
Tony Blair sieht sich durch den Irak-Bericht entlastet.
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Eine Regierungskommission stellt fest, dass die Irak-Invasion 2003 nicht gerechtfertigt war. Ihr Bericht wirft Ex-Premier Blair vor, den USA blind gefolgt zu sein. Eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof ist unwahrscheinlich.
Am Abend des 20. März 2003 wandte sich Premierminister Tony Blair in einer Fernsehansprache an die Briten. "Am Dienstag habe ich den britischen Streitkräften den Befehl gegeben, sich an Kampfmaßnahmen im Irak zu beteiligen. Heute Abend sind britische Soldaten und Soldatinnen an Angriffen aus der Luft, zu Land und Wasser beteiligt. Ihre Aufgabe: (den irakischen Diktator) Saddam Hussein zu entmachten und dem Irak seine Massenvernichtungswaffen zu nehmen."
Dreizehn Jahre später hat eine von der britischen Regierung eingesetzte Untersuchungskommission ihren Abschlussbericht zur britischen Beteiligung an dem "Abenteuer", wie der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den Irak-Krieg seinerzeit nannte, vorgelegt. Die zentralen Aussagen: Zumindest zum damaligen Zeitpunkt war der Krieg nicht gerechtfertigt. Blair hat die Bedrohung, die vom Irak ausging, bewusst übertrieben. Auch wenn Blair dies bestreitet, kann man festhalten: Er hat die Briten betrogen.
Der Bericht war mit Spannung erwartet worden. Vor allem linke Politiker und Aktivisten fordern seit Jahren, Blair wegen "Verbrechen gegen den Frieden" anzuklagen. Auch heute gab es Proteste vor dem Konferenzgebäude, in dem der Vorsitzende der Kommission, der frühere Ministerialbeamte John Chilcot, den Bericht vorstellte.
Eine "Befürchtung" wurde zum Kriegsgrund
Dass Blair und der damalige US-Präsident George W. Bush die Unwahrheit sagten, als sie den Irak-Krieg vorbereiteten, ist keine neue Erkenntnis. Schon 2004 kam ein Bericht des US-Geheimdienstes CIA zu dem Schluss, dass Saddam Hussein schon lange keine Massenvernichtungswaffen mehr hatte (wobei die CIA davon ausging, dass er neue Massenvernichtungswaffen entwickeln werde, sobald die Sanktionen gegen den Irak aufgehoben würden).

Protest vor dem Gebäude, in dem John Chilcot den Bericht vorstellte. Die Demonstranten wollen Blair im Gefängnis sehen.
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Zweifel an der Existenz von Massenvernichtungswaffen wischten Bush und Blair stets beiseite. Die Welt sehe sich mit einer neuen Bedrohung konfrontiert, sagte Blair damals in seiner TV-Ansprache. Anders als Bush dies ursprünglich getan hatte, ging er nicht so weit, Saddam Hussein Kontakte zum Terrornetzwerk Al-Kaida zu unterstellen, das anderthalb Jahre zuvor, am 11. September 2001, vier Passagierflugzeuge entführt und in das World Trade Center sowie ins Pentagon gelenkt hatte.
Aber ganz wollte Blair dann doch nicht darauf verzichten, den Irak mit Terrorgruppen zu verknüpfen. "Beide hassen unsere Art zu leben, unsere Freiheit, unsere Demokratie." Blair log nicht, da er die Verbindung zwischen Saddam und Al-Kaida nicht als Realität, sondern als Möglichkeit konstruierte. Er sagte: "Meine tiefe Befürchtung, die zum Teil auf Geheimdienstberichten basiert, ist, dass diese Bedrohungen sich zusammenschließen und unser Land und unsere Welt in die Katastrophe stürzen."
Spätestens im Januar 2003 hatte Blair sich Bush unterworfen
Die Katastrophe kam tatsächlich. Nach einer Zählung der Webseite Iraq Body Count starben im Irak-Krieg und in dem sich anschließenden Bürgerkrieg mehr als eine Viertelmillion Menschen, darunter 180.000 Zivilisten. Bei dem sechs Jahre andauernden Einsatz der britischen Armee kamen 179 Soldaten aus dem Vereinigten Königreich ums Leben. Der Irak-Krieg hat die Welt nicht sicherer, sondern noch gefährlicher gemacht: Er ist eine zentrale Wurzel für die Gründung des Islamischen Staats, denn nach der Invasion taten sich ehemalige irakische Offiziere mit Dschihadisten zusammen und übernahmen die Terrorgruppe "Al-Kaida im Irak", den Vorläufer des Islamischen Staats.
Chilcot beschrieb bei der Vorstellung des Berichts ausführlich, wie Blair sich nach und nach an das Vorgehen des US-Präsidenten anpasste. Man kann seine Ausführungen so zusammenfassen: Strittig ist allenfalls, wann Blair sich Bush unterwarf. Folgt man Chilcot, so war dies im Januar 2003 der Fall. Spätestens dann habe Blair akzeptiert, dass ein Krieg unausweichlich sei. Daran änderte sich auch nichts, als im März klar wurde, dass der Sicherheitsrat einer Invasion nicht zustimmen würde. Bereits am 28. Juli 2002 schrieb Blair an Bush, er stehe "in jedem Fall" an dessen Seite – diese Formulierung ("I will be with you, whatever") legt den Verdacht nahe, dass der Premier sich schon zu diesem Zeitpunkt Bush völlig unterworfen hat.
Blair hält den Krieg noch immer für richtig
Erstaunlich ist Blairs Reaktion auf den Bericht: Er sieht sich als entlastet an, wie er in einer Stellungnahme erklärte, die kurz nach der Vorstellung des Berichts veröffentlicht wurde (was übrigens nahelegt, dass Blair – anders als Journalisten und Vertreter der britischen Opposition – den Bericht vorab bekam, mutmaßlich von Premierminister David Cameron). Später trat Blair persönlich vor die Presse und erklärte, er fühle "tief und ernsthaft" die Trauer derer, die geliebte Menschen im Irak verloren hätten.

"Das war eine brillante Rede", schrieb Blair im September 2002 an Bush. Der Brief wurde von der Chilcot-Kommission veröffentlicht.
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Obwohl Blair sagte, er übernehme die "volle Verantwortung", reichte er die Schuld gleich weiter: "Die Bewertungen durch die Geheimdienste stellten sich als falsch heraus", sagte er. "Die Folgen des Krieges stellten sich als feindseliger, länger und blutiger heraus, als wir angenommen hatten." Er selbst habe "in gutem Glauben" gehandelt. Die Journalisten bat er, ihm keine Lügen vorzuwerfen. Der Irak, der sich von Saddam Hussein habe befreien wollen, sei zum Opfer von Terror geworden. "Für all das möchte ich meine Trauer, mein Bedauern und meine Entschuldigung zum Ausdruck bringen – stärker, als Sie sich je vorstellen oder als Sie es glauben können."
Dabei hält Blair seine Entscheidung allerdings nach wie vor für absolut richtig. Er entschuldige sich für Fehler bei der "Planung und Umsetzung", konkretisierte er auf Nachfrage eines Reporters, nicht für seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen. Im Gegenteil: Die Entscheidung des britischen Parlaments von 2013, nicht in Syrien zu intervenieren, hält er für einen "fundamentalen Fehler".
Corbyn fordert Maßnahmen des Unterhauses gegen Blair
Die in Großbritannien seit Jahren kontrovers diskutierte Frage, ob der Angriff auf den Irak juristisch gerechtfertigt war, wurde von der Kommission bewusst ausgeklammert. Chilcot sagte, diese Frage könne "nur von einem ordentlichen und international anerkannten Gericht beantwortet werden". Allerdings sei die Kommission zu dem Schluss gekommen, "dass die Umstände, in denen entschieden wurde, dass es eine juristische Grundlage für ein militärisches Vorgehen Großbritanniens gibt, weit entfernt davon waren, zufriedenstellend zu sein".
Vor einem Jahr noch stand Blairs Parteikollege, der heutige Labour-Chef Jeremy Corbyn, auf dem Standpunkt, der Ex-Premier müsse sich vor Gericht für diesen "illegalen Krieg" verantworten – damals kandidierte der Parteilinke für den Parteivorsitz und antwortete so auf die Frage, ob Blair angeklagt werden sollte: "Wenn er ein Kriegsverbrechen begangen hat, ja."
Im Unterhaus klang Corbyn heute zurückhaltender – was einerseits daran liegen dürfte, dass er sich mitten in einem Machtkampf befindet, und andererseits daran, dass ein juristisches Vorgehen gegen Blair Experten zufolge nicht möglich ist.
Stattdessen forderte Corbyn, dass das Parlament Maßnahmen gegen Blair prüft. Einen ähnlichen Vorschlag hatte der ehemalige schottische Regierungschef Alex Salmond schon am Wochenende gemacht. Das Unterhaus hätte die Möglichkeit, Blair auf der Basis eines Gesetzes anzuklagen, das zuletzt 1806 angewandt wurde. Theoretisch könnten die Abgeordneten den ehemaligen Premier mit einer Mehrheitsentscheidung ins Gefängnis schicken. Praktisch würde es im Höchstfall zu einer symbolischen Verurteilung kommen.
Klage in Den Haag nicht möglich – letzter Ausweg Schottland?
Echte juristische Konsequenzen muss Blair höchstwahrscheinlich nicht befürchten. Es gebe kaum Zweifel, dass die amerikanisch-britische Invasion des Irak einen Bruch der UN-Charta darstelle, schreibt der britische Völkerrechtler Geoffrey Robertson im "Guardian". Aber ein Bruch der Charta bedeute nicht, dass jene, die ihn anführten, sich eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht hätten. Das "Verbrechen der Aggression" fällt erst ab 2017 in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichts. Selbst dann könne Blair nicht angeklagt werden, so Robertson, weil auch internationales Recht nicht rückwirkend gelte.
Oder gibt es doch eine Möglichkeit? Am Dienstag schloss Salmond nicht aus, dass Blair in Schottland angeklagt wird. Die englischen Gerichte hätten entschieden, keine internationalen Verbrechen zu verfolgen, so der schottische Ex-Ministerpräsident. Salmond fügte hinzu: "Übrigens, in Schottland ist das noch nicht versucht worden."
Quelle: ntv.de