Zum Tod von Henry Kissinger Der knallharte Realpolitiker mit wenigen Freunden
30.11.2023, 09:36 Uhr Artikel anhören
Er war eine Art Popstar der internationalen Politik, der in Deutschland geborene Henry Kissinger. In den 1970er-Jahren bestimmte er maßgeblich die US-Außenpolitik mit, 1973 erhielt er den Friedensnobelpreis. Doch bis heute ist das Wirken des überzeugten Transatlantikers umstritten.
Bis zuletzt war sein Rat gefragt und bis zuletzt sorgte Henry Kissinger für Aufsehen und teilweise große Empörung. "Ich denke, dass wir bis Ende des Jahres über Verhandlungsprozesse und sogar tatsächliche Verhandlungen sprechen werden", sagte der ehemalige US-Außenminister mit deutschen Wurzeln etwa zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zudem stünden "die Chancen gut", dass Chinas Präsident Xi Jinping "meinen Anruf annimmt". Das gelte auch für den russischen Machthaber Wladimir Putin, dem er in einem "Zeit"-Interview auch nicht die alleinige Verantwortung für den Ukraine-Krieg zuschreibt.
Obwohl Kissinger da schon fast ein halbes Jahrhundert die US-Außenpolitik nicht mehr in vorderster Reihe mitbestimmte, war sein Rat gefragt. Wenn es ihre Zeit erlaubte, suchten europäische Spitzenpolitiker Henry Kissinger auf, um sich mit ihm über außenpolitische Themen zu unterhalten beziehungsweise hinsichtlich der US-amerikanischen Innenpolitik unterweisen zu lassen. So zum Beispiel auch Sigmar Gabriel nach seinem Amtsantritt als Bundesaußenminister Anfang Februar 2017. "Kissinger ist bis heute ein guter Ratgeber für gute transatlantische Beziehungen zwischen Deutschland, Europa und die Vereinigten Staaten", sagte der SPD-Politiker damals bei seinem USA-Besuch.
Sogar Präsident Donald Trump, dem eine gewisse Beratungsresistenz nachgesagt wird, traf sich vor seinem Amtsantritt mit Kissinger, um eine Unterrichtsstunde im Fach Außenpolitik zu nehmen. Und das, obwohl sich der eingefleischte Republikaner Kissinger im Wahlkampf 2016 gegen den Immobilien-Milliardär ausgesprochen hatte. Trumps Konkurrentin Hillary Clinton sei unter den Kandidaten diejenige, die für das "traditionelle, nach außen gerichtete, internationalistische Modell" der US-Außenpolitik stehe, begründete Kissinger seine Entscheidung. Isolationismus und Protektionismus waren nicht seine Sache. Kissinger favorisierte eine gut funktionierende transatlantische Verbindung der Vereinigten Staaten mit Europa.
Es waren persönliche Erlebnisse des Sprosses einer jüdischen Familie, die sein späteres politisches Handeln bestimmen sollten, denn als Kind erlebt er die Hitler-Diktatur in Deutschland. "Ich habe nicht so darunter gelitten wie meine Eltern", sagte er einmal. Der am 27. Mai 1923 im fränkischen Fürth geborene Heinz Alfred Kissinger emigrierte 1938 mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder in die Vereinigten Staaten und aus Heinz wurde Henry. Verwandte der Kissingers, die in Deutschland blieben, wurden von den Nazis ermordet. Trotz alledem blieb Kissingers Verbundenheit zu seiner Heimatstadt - und zur Spielvereinigung Greuther Fürth, deren Erstliga-Heimspiel gegen den FC Schalke 04 er im hohen Alter von 89 Jahren auf der Tribüne beiwohnte.
Von der Außenpolitik fasziniert

Elder Statesmen: Altbundeskanzler Helmut Schmidt und Kissinger bei einem Treffen im Jahr 2012.
(Foto: dpa)
Auch das Verhältnis Kissingers zu Deutschland blieb eng, er hegte keine Rachegefühle - auch nicht bei seiner ersten Rückkehr als US-Soldat gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Kissinger, den es erst nach Krefeld und danach ins hessische Bensheim verschlug, leitete eine Abteilung zur Spionageabwehr. Er half beim Aufbau der Verwaltung, der Aufklärung von Kriegsverbrechen und trieb die Entnazifizierung mit voran. Der junge Mann traute den Deutschen den Aufbau eines funktionierenden demokratischen Systems zu.
Kissingers Leben war die Politik. Der Franke sollte es zum Außenminister bringen, mehr war für einen nicht in den USA Geborenen nicht möglich. Und die Außenpolitik faszinierte bereits den jungen Kissinger, der an der Havard University in Cambridge/Massachusetts promovierte und später dort lehrte. Helmut Schmidt, der Kissinger bis zu seinem Tod im November 2015 eng verbunden blieb, verwies auf dessen Buch "Atomwaffen und Außenpolitik". Für den von 1974 bis 1982 amtierenden Bundeskanzler war es eines der bedeutendsten Werke zum Verständnis der Abschreckungsstrategie. So war es nur folgerichtig, dass Kissinger nicht nur einer Lehrtätigkeit nachging, sondern sich parallel dazu auch in die Untiefen der Politik begab. Er war Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller und beschäftigte sich intensiv mit Waffenkontrolle und Abrüstungsfragen. Sein Wirken und seine Ratschläge blieben auch im Weißen Haus nicht unbemerkt. Die demokratischen Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson sowie ihr republikanischer Nachfolger Richard Nixon schätzten den Strategen.
"Er verlangte Perfektion"

Beratung mit Richard Nixon, Gerald Ford und dem Verwaltungschef des Weißen Hauses, Alexander Haig im Jahr 1973.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
An die Schalthebel der Macht kam Kissinger aber erst nach Nixons Amtsantritt Anfang 1969. Eigentlich hielt er vom neuen Präsidenten nicht viel, dessen komplizierte Persönlichkeitsstruktur auch anderen Mitarbeitern zu schaffen machte. Aber Nixon, der von Johnson den Vietnam-Krieg "erbte", hatte im Wahlkampf versprochen, die amerikanischen Soldaten aus Südostasien zurückzuholen und einen "Frieden mit Ehre" auszuhandeln. Allerdings war Nixon mit dieser Aufgabe völlig überfordert, zumal das kommunistische Nordvietnam gemeinsam mit den südvietnamesischen Vietcong die vom US-Präsidenten geforderte Akzeptanz des Thieu-Regimes in Saigon verweigerte. Kissinger wurde Nixons Sicherheitsberater.
Seine Mitarbeiter mochten Kissinger nicht besonders, überhaupt hatte er nur wenige Freunde. "Er war ein harter und fordernder Chef. Er verlangte Perfektion", sagte Kissingers Mitarbeiter Brent Scowcroft, der später Sicherheitsberater der Präsidenten Gerald Ford und George Bush senior war. Es war die Zeit der Geheimdiplomatie, die Kissinger auf Nixons Anweisung betreiben musste. Gleichzeitig forcierten die USA, um zum Ziel eines ehrenhaften Friedens in Vietnam zu kommen, die Luftangriffe auf Nordvietnam und weiteten den Krieg auf Kambodscha aus.
Friedensnobelpreis und schmutzige Hände in Chile

Kissinger mit Le Duc Tho nach Abschluss der Vietnam-Verhandlungen am 25. Januar 1973 in Paris.
(Foto: picture-alliance / dpa)
Friedensverhandler und Konfliktverschärfer zugleich - Kissinger nannte es Realpolitik, die zum gewünschten Ergebnis führen sollte. Der Nordvietnamese Le Duc Tho wurde sein wichtigster Gesprächspartner. Die Verhandlungen führten 1973 zum Friedensvertrag von Paris. Kissinger und Le Duc Tho erhielten dafür den Friedensnobelpreis, den der Mann aus Hanoi im Gegensatz zu Kissinger jedoch ablehnte, weil der Krieg noch nicht zu Ende war. Die USA schieden schließlich aus dem Krieg aus, zwei Jahre später brach das von Washington unterstützte Regime in Saigon zusammen und die Kommunisten übernahmen die Macht in ganz Vietnam.
Kissinger, der US-Außenminister William P. Rogers zum Statisten degradierte, drehte im Auftrag Nixons an noch größeren globalpolitischen Rädern. So reiste er 1971 im Geheimen nach China, um die Normalisierung der Beziehungen zum Reich der Mitte vorzubereiten. Im Jahr darauf wurde Nixon von Chinas greisem Machthaber Mao Zedong empfangen. Durch diesen spektakulären Besuch wurde ein neues Kapitel in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen aufgeschlagen. Parallel dazu bereitete er den Gipfel Nixons mit dem sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew vor, die 1972 in Moskau den Salt-I-Vertrag zur strategischen Rüstungsbegrenzung sowie den ABM-Vertrag zur Begrenzung strategischer Raketen unterzeichneten.
Kissingers Geheimdiplomatie hatte aber auch das Ziel, die verfeindeten kommunistischen Mächte Sowjetunion und China gegeneinander auszuspielen. Er spielte meisterhaft auf dieser diplomatischen Klaviatur. Aus jeder Situation das Maximale herausholen, Moral hat in der Realpolitik nichts zu suchen: Das zeichnete Kissingers Handlungsweise dann auch als Außenminister unter Nixon und dessen Nachfolger Ford aus. Seine Rolle beim Militärputsch gegen die sozialistische Allende-Regierung 1973 in Chile zog sogar gerichtliche Vorladungen in mehreren Ländern nach sich. Kissinger ignorierte sie. Seinen Angaben zufolge ging der Plan zum Sturz von Präsident Allende von Nixon aus. Allerdings sollen die CIA-Operationen in Chile mit Kissinger abgestimmt worden sein, denn der Geheimdienst unterstand dem Nationalen Sicherheitsrat und damit Kissinger.
Pendeldiplomatie in Nahost
Dieser hatte es mittlerweile mit einem weiteren Brandherd zu tun. 1973/74 spielte Kissinger eine große Rolle in den Friedensbemühungen zwischen den Israelis und den arabischen Ländern. Er handelte das Ende des Jom-Kippur-Krieges aus. Kissinger initiierte mit der Genfer Nahostkonferenz ein erstes direktes Zusammentreffen der verfeindeten Parteien. Dies war mit einer intensiven Reisetätigkeit zwischen den Konfliktparteien verbunden. Man spricht von Kissingers Pendeldiplomatie.
Kissinger war zu dieser Zeit zweifellos eine Art Popstar der internationalen Politik. Dies half ihm auch 1974, das unrühmliche Ende der Nixon-Ära durch die Watergate-Affäre politisch zu überleben. Nach eigenen Angaben hatte er mit Watergate nichts zu tun. "Wie konnte das passieren?", fragte Kissinger öffentlichkeitswirksam. Er musste erleben, wie sich sein Präsident um Kopf und Kragen redete und schlussendlich mit Schimpf und Schande das Weiße Haus verlassen musste. Weil die Affäre Nixon politisch lähmte und fast zur Handlungsunfähigkeit verdammte, erlebte sein Außenminister einen weiteren Machtzuwachs.
Doch diese Phase war nur von kurzer Dauer. Unter Präsident Ford blieb Kissinger zwar Chef im State Department. Allerdings kam es mit wichtigen Personen aus Fords direkter Umgebung zu Spannungen. Aus Kissinger wurde eine "normale" politische Figur, die sich der Kabinettsdisziplin zu fügen hatte. Der schwindende politische Einfluss schmerzte Kissinger. Fords Wahlniederlage 1976 gegen den Demokraten Jimmy Carter bedeutete auch sein Ende als Außenminister.
Auch eine Hassfigur
Es wurde ruhiger um Henry Kissinger. Von 1977 bis 1981 war er Direktor der US-Denkfabrik Council on Foreign Relations. Er beriet die Präsidenten Ronald Reagan und George W. Bush und gründete seine eigene Beratungsfirma in New York: "Kissinger Associates Inc.". Zu seinen Kunden gehörten Konzerne aus aller Welt. Kissinger verdiente viel Geld damit. Er war Teilnehmer der sagenumwobenen Bilderberg-Konferenzen. Dazu kamen gut dotierte Vorträge und Reisen, die ihn unter anderem auch immer wieder zu Helmut Schmidt nach Hamburg führten. Über den ehemaligen Bundeskanzler sagte Kissinger an dessen Sarg: "Er war eine Art Weltgewissen."
Das konnte er für sich selbst nicht in Anspruch nehmen. Die Unterstützung der USA für Militärputsche und Diktaturen während seiner Amtszeit ließen Kissinger auch zur Hassfigur werden. In den Augen seiner politischen Gegner war er Friedensnobelpreisträger und Verbrecher in einer Person. Er selbst hat sich nie große Mühe gegeben, auf seine Kritiker zuzugehen. Kissinger gab auch eine Erklärung dazu: "Der Realpolitiker glaubt an Werte, er weiß aber auch, was machbar ist." Nun ist er im Alter von 100 Jahren in seinem Zuhause im Bundesstaat Connecticut gestorben.
Quelle: ntv.de