Politik

Experte zum Vilnius-Ergebnis "Die NATO will sich Freiräume erhalten - für Verhandlungen mit Putin"

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Die Miene des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj - seit gestern hat sie sich deutlich aufgehellt.

Die Miene des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj - seit gestern hat sie sich deutlich aufgehellt.

(Foto: IMAGO/NTB)

Die Osteuropäer warnten vor Putin, als man im Westen den Krieg noch nicht kommen sah. Auf dem NATO-Gipfel in Vilnius wurden ihre Hinweise erneut nicht befolgt. Was hinter der Haltung der Allianz steckt, erklärt Sicherheitsexperte Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations ntv.de.

ntv.de: Klar war von Anfang an, dass die Ukraine, während der Krieg noch tobt, nicht Mitglied der NATO werden kann. Die Kiew und die Balten plädierten für eine Perspektive mit klarem Zeitplan und sind ernüchtert. Zu Recht?

Rafael Loss: Trotz dieser allseits anerkannten Realität - kein Beitritt während des Krieges - hatte man wohl darauf gehofft, dass die Sprache in der Abschlusserklärung etwas konkreter werden würde, was die zukünftige NATO-Mitgliedschaft betrifft. Konkreter und auch etwas empathischer hätte sie sein können, vielleicht auch sollen.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Wenn Sie sich den Satz zum Kachowka-Damm anschauen, dann ist dort die Sprengung als Konsequenz des Krieges dargestellt, aber nicht als Konsequenz einer konkreten russischen Handlung. Das sorgt in der Ukraine für Verwunderung, aber auch anderswo. Gleichzeitig hat die NATO an mehreren Stellen Formulierungen gewählt, von denen man vermuten könnte, dass sie einen politischen Freiraum bewahren sollen für eventuelle Verhandlungen mit Putin. Wenn es darum gehen würde, ein Ende des Krieges herbeizuführen.

Der Politologe Rafael Loss forscht am European Council on Foreign Relations zu deutscher und europäischer Sicherheitspolitik und dem transatlantischen Verhältnis.

Der Politologe Rafael Loss forscht am European Council on Foreign Relations zu deutscher und europäischer Sicherheitspolitik und dem transatlantischen Verhältnis.

Auch hier hätten wir gern ein Beispiel.

Die NATO sagt zum Beispiel, wir unterstützen die Ukraine "as long it takes", also so lange wie nötig. Sie definiert aber nicht, bei welchem Ziel die Unterstützung erfolgt: Es heißt dort nicht, "as long as it takes", bis die Ukraine befreit ist. Sondern es wird in den allgemeinen Kontext des Verteidigungskampfes gestellt: "As long as it takes", um ihre Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen. Das ist sprachlich weniger scharf formuliert als "as long as it takes", bis die Ukraine ihre von Russland besetzten Gebiete und die Menschen dort befreit hat.

Und hat welchen Vorteil?

Mit der scharfen Formulierung würde der Westen sich in schwieriges Fahrwasser begeben, wenn man mit Russland Verhandlungen aufnimmt, bevor die Ukraine komplett befreit ist. Das ist eine von mehreren Stellen, an denen man sehen kann: Hier will sich die NATO politische Freiräume erhalten, das steht aber einer möglichst konkreten Aussage aus Sicht der Ukraine entgegen.

Ist es diesen Preis denn wert? Lohnt es sich am Ende des Tages, auf Konkretheit zu verzichten, um sich diese Freiräume zu sichern?

Wenn man die NATO-Erklärung von gestern allein betrachtet, dann ist es schwierig. Heute hat aber der neue NATO-Ukraine-Rat getagt und es gab ein Statement der G7, damit ist politisch wohl einiges wieder eingefangen worden. Auch bei der Reaktion von Wolodymyr Selenskyj ist ja heute im Vergleich zu gestern eine Entwicklung zu sehen.

Gestern twitterte er noch, es sei "beispiellos und absurd", dass es für den Beitritt keinen Zeitrahmen gibt. Heute nannte er den Sicherheitspakt der G7 einen "Sieg".

Da wurden mit Sicherheit diverse Telefonate geführt, um die Frustration, die gestern sehr evident war, wieder einzufangen. Das Kommuniqué der G7 könnte jetzt der Startschuss sein für eine tatsächlich dauerhafte und ausgeweitete Unterstützung der Ukraine, die auch immer mehr aus dem Rhythmus der Ramstein-Konferenzen heraus verstetigt wird. Dass man Verträge eingeht, sich Hilfe nicht nur verbal, sondern schriftlich zusichert. Dass man die Rüstungsindustrie einbindet. Dann müssten sich aber die Unterstützerstaaten in ihrer Hilfeleistung nochmal deutlich ambitionierter zeigen.

Als der Ukrainekrieg begann, hieß es vielfach: "Die Balten haben uns gewarnt. Hätten wir doch früher auf sie gehört". Jetzt hört wieder niemand auf die Balten. Die wollten einen konkreten Zeitplan für den Beitritt.

Ein Problem ist, und darauf hat der litauische Außenminister heute verwiesen, dass die Zeitvorstellungen innerhalb der NATO sehr unterschiedlich sind: Die Polen, die Balten sehen sich mit einem seit Jahrzehnten existierenden russischen Feind konfrontiert. Westliche Alliierte blicken zum Teil nicht weiter als bis zur nächsten Wahl. Das macht politisches Handeln schwierig.

Die Notwendigkeit, alles einstimmig zu entscheiden, ist da vermutlich auch nicht hilfreich?

Das Ergebnis ist immer der Minimalkonsens, dem alle gerade noch so zustimmen konnten. Die Balten wurden da aus meiner Sicht nicht über den Tisch gezogen, sondern es wurden Interessen ausgeglichen. Das kann man aber kritisch sehen: Bei den Verteidigungsausgaben hat man sich auf zwei Prozent Minimum geeinigt, das hätte auch ambitionierter ausfallen können. Die Idee, als NATO ein Verbindungsbüro in Japan zu eröffnen, scheitert an Macron. Bezogen auf die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine war vermutlich das Weiße Haus der Ort, wo man sich am stärksten zurückgehalten hat.

Zusätzlich zu den Erklärungen gab es in Vilnius diverse Zusagen für Waffen. Nach Storm Shadow aus Großbritannien hat heute auch Frankreich Marschflugkörper versprochen. Was für ein Faktor ist das für die Fähigkeiten der Ukraine?

Diese Entscheidung halte ich für enorm wichtig und Emmanuel Macron hat damit politisch sicher gepunktet. Taurus, der Marschflugkörper aus Deutschland, ist hingegen noch nicht auf dem Tableau. Dabei könnte deutsche Unterstützung in dem Bereich für die Ukraine einen deutlichen Mehrwert liefern, denn die genauen Zahlen der Waffen aus London und Paris sind nicht bekannt, aber sie werden nicht allzu hoch liegen.

Kanzler Scholz hat heute nochmal betont, dass Putin in die Entscheidung über einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht einbezogen wird. "Russland wird da nicht drüber verfügen können", sagte er. Wie verlässlich ist solch eine Zusage?

Ich glaube, die NATO hat versucht, das im Kommunique zu reflektieren. Sie hat zum Beispiel laut eines Berichts von "Politico" zunächst überlegt, ob sie zu den Bedingungen für einen NATO-Beitritt statt "conditions are met" hineinschreibt "conditions allow" - also der Beitritt erfolgt, wenn es die Bedingungen "erlauben". Dieses "allow", so war der Gedanke, könnte aber implizieren, dass für den Beitritt in irgendeiner Form ein Okay von Russland kommen müsste. "Conditions are met" hingegen klingt selbstbestimmter, wenn die Ukraine die Bedingungen erfüllt, kann sie beitreten.

Und diese Formulierung steht dort jetzt auch?

Ja, aber wie der politische Kontext sich in den nächsten Jahren entwickelt, weiß niemand. Und die Erfahrung von Schweden ist da ernüchternd, dass der türkische Präsident den schwedischen Beitritt ein Jahr lang bremsen konnte. Die Ukraine schaut da, denke ich, skeptisch, dass, wenn es so weit ist, aus irgendeiner Hinterhand eine Forderung entstehen könnte, die auch ihren Beitritt erstmal stoppt. Denkbar wäre etwa, dass Viktor Orban versucht, mit Hinweis auf die ungarische Minderheit in der Ukraine politisch Kapital für sich zu schlagen. Die Entscheidungen in der NATO sind demokratische Entscheide, da lässt sich nichts garantieren.

Mit Rafael Loss sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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