Vier Gründe Die Wahl in Frankreich hat massive Folgen für Deutschland
26.06.2024, 18:11 Uhr Artikel anhören
Die linken Parteien, einschließlich der radikalen Partei La France insoumise von Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, haben sich zu einer "Volksfront" (Front populaire) zusammengeschlossen.
(Foto: REUTERS)
Mit dem Ausgang der Parlamentswahlen in Frankreich werden auch die Weichen für Deutschland gestellt. In einer Situation, in der Europa durch drei große Gefahren herausgefordert ist, wäre ein rechtsextremer Ministerpräsident in Frankreich ein großes Problem.
In Frankreich steht eine Wahl an. Aber selten wurde in Deutschland so wenig verstanden, was in Frankreich passiert. Warum der französische Präsident den Wahlkampf ausgelöst hat, bleibt den meisten Deutschen rätselhaft. Das Interesse an Frankreich sinkt zudem immer mehr, weil andere Probleme drängender erscheinen: der Krieg in der Ukraine, der Krieg im Nahen Osten, die Konflikte mit China und die amerikanischen Präsidentenwahlen im November. So fern abliegend dieser Wahlkampf auch erscheinen mag, er hat doch aus vier Gründen für Deutschland großes Gewicht.
Wie geht es weiter zwischen den politischen Lagern?
Erstens geht es darum, wie man die Spaltung zwischen dem rechten und dem linken politischen Lager überwinden und zu einer Zusammenarbeit kommen kann. Das ist in den letzten Jahren in Deutschland wie in Frankreich neu angegangen worden und steckt jetzt ähnlich fest.
In Deutschland startete 2021 die Ampel-Koalition, die Parteien aus dem linken und rechten Lager zusammenbringt. Sie hat vieles angesichts der schweren Krisen, der Corona-Krise und des Ukraine-Kriegs, geleistet, wird aber inzwischen nicht mehr als Erfolgsmodell angesehen und besitzt in den gegenwärtigen Umfragen auch keine Mehrheit mehr in der Wählerschaft.
In Frankreich gründete Präsident Emmanuel Macron 2016 eine neue Partei, "République en marche", die ebenfalls Politiker aus beiden Lagern zusammenbrachte, aus der sozialistischen Partei ebenso wie aus der konservativen Partei, den heutigen Républicains. Sie gewann 2017 überraschend die Mehrheit im französischen Parlament und drückte die traditionellen Präsidentenparteien zu Marginalparteien herunter. Allerdings war schon bei den letzten Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen 2022 dieses Konzept nicht mehr so erfolgreich. Macrons Partei verlor ihre Mehrheit im Parlament. Bei den Europawahlen am 9. Juni erhielt sie nur noch 15 Prozent der Stimmen und wäre fast von den wieder aufsteigenden Sozialisten vom zweiten Platz verdrängt worden.
Es geht bei den kommenden Wahlen darum, ob die neue Partei Macrons weiterbesteht oder ob es eine Neugründung der alten politischen Lager, des linken und des rechten Lagers geben wird - allerdings mit dem dramatischen Unterschied, dass nicht mehr die klassische konservative Partei von Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy, sondern der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen das rechte Lager beherrschen wird. Es geht also um das gemeinsame, deutsche und französische Problem, wie die Spaltung und Zusammenarbeit zwischen dem rechten und linken Lager in Zukunft aussehen wird. Beide Länder werden sich dabei wechselseitig genau beobachten und beeinflussen.
Die Brandmauer ist gefährdet
Zweitens geht es um den Umgang mit dem Rechtspopulismus. In den Europawahlen Anfang Juni hat sich die politische Landschaft Frankreichs verändert. In Frankreich wurde der Rassemblement National die stärkste Partei. Sie war erfolgreicher als die Rechtsextremen und Rechtspopulisten in den meisten Mitgliedsländern der EU, sogar erfolgreicher als Georgia Melonis regierende Fratelli d'Italia, wurde nur von den extrem rechten Parteien Ungarns, Polens und Tschechiens übertroffen. Deshalb vermutlich sah sich der französische Präsident auch veranlasst, Neuwahlen auszulösen. Dieses Projekt ist riskant, denn es könnte sein, dass Macron bei einem Erfolg des Rassemblement National dessen Spitzenkandidaten Jordan Bardella zum Ministerpräsidenten ernennen muss.
Aber was bedeutet das für Deutschland, das mit den 16 Prozent Stimmen für die AfD nicht nur weit weniger rechtsextrem gewählt hat als Frankreich, sondern auch weniger als fast alle seine Nachbarländer (mit Ausnahme Dänemarks). Man sollte nicht übersehen: Mit einem rechtsextremen französischen Ministerpräsidenten wäre in einem zentralen Mitgliedsland der EU das geschehen, was in Deutschland die CDU vermeiden will: eine Zusammenarbeit von Konservativen und Rechtsextremen bei der Regierungsbildung, auch wenn diese in Frankreich nicht freiwillig geschähe. Weder in Italien noch in Ungarn noch in Polen gab und gibt es eine vergleichbare Zusammenarbeit in den Regierungen. Vor allem, wenn Jordan Bardella als Regierungschef nicht sonderlich erfolgreich wäre, würde das Argument verstärkt, dass man auch mit der AfD in einer Regierung zurechtkommt. Die Brandmauer, die die CDU gegenüber der AfD ziehen möchte, wäre durch das französische Gegenbeispiel gefährdet.
Bardella würde die deutsch-französische Zusammenarbeit auf Eis legen
Drittens geht es bei den französischen Wahlen um die deutsch-französische Zusammenarbeit. Der Rassemblement National steht der deutsch-französischen Zusammenarbeit ablehnend gegenüber, da er glaubt, Frankreich sei der Übermacht Deutschlands in der Europäischen ausgeliefert und Deutschland gefährde die nationale Souveränität Frankreichs. Zusammen mit Jean-Luc Mélenchon und seiner linksradikalen Partei La France insoumise, die ähnliche Ängste schürt, und einer weiteren, noch rechtsextremeren Partei hat der Rassemblement National bei den Europawahlen fast 50 Prozent der Stimmen in Frankreich bekommen.
Es geht daher bei diesen Wahlen auch um die deutsch-französischen Beziehungen. Entweder wird die deutsch-französische Partnerschaft, die sich mit der Zusammenarbeit in der europäischen Finanz- und Bankenpolitik und in den europäischen Rüstungsprojekten zwischen den Regierungen in letzter Zeit verbessert hat, trotz aller Interessenunterschiede weitergeführt. Oder sie wird von einem rechtsextremen französischen Ministerpräsidenten auf Eis zu legen versucht. Phasen des deutsch-französischen politischen Stillstands gab es schon mehrfach, vor allem während der Zeit des leeren Stuhls 1966/67, als Frankreich seine Mitarbeit im Ministerrat der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einstellte. Aber dieser Stillstand könnte länger und massiver sein als alle Störungsphasen der deutsch-französischen Regierungsbeziehungen seit Gründung der Montanunion 1951, dem Vorläufer der Europäischen Union. Auch deshalb verdienen die französischen Wahlen in der deutschen Öffentlichkeit volle Aufmerksamkeit.
Es geht um die Zukunft der Europäischen Union
Viertens geht es um die Europäische Union. Wenn Jordan Bardella französischer Ministerpräsident werden sollte, wird er nicht den Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union oder aus dem Euro durchsetzen. Seine Partei hat diese Ziele offiziell aufgegeben, da sie in Frankreich Respekt in der politischen Mitte gewinnen will. Aber sie möchte die Europäische Union umbauen und zur europäischen Integration der 1950er bis 1970er Jahre zurückkehren, als es noch keinen Europäischen Rat gab, das Europäische Parlament noch schwach war, die Europäische Kommission weit weniger Kompetenzen besaß als heute und der Europäische Gerichtshof kaum von sich reden machte. Der Rassemblement National nennt diese Zeit jetzt die goldene Epoche der europäischen Integration. Diese zahnlose Europäische Union könnte auch nicht mehr eingreifen, wenn ein weiteres Mitgliedsland ähnlich wie in Ungarn die Unabhängigkeit der Gerichte abbauen und alle Medien auf Regierungslinie bringen sollte.
Natürlich wird Bardella nicht einfach die europäischen Verträge ändern und die Europäische Union umbauen können. Aber wenn der Rassemblement National bei den Wahlen die Mehrheit gewinnen sollte, steht die deutsche Regierung vor anderen Mehrheiten im Europäischen Rat. Mit Georgia Meloni (Italien), Viktor Orbán (Ungarn), Robert Fico (Slowakei) und eben Jordan Bardella aus Frankreich hätten die rechtsextremen Regierungen im Europäischen Rat ein viel stärkeres Gewicht als bis vor Kurzem mit der inzwischen abgewählten polnischen PiS-Regierung und mit der ungarischen Orbán-Regierung. Rechtsextreme Beteiligung an Regierungen bestehen seit jüngster Zeit auch in Schweden, Finnland, den Niederlanden und könnten demnächst auch in Belgien und Österreich zustande kommen.
Dadurch können die Entscheidungen der Europäischen Union mehr als in den letzten Jahren blockiert werden, und zwar ausgerechnet in der Situation, in der sie durch drei große Gefahren mehr als je in ihrer Geschichte herausgefordert ist: durch die Bedrohung der äußeren Sicherheit Europas aus Russland, durch die Gefahr des wirtschaftlichen Zurückfallens Europas hinter die USA und hinter China sowie durch die Gefahren der Klimakrise. Die Wahlen in Frankreich gehen uns daher massiv an. Am 7. Juli, dem Tag der Stichwahl, werden auch Weichen für Deutschland gestellt.
Prof. Dr. Hartmut Kaelble zählt zu den renommiertesten deutschen Sozialhistorikern. Bis 2008 lehrte er Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Quelle: ntv.de