Politik

Gut gegen Böse? Der Nahost-Konflikt ist anstrengend und unbequem

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Eine Puppe in einem zerstörten Haus. Stammt das Bild aus dem Norden Gazas oder aus dem Süden Israels? Macht es einen Unterschied?

Eine Puppe in einem zerstörten Haus. Stammt das Bild aus dem Norden Gazas oder aus dem Süden Israels? Macht es einen Unterschied?

(Foto: dpa)

Wer hat recht im Nahost-Konflikt? Die Antwort fällt leichter, wenn man die Linie nicht zwischen Israel und Palästina, gut und böse zieht. Es geht darum, wie wir alle leben wollen.

Wir Menschen mögen einfache Geschichten. Der Held hier, der Teufel dort. Unterdrückte gegen Unterdrücker. Vielleicht fällt es uns deshalb leicht, uns an die Seite der tapferen Ukrainer zu stellen. Die mutigen Frauen im Iran zu unterstützen. Nach dem Abzug der NATO mit der Bevölkerung in Afghanistan zu bangen. Letzteres aber nur kurz. Dass Pakistan dabei ist, bis zu 1,7 Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben, interessiert die Weltöffentlichkeit gerade nicht. Unser Mitgefühl ist bereits weiter gewandert, möglicherweise wird die Geschichte auch zu kompliziert.

Unglücklicherweise dauern Konflikte dieser Art in der Regel lange und sind sehr kompliziert. "Gute und Böse sind in der Menschheitsgeschichte selten klar verteilt gewesen", wird der Historiker und Autor Yuval Harari ("Eine kurze Geschichte der Menschheit") dieser Tage nicht müde, in unzähligen Interviews zu erklären. Opfer einer Situation könnten Angreifer in einer anderen sein und umgekehrt. Das sei relativ banal, aber viele Menschen hätten Schwierigkeiten, das zu akzeptieren.

Bei so komplexen Konflikten wie dem Israel-Gaza-Krieg werden in der öffentlichen Erzählung Opfer und Täter wieder und wieder umgekehrt. Sollten wir überhaupt Mitgefühl mit israelischen Opfern haben, während die palästinensische Bevölkerung leidet? Dürfen wir erleichtert sein, wenn entführte Kinder wieder nach Israel zurückkehren, wenn doch in Gaza auch täglich Kinder sterben? Das sind, Pardon, grausame, kalte Fragen.

Es ist kein Widerspruch, Kinder und Unschuldige auf beiden Seiten des Konflikts zu betrauern, ganz im Gegenteil. Fällt uns das, aus welchen Gründen auch immer, schwer, müssen wir uns die Mühe machen, genauer hinzuschauen.

Unter der Lupe

Weil seither einfach so viel passiert ist, erinnern wir uns noch einmal: Als Auslöser für die Attacke der Hamas auf Israel gelten unter anderem die fortgeschrittenen Gespräche zwischen Israel und Saudi-Arabien. Hätten diese beiden Länder tatsächlich einen Friedensvertrag unterschrieben, hätte das möglicherweise die arabische Welt verändert und neue Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern ermöglicht.

Beides ist nicht im Interesse der Terrororganisation Hamas und ihrem Verbündeten Iran. Demnach war Attacke am 7. Oktober kein Freiheitskampf, nichts Postkoloniales, was auch immer. Egal, wie laut das auf Demonstrationen weltweit gerufen wird und wie klein die von der Hamas offen begangenen und stolz dokumentierten Gräueltaten geredet werden. Ziel der Hamas und ihrer Verbündeten ist die maximale Destabilisierung der Region.

Es gehört zu den bitteren Details des Terroranschlags in Israel, dass die überfallenen Kibbuzim im Süden des Landes eine Hochburg der Linken sind, die Bewohner leidenschaftliche Friedensaktivisten. Es gehört zu den besonderen Details, dass die Angehörigen der Geiseln und Getöteten mit die lautesten Stimmen sind, die für einen Waffenstillstand in Gaza plädieren. Weswegen sie, obwohl es insgesamt deutlich mehr Zustimmung als Ablehnung für das Geiselabkommen mit der Hamas gibt, aus dem rechten Lager im eigenen Land nicht nur kritisiert, sondern auch bedroht werden: Die Geiseln erscheinen radikalen, extremen Kräften in Israel als lästiges Hindernis in ihrem Wunsch, den Krieg nach ihrer Art zu führen. Die Diskussion gipfelte in dem Traum, sie inhaftieren zu können, um Ruhe zu haben.

Einige Kilometer weiter, im Westjordanland, versuchen radikal-religiöse jüdische Siedler, die aktuelle Atmosphäre zu nutzen, um weitere Gebiete illegal zu besetzen, auch mit Gewalt. Es gibt Tote, Verletzte. Tragen also jene, die sich ein Leben lang für Versöhnung eingesetzt haben, mit Schuld, dass sich eine Gruppe radikaler Menschen, ihre Situation zunutze machen für ihre eigene Agenda?

Was ist mit der im Vergleich zur Hamas übermächtig erscheinenden israelischen Armee? Müssen wir angesichts ihres Vorgehens in Gaza nicht über Verhältnismäßigkeit reden? Ja, und das geschieht täglich, stündlich unter den Augen der Weltgemeinschaft. Was darf man im Kampf gegen Terror? Was beinhaltet das Recht auf Selbstverteidigung? Das sind Fragen, die nicht nur seit dem 7. Oktober immer wieder und zu Recht kritisch verhandelt werden.

Was ist mit der Bevölkerung im Gazastreifen? Leben dort nicht vor allem Kinder? Und ist die Bevölkerung nicht insgesamt unschuldig, unterdrückt von der Besatzungsmacht Israel und als Schutzschild missbraucht von der Hamas? Oder sehen wir dort vor allem Unterstützer der Terrororganisation, die das Massaker an Juden auf den Straßen feiern? Mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens ist 19 Jahre alt oder jünger. Die israelische Besatzung des Gazastreifens endete im September 2005, im Juni 2007 übernahm die Hamas die Herrschaft. Zu finden sind in der Bevölkerung sowohl Menschen, die der Hamas zujubeln, als auch andere, die massiv unter dem Terrorregime leiden.

Es gibt aktuell Bilder von Demonstrationen im Süden Gazas gegen die Hamas. Sie lassen sich derzeit nicht unabhängig prüfen, dennoch "stimmen solche Proteste hoffnungsvoll, dass künftig andere als extreme Kräfte die Geschicke der Palästinenser bestimmen mögen", schreibt die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal. Zu befürchten ist, dass sich die Demonstranten massiver Gefahr aussetzen. Auf Social Media machen Bilder einer Lynchjustiz gegen zwei Palästinenser, die als Kollaborateure mit Israel galten, die Runde. Sie lassen sich ebenfalls nicht unabhängig prüfen, machen jedoch Sorgen.

Wie wollen wir leben?

Warum es so wichtig ist, genau hinzuschauen, wird vielleicht offensichtlicher, wenn man die Linie in diesem und in so vielen Konflikten weltweit neu zieht. Es geht in all diesen Konflikten um Lebensweisen. Will man freiheitlich, tolerant, empathisch und weltoffen leben? Oder lässt man das Gegenteil zu, eine von einer wie auch immer definierten Elite gesteuerte Gesellschaft mit harschen Regeln gegen alle, die einer willkürlich gesetzten Norm nicht entsprechen?

Es wird bereits davon gesprochen, wie es im Nahen Osten nach diesem Israel-Gaza-Krieg weitergehen soll, es wird darüber nachgedacht, wie der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein Ende finden könnte. Was wir alle brauchen, ist eine Welt, in der weder Terroristen noch Diktatoren noch radikale Populisten mit seltsamen Frisuren und ihre jeweiligen Anhänger uns für ihre Weltbilder leiden lassen. Wir brauchen eine Welt, in der Frauen und Minderheiten ein sicheres und selbstbestimmtes Leben führen können.

Für Israel und Palästina bedeutet das, dass man nach dem Ende des Krieges die Gespräche mit Saudi-Arabien wieder aufnehmen muss, dass es Perspektiven für die Menschen in Gaza geben muss - ansonsten werden Terrorgruppen wie Hamas immer und immer wieder gewinnen. Israel selbst wird den Zusammenhalt in seiner Gesellschaft neu schmieden müssen, der schon vor dem 7. Oktober, in den Wochen der Proteste gegen die Justizreform und die rechtsnationale Regierung Netanjahus, verloren ging.

Es gibt Realitäten, in denen Gut und Böse klar zuzuordnen sind. Die Hamas ist ganz unzweifelhaft durch und durch böse. Im Umkehrschluss heißt das allerdings nicht, dass alles, was die israelische Regierung tut, richtig und "gut" ist. Sie hat sich von der Hamas in die Falle locken lassen, der Kampf gegen den Terror trifft, wie von den Terroristen kalkuliert, Zivilisten, darunter tausende Kinder. Das lässt weltweit Antisemitismus auflodern. Den Terror nicht zu bekämpfen, ist gleichzeitig auch keine Alternative. Denn dann würde sich nicht nur die Bedrohung für Israel immer weiter erhöhen, der Status quo mit Hamas bietet auch für die palästinensische Bevölkerung keine Perspektive. Immer wieder neu auf Konfliktherde zu blicken, auch Sichtweisen in Betracht zu ziehen, die gegen die eigenen Überzeugungen und Gefühle gehen, ist mühsam, anstrengend, tut weh. Man muss es üben.

Quelle: ntv.de

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