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Falsche Rücksichtnahme Die Ukraine muss schnell in die NATO

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Am 500. Tag des russischen Angriffskriegs wandte Selenskyj sich von der Schlangeninsel aus an die Ukrainer.

Am 500. Tag des russischen Angriffskriegs wandte Selenskyj sich von der Schlangeninsel aus an die Ukrainer.

(Foto: picture alliance/dpa/Planet Pix via ZUMA Press Wire)

Den Wunsch der Ukraine, Mitglied des westlichen Bündnisses zu sein, auf die lange Bank zu schieben, wäre die Wiederholung des gravierenden Fehlers, auf Putins endlose Drohungen Rücksicht zu nehmen. Es ist Schwäche, die den Diktator zur Eskalation ermuntert.

Von Beginn an hat Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit diversen und immer wieder modifizierten Lügen begründet. Der Kern blieb immer derselbe: Russland fühlt sich bedroht. Mal von "drogenabhängigen Nazis" in der Regierung Kiews, dann von erfundenen Biowaffen im Besitz der Ukraine - und natürlich vom Westen, speziell der NATO. Ein Hirngespinst, das sich leicht mit einem Blick auf die Landkarte vertreiben lässt. Die Ukraine grenzt an Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien, also vier NATO-Staaten. Würde sich Russland - wie vom Kreml geplant - die Ukraine territorial einverleiben, fiele sie als Puffer zwischen dem transatlantischen Militärbündnis und Putins Möchtegern-Imperium weg.

In seinem Größenwahn glaubte der Kreml-Chef, der Westen würde die Ukraine nach dem Überfall fallen lassen und ihn gewähren lassen wie bei der Annexion der Krim 2014. Tatsächlich hat Putin aber den Westen geeint und die NATO gestärkt. Mit Schweden und Finnland wächst die Organisation. Kurzum: So massiv wie jetzt war Russland noch nie von NATO-Ländern umgeben, dank Putin.

Nun tagt das Bündnis in Vilnius, der Hauptstadt Litauens - kein Zufall, steht doch das kleine Land auf Putins Wunschliste jener Staaten, die er gerne heim ins sowjetische Reich holen würde. Litauen gehört wie Estland und Lettland seit 2004 der NATO an, was sie vor dem Zugriff Russlands schützt. Die Ukraine aber hat der Westen aus Rücksicht auf den Kreml vertröstet, man könnte auch sagen: hängen lassen. Ihr wurde 2008 - genau wie das inzwischen durch Putins Kriege zerfallene Georgien - lediglich die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Der Aufnahmeprozess kam aber vor allem auch dank des Engagements der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht in Gang, was sich schon bei der Annexion der Krim als falsch herausstellte.

Der Wunsch nach "Dialog"

Merkels Nachfolger Olaf Scholz schloss sich der Appeasement-Linie gegenüber Russland nahtlos an. Kurz vor Kriegsbeginn sagte er, dass das Prozedere für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wohl in seiner und wahrscheinlich auch in der Amtszeit Putins keine Fortschritte mehr machen werde. "Ich weiß jetzt nicht, wie lange der Präsident vorhat, im Amt zu sein, aber ich jedenfalls habe das Gefühl, das könnte länger dauern - aber nicht ewig." Was immer Scholz exakt damit sagen wollte: Es war eine Streicheleinheit für Putin in der Hoffnung, dass er keinen Krieg anfängt. Wie so oft ein Irrtum in den Reihen der SPD.

Merkels treuester Unterstützer ihres Russland-Kurses war der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier und ein wichtiger Mann an dessen Seite: Jens Plötner, heute außen- und sicherheitspolitischer Berater von Scholz. "Mit 20 Mardern kann man viele Zeitungsseiten füllen, aber größere Artikel darüber, wie in Zukunft unser Verhältnis zu Russland sein wird, gibt es weniger", sagte Plötner im Sommer 2022.

Der Satz steht bis heute für das in der SPD und im Kanzleramt kultivierte Wunschdenken vom "Dialog" mit Russland und dem festen Glauben, man müsse Putin nur beschwichtigen, um zum Frieden zu kommen und es danach in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubauen. Bis heute bestimmt dieser Irrtum den Kurs des Regierungschefs. Deshalb ist von Scholz zum NATO-Beitritt der Ukraine wie immer nichts Konkretes zu hören und von SPD-Spitzenpolitikern wie dem Vorsitzenden Lars Klingbeil nur die Binse, dass ein Land im Krieg nicht NATO-Mitglied werden könne. Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen beklagt zu Recht, dass Scholz nichts dazu sagt, ob die Ukraine nach dem Krieg NATO-Mitglied werden soll - und wann genau.

An der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine führt kein Weg vorbei

Damit das nicht zu sehr auffällt, kriegt die Ukraine mehr Waffen aus Deutschland - was eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Entscheidend aber sind (oder wären) klare Ansagen über internationale Schutzgarantien, ohne die ein Waffenstillstand oder ein Friedensvertrag wertlos wären, da sich Russland nicht an internationale Abmachungen hält, wie der völkerrechtswidrige Bruch des Budapester Memorandums von 1994 zeigte, das die territoriale Unversehrtheit der Ukraine garantierte. US-Präsident Joe Biden schlägt immerhin eine politisch-militärische Partnerschaft nach dem Vorbild Israels vor, die Unterstützung, Sicherheitsgarantien und Waffenlieferungen enthält.

Das kann nur der Anfang sein. Es führt kein Weg daran vorbei, der Ukraine eine klare Zusage für eine NATO-Mitgliedschaft sofort nach Kriegsende zu geben, damit Putin weiß, woran er ist. Schon kündigt Kreml-Sprecher Dmitri Peskow eine "ziemlich harte und verständliche Reaktion" an. Doch was will Russland tun? Ein heutiges NATO-Land angreifen, wo es noch nicht mal in eineinhalb Jahren geschafft hat, die Ukraine zu bezwingen? Eine taktische Atombombe abwerfen und das Territorium verseuchen, das Putin als ureigenes russisches Land definiert? Dann würden China und Indien sofort umsteuern und der Kreml wäre international total isoliert, von innenpolitischen Unruhen einmal abgesehen.

Putin braucht keine Provokation

Ähnlich tönte der Kreml auch schon bei der Aufnahme von Finnland und Schweden in die NATO (und auch schon vor dem Beitritt der baltischen Staaten). Trotzdem gibt es auch jetzt wieder Bedenken, bei einer Zusage an die Ukraine könne der Westen rote Linien überschreiten und Putin zu einer Eskalation provozieren. Der frühere NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte das einzig Richtige dazu: "Was immer er als rote Linien definiert oder empfindet, kann uns ehrlich gesagt egal sein." Der Westen kann nicht länger die Augen davor verschließen, dass Russland ihn zum Feind Nummer eins erklärt hat.

Jedem muss klar sein, dass Putin keine Provokation braucht, den Konflikt weiter anzuheizen. Er tut das, was er will, und lässt das Land überfallen, auf das er Lust hat, genau mit den Mitteln, die der Diktator für richtig hält: Bombenterror, hybride Kriegsführung und das Sprengen von Staudämmen. Spätestens seit März zeichnet sich in Russland zunehmend eine Rhetorik vom "ewigen Krieg" ab. Schon um den NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern, wird Putin keinen Friedensschluss wollen. Dem angegriffenen Land gerade deshalb die rasche Aufnahme in die NATO zu verweigern, wäre die Wiederholung des gravierenden Fehlers, auf Putins endlose Drohungen Rücksicht zu nehmen. Er kennt nur die Sprache der Stärke. Es ist Schwäche, die ihn zur Eskalation ermuntert.

In seiner großartigen "Zeitenwende"-Rede hat Scholz Deutschland als "Garant europäischer Sicherheit" angeboten. Möge er sich daran erinnern und - gerade aus historischer Verantwortung aus dem Zweiten Weltkrieg gegenüber Osteuropa - sich für eine Aufnahme der Ukraine in die NATO sofort nach Kriegsende stark machen, statt sich wieder monatelang von anderen Verbündeten treiben zu lassen. Alles andere wäre ein Verrat an dem kriegsgebeutelten Land und den mehr als 40 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die Tag für Tag in Angst leben.

Quelle: ntv.de

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