Operation oder einem Unfall, in der Regel nur einige Tage auf der Station bleiben, müssen schwer erkrankte Covid-19-Patienten oft mehrere Wochen intensiv behandelt werden, ein Monat oder mehr ist keine Seltenheit.
Außerdem ist die Behandlung von Corona-Patienten häufig besonders aufwändig. Invasiv beatmete Patienten müssen beispielsweise mit allen Schläuchen und Kabeln regelmäßig in die Bauchlage gedreht werden. Dafür sind rund fünf Personen nötig, oft müssen dies aktuell drei Pflegekräfte hinbekommen. Dazu kommen viele andere Komplikationen und die besonderen Hygienemaßnahmen.
Mit diesen Unterschieden erklärt sich auch, warum im August eine Analyse der Initiative Qualitätsmedizin rein statistisch zu dem Ergebnis kam, dass es bei den intensiv behandelten schweren akuten Atemwegsinfektionen (SARI) im Vergleich zu 2019 in der Corona-Pandemie einen Rückgang gegeben hat. In der Statistik zählt ein OP-Patient, der fünf Tage auf der Station liegt, ebenso viel wie ein Covid-19-Fall, der dort vier Wochen verbringt.
Personalbedarf nicht ganz klar
Wie viel qualifiziertes Personal in den Krankenhäusern fehlt, ist nicht ganz klar. Die gemeldeten Zahlen unterscheiden nicht zwischen normalem und intensivem Pflegedienst. Außerdem sagten sie nichts über Dienstpläne aus, da ganz viele Pflegekräfte in Teilzeit arbeiteten und damit die Anzahl der Köpfe zunehmend an Wertigkeit verliere, sagt Christian Karagiannidis. "Weiterhin berichtet das Statistische Bundesamt frühestens ein Jahr nach Datenerhebung über die Zahlen, womit jegliche Aktualität ad absurdum geführt wird."
Nachdem es anfangs nur Applaus gab, folgten in den Pflegeberufen zwar auch Prämien und Gehaltserhöhungen. Aber grundsätzlich sind die Löhne in der Branche vergleichsweise niedrig, laut Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit erhält eine Intensiv-Fachpflegekraft im Mittel 4100 Euro brutto monatlich.
"Aufgabe für kommende Regierung"
Wegen des relativ niedrigen Gehalts für einen Knochenjob mit hoher Verantwortung, aber vor allem wegen Überlastung erwog im April laut einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizien und Notfallmedizin (DGIIN) rund ein Drittel der Beschäftigten in der Intensivmedizin, ihren Job an den Nagel zu hängen.
Viele haben dies tatsächlich auch getan. Der Jenaer Klinik-Direktor Michael Bauer sagte erst gestern dem MDR, im Verlauf der Pandemie hätten bereits etwa 10 bis 20 Prozent des Pflegepersonals den Thüringer Intensivstationen den Rücken gekehrt. Die Krankenhäuser hätten im Mai noch etwa maximal 1000 Intensivbetten betreiben können, jetzt seien es nur noch rund 700.
"Die Problemlösung des Pflegenotstandes sollte eine der elementaren Aufgaben der nächsten Bundesregierung sein", sagt Karagiannidis, "beginnend mit einer völlig transparenten Datenerfassung und Berichterstattung mit dem Ziel, die Versorgung zu verbessern. Wir tun uns mit Transparenz viel zu schwer, obwohl es am Ende der Beginn einer nachhaltigen Lösung ist".
Quelle: ntv.de