Politik

Von Covid-Front in den Bundestag Arzt sieht grobe Fehler bei Impfkampagne

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Archivbild aus dem Jahr 2019, als Dahmen noch die Berliner Notarzteinsätze koordinierte.

(Foto: imago images/Marius Schwarz)

Im November rückte Janosch Dahmen für Katja Dörner in den Bundestag; inmitten der Pandemie ein Glücksfall für die Grünen: Der 39-Jährige koordinierte bis dahin die Notarzteinsätze der Berliner Feuerwehr. Sein Schwerpunktthema: die Covid-19-Erkrankungen. Im Interview mit ntv.de erklärt Dahmen, warum die Impfungen für ihn schlecht geplant sind. Der Vater zweier Kinder fordert zudem einen noch strengeren Lockdown, Schnelltests für alle und bessere Strategien zur Kontaktnachverfolgung.

ntv.de: Die lang ersehnte Impfkampagne gegen Covid-19 läuft und das früher, als man im Sommer hoffen konnte, doch anstelle von Euphorie wächst die Kritik. Sind die Impfungen tatsächlich so schlecht angelaufen?

Janosch Dahmen: Wir haben seit Ende Dezember 1,3 Millionen Impfdosen in Deutschland. Davon haben wir bisher nur einen sehr kleinen Anteil verimpft. Da müssen wir schneller werden. Nicht zuletzt deswegen, weil wir die Mutation, die in Großbritannien und Irland völlig eskaliert, in Europa nicht aufhalten werden können. Jeder Tag, an dem es uns gelingt, mehr Menschen zu impfen, schützt uns vor einer Katastrophe.

Im Zentrum aller Bemühungen stehen zunächst die Pflegeheime. Doch das geht zum Teil nur schleppend voran. Woran liegt das?

Die Impfkampagne ist sehr technisch geplant worden. Die Folgen erleben die mobilen Impfteams in den Pflegeheimen: Die Aufklärung der Heimbewohner und das Einholen einer Einverständniserklärung standen nicht im Mittelpunkt der Vorbereitungen. Aber das ist kein einfacher Nebenaspekt. Man hat zudem sehr spät die Pflegeeinrichtungen hinreichend darüber informiert, wer wann kommen wird und was wann zu tun ist.

Was wäre die Alternative gewesen?

Die Planungen gingen vorbei an den etablierten Strukturen, die im Alltag mit dem Impfen befasst sind: die Hausärztinnen und Hausärzte. Die sind die Mittler zum Patienten. Die sind permanent im Kontakt mit Angehörigen, die gegebenenfalls eine Betreuungsvollmacht haben, oder auch mit den berufsmäßigen Betreuungseinrichtungen, die sich um die zu Pflegenden kümmern. Die haben das Vertrauensverhältnis zum Patienten, sodass die Aufklärung ganz anders funktioniert.

Wo hakt es noch?

Ein weiteres Problem ist das sehr zentralistische Konzept der Impfzentren. Das funktioniert nicht, wenn wir schnell die besonders gefährdeten Alten außerhalb der Pflegeeinrichtungen erreichen wollen. Es gibt in den allermeisten Bundesländern noch kein vernünftiges Konzept für die Impfung hochbetagter Menschen außerhalb der Heime. Das ist aber der größere Teil. Die Vorstellung, die seien mobil, nur weil sie außerhalb einer Einrichtung leben, und dass die irgendwie mit einem Taxi oder Angehörigen zum Impfzentrum kommen, ist falsch. Das ist nicht die Lebensrealität.

Was ist die Alternative?

Auch der Blutspendebus steht nicht irgendwo fest herum, sondern fährt in die Quartiere. So könnte man blockweise bestimmte Regionen durchimpfen. Die Hausärztinnen und Hausärzte kennen die Patientinnen und die Gegend. Der Impfbus brächte die Impfdosen, könnte sie vorbereiten und konfektionieren. So bringt man die Expertise der Aufbereitung zu dem Ort.

Aber die Impfzentren stehen schon. Sollen die leer bleiben?

Die Impfzentren könnte man später nutzen beziehungsweise sie vorerst prioritär für das Personal im Gesundheitssystem einsetzen. Das ist gesund und mobil. Diese Leute können sich viel flexibler selbst eintakten bei der Terminvergabe via Internet oder Telefon.

Was kann noch zur Beschleunigung der Impfkampagne unternommen werden?

Zum Beispiel wird im Moment für jede gespritzte Impfung eine zweite in den Kühlschrank gestellt, um diese Dosis für den zweiten Impftermin sicher parat zu haben. Das ist unter individuellen Gesichtspunkten richtig und nachvollziehbar, weil man dann sicher im Zeitfenster bleibt, das die Zulassung vorgibt. Die Briten hingegen - und ich finde das richtig - stellen sicher, alle vorhandenen Impfstoffe schnell zu verimpfen. Entweder stellt man für eine sehr kleine Gruppe die 95-prozentige Impfsicherheit her oder erreicht fast doppelt so viele Menschen und riskiert, dass die Obergrenze von 42 Tagen Abstand zwischen beiden Spritzen gerissen wird.

Ist das Gebot zur Eile zu Beginn der Impfkampagne denn größer als zu einem späteren Zeitpunkt?

Ja. Wenn wir es schaffen würden, in einem möglichst kurzen Zeitraum einen großen Anteil der Prioritätengruppe eins zu impfen, also die über 80-Jährigen, dann würden wir die Belastung des Gesundheitssystems überproportional senken, weil diese Gruppe öfter und schwerer erkrankt.

Doch dafür müssen eben auch alle mitmachen, die Betagten und ihre Pfleger. Aber gerade das Personal in Pflegeheimen und Kliniken ist zu einem großen Teil selbst skeptisch. Woher kommt das?

Pflegekräfte oder Ärzte sowie Ärztinnen entscheiden über die eigene Impfung immer aus einer individuellen Perspektive, die genauso irrational sein kann wie bei anderen Menschen auch. Umso wichtiger ist es, dass wir deren Informationsbedürfnis ernst nehmen. Die Fragen können aus ihrer Fachlichkeit heraus detaillierter oder andere sein als in der Allgemeinbevölkerung. Pflegekräfte und Ärztinnen sowie Ärzte zu überzeugen, ist besonders wichtig, weil die Mitarbeiter im Pflege- und Gesundheitssystem Multiplikatoren sind. Die werden von den Menschen gefragt, ob sie sich selbst impfen lassen. Die Antwort hat Signalwirkung.

Fehlt es allgemein an zuverlässigen Informationsangeboten?

Ich frage mich schon, warum wir denn noch immer nicht die eine Informationsplattform haben, die die wichtigsten 50 Fragen beantwortet. Die auch in die Details reingeht und auf die Studienlagen verweist. Wir dürfen doch diejenigen, die Fragen haben, nicht verurteilen, sondern müssen Antworten liefern.

Eine oft geäußerte Sorge betrifft die Langzeitwirkung der neuen Impfstoffe, die nicht ausreichend erforscht sei. Ist das so?

Das ist absolut richtig. Die Daten zu den Impfstoffen bilden bisher allenfalls ein paar Monate ab. Für diesen Zeitraum können wir sagen, sind die Stoffe sicher und gut verwendbar. Wir wissen aber tatsächlich nicht, was in zehn Jahren ist. Das fängt ja schon damit an, dass wir nicht wissen, wie lange die Impfung anhält.

Das klingt aber nicht vertrauenserweckend.

Entscheidend ist die Abwägung folgender Frage: Was ist, bei allem gesicherten Wissen, das größere Risiko? Eine potenziell theoretisch denkbare, irgendwann auftretende Nebenwirkung eines solchen Medikaments, von der wir annehmen dürfen, dass es sie gar nicht gibt? Oder die Wahrscheinlichkeit, dass ich oder andere schwer an Covid-19 erkranken, Folgeschäden erleiden oder gar versterben? Dieser Abwägungsprozess von Nutzen und Risiken: Das ist Medizin. Das machen wir jeden Tag. Medikamente, ob neu zugelassen oder etabliert, haben in Einzelfällen schwerste Nebenwirkungen. Das Risiko, sie dennoch zu verabreichen, gilt es immer wieder gegen den Nutzen abzuwägen.

Sie haben für sich Ihre Antwort?

Wenn ich, wie bis vor wenigen Wochen, noch immer als Arzt tätig wäre, würde ich jeden Impfstoff nehmen, den ich kriegen kann. Weil ich gesehen habe, wie furchtbar Covid-19 ist. Ich habe vor dieser Krankheit einen Heidenrespekt und möchte das auf keinen Fall bekommen.

Um das Ansteckungsgeschehen in den Griff zu bekommen, wurde gerade der Lockdown bis zum Monatsende verschärft. Haben Sie Hoffnung, dass im Februar wieder Lockerungen möglich sind?

Ich gehe eher davon aus, dass wir noch mehrere Wochen diese starken Schutzmaßnahmen brauchen. Ich bin auch der Ansicht, dass wir in Teilen noch über die schon ergriffenen Maßnahmen hinausgehen müssen. Ich denke insbesondere an die Durchsetzung des Homeoffice überall da, wo es möglich ist. Das Homeoffice muss die Regel sein, der Rest die Ausnahme, auch wegen der Begegnungen im Nahverkehr. Das muss genauso mit Geldstrafen durchgesetzt werden wie bei den Gastwirten. Und wo kein Homeoffice umsetzbar ist, braucht es stärkere Arbeitsschutzmaßnahmen: Im Innenbereich müssen Masken permanent getragen und Lüftungskonzepte umgesetzt werden.

Sie fordern auch eine höhere Verfügbarkeit von Schnelltests. Warum?

Die sind wichtig, um Besuche in Krankenhäusern und Pflegeheimen zu ermöglichen. Auch Menschen mit schwachen Symptomen, die deshalb nicht zum Arzt wollen, können so herausfinden, ob sie infiziert und womöglich ansteckend für andere sind. Zwei Schnelltests pro Woche bei Menschen, die beruflich viele wechselnde Kontakte haben wie Busfahrer, Feuerwehrleute und Polizistinnen, würden Infektionsketten frühzeitig aufdecken. Die Länder könnten dann Vorgaben machen, dass an spezifischen Orten wie etwa in Schlachthöfen in bestimmter Regelmäßigkeit getestet wird.

Warum passiert das nicht?

Bundesgesundheitsminister Spahn muss die Medizinprodukteabgabeverordnung ändern, sodass jeder einen Selbsttest erwerben darf. Es gibt inzwischen Selbsttests, die einfacher zu handhaben sind. Die Hersteller müssen ihrerseits dann die Zulassung ändern, damit das jeder anwenden kann. Das würden die auch jederzeit machen. Die Verfügbarkeit ist gegeben, sonst hätte Herr Spahn die im Herbst erlassene Preisdeckelungsverordnung nicht wieder aufgehoben. Auch wenn es anfangs sicherlich sinnvoll wäre, Prioritäten festzulegen und zu sagen: Die Tests kommen zuerst hier oder da hin.

Sie haben auch den Stand der Dinge bei der Kontaktverfolgung kritisiert. Warum?

Ich verstehe nicht, dass der Bund die Gesundheitsämter nicht entlastet. Ein bundeseinheitliches Callcenter könnte erst einmal Informationen entgegennehmen, Kartierungen anlegen und die Gesundheitsämter unterstützen. Dass man im elften Monat der Pandemie da immer noch hinterherrennt, kann ich nicht verstehen. Vor allem in dem Wissen, dass eine Durchimpfung der Gesamtbevölkerung noch lange dauern wird.

Das Interview führte Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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