
Kliniken in London und anderen Regionen Englands arbeiten teils über der Kapazitätsgrenze und können kaum mehr Notfälle aufnehmen.
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Krebsoperationen abgesagt, Covid-Patienten wegen Überfüllung der Intensivstationen auf dem Flur. In Teilen Englands kollabieren die Krankenhäuser, Hoffnung kann nur die Impfung bringen.
Mehr als 62.000 Neuinfektionen am heutigen Mittwoch, schon am Vortag waren es 60.000 - so lautet der Kontrollverlust Großbritanniens in der Covid-Pandemie in Zahlen. Konkret wird er, wenn in der "Times" der Onkologe Pat Price berichtet, in London, Essex und Cambridge würden Operationen bei Krebs-Patienten abgesagt, weil der Druck auf die Kliniken durch die Zahl der schweren Covid-Fälle zu groß werde. "Patienten werden am Tag ihres Eingriffs, auf dem Weg in den OP-Saal, wieder weggeschickt", so Price. Und das seien keine Einzelfälle. "Überall im Land werden Mitarbeiter aus der Onkologie auf die Covid-Stationen abgezogen."
Dem britischen Gesundheitsdienst NHS fehlt es nicht nur massiv an Personal - grundsätzlich und aktuell durch infizierte Mitarbeiter oder solche in Quarantäne. Mittlerweile kämpfen manche Kliniken in Hotspots auch um jedes Intensivbett und um Sauerstoff. Aus mehreren Krankenhäusern berichteten Ärzte bereits, dass sie die Sauerstoffrationen reduzieren mussten, um alle Patienten versorgen zu können. Der deutsche Intensivmediziner Uwe Janssens erinnerte daran, dass in Großbritannien 10 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner kommen, in Deutschland sind es 34 - also mehr als drei Mal so viele. Den Kritikern an den Lockdown-Maßnahmen hierzulande empfiehlt er, nach Großbritannien zu schauen. Die Lage sei das "Ergebnis einer Politik, die dahingeschlingert ist, die das lange ignoriert hat".
Im "British Medical Journal" beschreibt die Vorsitzende der intensivmedizinischen Faktultät, Allison Pittard, die Kettenreaktion in den Kliniken in London und im Südosten Englands: "Intensivstationen sind zum Teil zu 140 Prozent belegt. Sie betreuen also Patienten auch außerhalb der Station." Durch die Überfüllung könnten die Notaufnahmen die eingewiesenen Kranken nicht mehr an die Station übergeben, so bildete sich auch dort ein Stau. "Das hat einen Effekt auf die Rettungswagen, die vor den Kliniken Schlange stehen", so Pittard. Dadurch, dass in den Rettungsstationen der Platz für Neuaufnahmen fehlt, sind englische Ärzte zum Teil gezwungen, in die Rettungswagen zu kommen, um Notfälle zu behandeln.
Allein seit Weihnachten stieg die Zahl der Covid-Patienten in den englischen Krankenhäusern um beinahe 9000. Das sei vergleichbar mit "18 Krankenhäusern voll mit neuen Covid-Patienten in nur zehn Tagen", erklärte der Direktor der Klinikgruppe NHS Providers, Chris Hopson, der "Times" und forderte, sofort und entschieden zu handeln.
Johnson: "Wir müssen zuhause bleiben"
Das will das britische Parlament an diesem Abend tun. Es soll die neuen Restriktionen bestätigen, die den bisherigen Lockdown verschärfen. Demnach dürfen die Menschen seit gestern ihre Häuser nur verlassen, um einkaufen, zur Arbeit oder zum Arzt zu gehen. Schulen und nicht lebensnotwendige Geschäfte schließen. Pro Tag darf man nur eine Stunde für Spaziergänge oder zum Joggen im Freien verbringen. Schon zuvor musste der Einzelhandel in vielen Landesteilen geschlossen bleiben, durften Haushalte maximal einen Besucher empfangen. "Wenn wir dieses Rennen für unsere Bevölkerung gewinnen wollen, müssen wir unserer Impf-Armee einen Vorsprung ermöglichen", sagte Premierminister Boris Johnson im Parlament. "Und deshalb müssen wir einmal mehr zu Hause bleiben, den NHS schützen und Leben retten."
Eine solche Entschiedenheit hätten sich viele Briten von ihrem Regierungschef schon früher gewünscht. Denn die Mutation des Coronavirus, die ersten Erkenntnissen zufolge deutlich ansteckender ist als der Erreger in seiner bisherigen Form, grassiert im Land schon seit vielen Wochen und breitet sich in hohem Tempo aus. Mit inzwischen fast 2,8 Millionen Infektionsfällen und mehr als 76.000 Corona-Todesopfern zählt Großbritannien zu den am schwersten von der Pandemie betroffenen Ländern weltweit.
Doch wie schnell sich der Kurs der Regierung im Verlauf der Pandemie änderte, wurde erst vor zwei Tagen wieder deutlich. Als Johnson am Montagabend die Schulschließungen verkündete, waren die britischen Schulkinder gerade den ersten Tag nach den Weihnachtsferien wieder zum Unterricht erschienen. Am Abend zuvor, sonntags, hatte der Premier noch im britischen Fernsehen dazu aufgerufen, die Kinder in die Schulen zu schicken, diese seien ein sicherer Ort. Aus der Lehrerschaft hingegen hagelte es Protest an den Schulöffnungen trotz dramatisch hoher Infektionszahlen. Am Monatagnachmittag preschte Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon mit einem Lockdown für ihren Landesteil vor, am Abend zog Johnson nach.
Impfplan "realistisch, aber nicht einfach"
Die Briten scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass permanent umentschieden wird, doch sie wirken auch erschöpft vom ständigen Hin und Her. "Die Regierung kann immer nur reagieren, nie agieren" sagt der Londoner Autor James Baer, der im Gesundheitswesen, vor allem für HIV-Prävention arbeitet. Er beobachtet, dass viele Landsleute den Überblick über die geltenden Regeln verlieren und sich im Privaten auf ihr eigenes Gefühl verlassen. "So brechen sie hier eine Regel und dort eine Regel", doch in der Masse habe das Konsequenzen, sagt Bear ntv.de. "Viele glauben nicht mehr daran, dass der Premier die Lage in den Griff bekommt. Die einzige Hoffnung ist der Impfstoff."
Bis Mitte Februar sollen die meisten besonders gefährdeten Briten geimpft sein, wie Johnson am Dienstag sagte. Bis Ende der Woche sollten dafür fast 1000 Impfzentren bereitstehen. Englands oberster Amtsarzt Chris Whitty ergänzte, der Impf-Zeitplan der Regierung sei "realistisch, aber nicht einfach".
Großbritannien setzt mittlerweile zwei Impfmittel gegen das Coronavirus ein. Am Montag wurde der erste Brite mit dem Vakzin der Uni Oxford und des Pharmakonzerns Astrazeneca geimpft, wie der NHS mitteilte. Im Vergleich zum Impfstoff von Biontech und Pfizer hat das Vakzin einen entscheidenden Vorteil: Das Mittel aus Oxford kann bei Kühlschranktemperaturen gelagert werden, was die Logistik deutlich vereinfacht. Zu Beginn stehen dem Land gut eine halbe Million Dosen zur Verfügung, die in Hunderten Krankenhäusern und Arztpraxen ab dieser Woche gespritzt werden sollen. Ein weiteres Stück Hoffnung für ein verzweifeltes Land.
Quelle: ntv.de, mit dpa