Politik

Folter, Willkür, Unterdrückung Das steckt hinter der iranischen Sittenpolizei

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Im Iran ist für Frauen der Hidschab Pflicht, unter dem Kopftuch dürfen keine Haare zu sehen sein.

(Foto: picture alliance/dpa)

Im Iran protestieren die Menschen seit drei Monaten gegen das Mullah-Regime. Als Reaktion löst die Regierung Anfang Dezember die berüchtigte Sittenpolizei auf – zumindest offiziell. Die kontrolliert, ob die Iranerinnen und Iraner korrekt gekleidet sind – dabei hat sie ziemlich viel Spielraum.

Menschen werden an ihren Haaren brutal in Kleinbusse gezerrt und abgeführt: Die Sittenpolizei im Iran ist gefürchtet. Ihre brutalen und skrupellosen Aktionen haben vor drei Monaten die Proteste im Iran ausgelöst. Mitte September verhaftete die Moralpatrouille die 22-jährige Mahsa Amini, weil unter ihrem Kopftuch angeblich ein paar Haarsträhnen hervorgeschaut hatten. Die junge Frau ist nur wenige Tage später in Gewahrsam der Sittenpolizei gestorben.

Offiziell heißt es von der Polizei, dass sie wegen Herzversagen zunächst in Ohnmacht und danach ins Koma gefallen ist. Es gibt aber Hinweise, die auf Misshandlungen hindeuten. Im Netz kursiert eine andere Version: Im Polizeiauto soll ihr Kopf gegen die Scheibe geschlagen worden sein - die Folge war eine Hirnblutung.

Nach dem Tod der 22-Jährigen sind im ganzen Land Demonstrationen gegen die Führung des Landes ausgebrochen. Polizisten und Sicherheitskräfte gehen brutal gegen die Demonstranten vor, nutzen Tränengas und schießen auf sie. Mehrere hundert Demonstranten wurden bisher getötet und mehrere tausend verhaftet. Zudem wurden im Zusammenhang mit den Protesten bereits zwei Männer hingerichtet. Vergangenen Donnerstag starb ein 23-jähriger, er soll in Teheran ein Mitglied der paramilitärischen Basidsch-Milizen mit einer Waffe angegriffen haben. Ein ebenfalls 23-Jähriger, der sich an regierungskritischen Protesten beteiligt hatte, wurde am Montag öffentlich gehängt.

Sittenpolizei kontrolliert weiter

Die berüchtigte iranische Sittenpolizei ist inzwischen abgeschafft - zumindest offiziell. Das hatte der iranische Generalstaatsanwalt am 4. Dezember verkündet. Zwei Tage später hat dann auch eine andere iranische Behörde, die Zentrale für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters, gesagt, dass die Sittenpolizei nicht mehr im Einsatz ist.

Armin Eschraghi, Islamwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt Main, sieht in der vermeintlichen Abschaffung aber nur ein Ablenkungsmanöver. "Das hat sich als Ente erwiesen. Manche vermuten auch ein PR-Manöver dahinter", sagt Eschraghi im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Ob die Sittenpolizei wirklich abgeschafft ist oder nicht, spiele für die Menschen im Iran aber keine Rolle, denn die Regeln blieben trotzdem bestehen. "Das Höchste, was man sich vorstellen könnte, wäre, dass etwas umorganisiert wird."

Die Überwachung im Iran ist nicht auf einen Schlag verschwunden. "Auch wenn ich höre, dass die Kontrollen weniger geworden sind, gehen sie trotzdem weiter", berichtet der Journalist Bamdad Esmaili bei RTL.

Sittenwächter existieren seit über 40 Jahren

In der Islamischen Republik Iran gelten strenge Kleidungsvorschriften. Dazu gehört auch die Kopftuchpflicht. Den Hidschab müssen die iranischen Frauen seit Anfang der 1980er Jahre tragen. Viele mutige Frauen legen momentan aus Protest ihr Kopftuch ab und brechen damit ein Tabu. Etliche wurden bereits festgenommen.

Ob die Menschen angemessen gekleidet sind, kontrollierte bisher die Sittenpolizei. Sie ist eine Einheit der iranischen Polizei, die dem Innenministerium unterstellt ist. Trotzdem gelten die Sittenwächter laut Amnesty International nach der iranischen Strafprozessordnung als Justizbeamte. Sie dürfen Menschen verhaften und verhören.

Die Sittenpolizei beruft sich auf das Strafgesetz der Islamischen Republik Iran und ihr Verständnis des Islam, sagt Armin Eschraghi. Gegründet wurde sie 2006 unter dem ultrakonservativen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Ähnliche Gruppen gab es aber auch schon vorher, seit Ende der 1970er Jahre, seit der islamischen Revolution im Land. "Die Grundidee in der Islamischen Republik Iran seit 1979 ist, dass öffentlicher Anstand, Keuschheit oder Tugend gefördert werden müssen, und dass man Laster und Verderbtheit Einhalt gebieten muss", erläutert der Islamwissenschaftler. Auch wenn die Moralpolizei seitdem unterschiedliche Namen hatte und verschiedenen Behörden zugeordnet war, habe sich "an der Gängelung, an der Unterdrückung insbesondere von Frauen bis heute nichts geändert."

Kompetenzen sind nicht genau definiert

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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Welche Kleidung genau als unangemessen gilt, ist nicht eindeutig. Die Regeln sind schwammig, weiß Armin Eschraghi. Die Kontrolleure hätten damit viel Spielraum, sie könnten willkürlich durchgreifen. "Schon allein, wie das formuliert ist: öffentlicher Anstand, Sitten, Regeln der Religion, Moral. Es ist nirgendwo genau definiert und es weiß auch niemand so ganz genau, welche Kompetenzen die haben."

Laut Vorschrift müssten die iranischen Frauen ihre Haare und ihren Körper komplett bedecken und sollten nicht figurbetont gekleidet sein. Enge Jeans und Make-up sind verboten, selbst die Socken dürfen nicht zu sehen sein, berichtet Eschraghi im "Wieder was gelernt"-Podcast. "Auch Männer, die sich schminken, Piercings haben, die sich zerrissene Jeans anziehen, die Haare färben, lange Haare haben, setzen sich dem Zorn dieser Sittenwächter aus."

Auch, wenn die Iranerinnen und Iraner mit ihrer Kleidung ein Tabu brechen, heißt das nicht automatisch, dass sie angehalten werden. "Es kann sein, sie gehen wochenlang durch die Straßen und es passiert nichts. Aber wenn sie dann doch mal angehalten werden, dann haben sie keinerlei Möglichkeit, ihr Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung oder auf freie Wahl der Kleidung oder der Haarfarbe irgendwo einzuklagen. Dann sind sie dran."

Auch das Verhalten kann den Sittenwächtern einen Anlass zur Festnahme bieten. Es wird beispielsweise auch als unanständig angesehen, sich als unverheiratetes Paar in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Iraner können keine Grundrechte einklagen

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Frauen wurden bei einer Protestdemonstration für Mahsa Amini in Teheran von der iranischen Sittenpolizei festgenommen.

(Foto: picture alliance / abaca)

Die Sittenwächter sind überall unterwegs. In zivil, sodass man sie nicht erkennen kann. Oder in Kleinbussen mit verdunkelten Scheiben. Videos, wie sie Menschen abführen und in diese Vans zwingen, waren zuletzt häufig in sozialen Medien zu sehen. Die Männer der Polizeieinheit tragen grüne Uniformen. Und auch Frauen gibt es dort, sie tragen einen schwarzen traditionellen Tschador, einen bodenlangen Umhang, der nur das Gesicht freilässt.

Wen die Sittenwächter anhalten, der muss mit allem rechnen. Das fängt bei einer Ermahnung an. Oder, wer Glück hat, darf sein als unangemessen eingestuftes Kleidungsstück austauschen. Meist geht es aber nicht so glimpflich aus, weiß Armin Eschraghi: "Aber ganz oft passiert es dann eben, dass man in diesen Van eingeladen und zur Polizeiwache gebracht wird. Und dort kann ein Strafverfahren eröffnet werden. Es kann aber auch sein, dass sie sich da einer Schulung unterziehen müssen. Das heißt, dass man sich ein Video über anständige Bekleidung anschauen muss, das ist eine Art Verwarnung."

Die Menschen wüssten aber nie genau, mit wem sie es zu tun haben, sagt der Islam-Experte. "Mit welcher der 17 Sicherheitsbehörden im Iran, mit welcher der unterschiedlichen Formen von Polizei. Sie wissen am Ende auch nie wirklich, was mit Ihnen passiert, und sie haben keinerlei Handhabe. Sie können keine Grundrechte einklagen."

"Die Frau ist der personifizierte Anstand"

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Die Sittenwächter beschimpfen die Menschen und werden oft handgreiflich. In ihrem Gewahrsam werden sie dann misshandelt und gefoltert. So wie mutmaßlich auch Mahsa Amini.

Vor allem auf Frauen haben es die iranischen Sittenwächter abgesehen, berichtet Armin Eschraghi. Sie werden unterdrückt und haben nicht die gleichen Rechte wie Männer. "Die Frau ist so etwas wie der personifizierte Anstand, die personifizierte Ehre der Männer, die ist dafür verantwortlich."

Auch wenn Polizisten und Sicherheitskräfte brutal gegen die Demonstranten im Iran vorgehen, lassen sich diese nicht einschüchtern. Ein Kompromiss zwischen beiden Seiten ist nicht in Sicht.

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Quelle: ntv.de

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