Cool - kühn - Kallas Fünf Lehren aus der Münchner Sicherheitskonferenz
19.02.2024, 01:18 Uhr Artikel anhören
Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas - hier auf einem EU-Gipfel vor drei Wochen.
(Foto: picture alliance / ROPI)
Die Stimmung war schon mal besser auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Man ist zu Recht zerknirscht, weil die Ukraine darunter leidet, dass es bei der Munitionsproduktion nicht läuft. Dafür sind die G7-Abkommen mit Kiew besser als ihr Ruf. Fünf Lehren vom Sicherheits-Marathon.
Aufbruchstimmung war gestern
Eigentlich sollte erst Tag 2 der Münchner Sicherheitskonferenz der "Krisen-Samstag" werden, wie ihn manche Teilnehmer wegen der harten Themen schon im Vorfeld getauft hatten. Aber nun begann die MSC auch schon mit einem "Krisen-Freitag", als am Mittag russische Medien den Tod des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny meldeten. Putins Mord-Maschinerie hat es geschafft, sowohl die Signatur des Sicherheitsabkommens zwischen Deutschland und der Ukraine wie auch die Münchner Konferenz am Freitag zu dominieren.
Am Samstag erkannte zwar Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede, "Silberstreifen" am Horizont und bemühte sich, die übrigen europäischen Staaten auf deutlich höhere Ukrainehilfen einzunorden. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen brachte die Idee eines EU-Verteidigungskommissars ins Spiel. Aber trotz Durchhalteparolen und neuer Vorschläge - prägend in München blieb die normative Kraft des Faktischen: Wegen Munitionsmangels verliert Kiew jeden Tag an der Front Gelände und - schlimmer noch - viele tapfere Kämpfer.
"Sobald man die Ebene der Hauptbühne verließ, dorthin, wo im kleineren Kreis inoffiziell gesprochen wird, war die Stimmung keineswegs rosig - nicht in Bezug auf die Kriegssituation, ebenso wenig mit Blick auf politische Führung, den Zusammenhalt Europas und die Rolle der USA", so hat es Claudia Major wahrgenommen, als renommierte deutsche Sicherheitsexpertin eine Panelistin auf der MSC.
Der Hauptgrund für Kiews Nöte: Die USA schaffen es seit Monaten nicht, ihr 60 Milliarden schweres Waffen- und Munitionspaket durch den Kongress zu bringen. Die Europäer haben es versäumt, ihre eigene Rüstungsindustrie mit rechtzeitigen Aufträgen so anzuschieben, dass die US-Lücke auszugleichen wäre.
Vor einem Jahr in München hätte das wohl niemand erwartet. Da standen Staatschefs wie der Brite Rishi Sunak, Emmanuel Macron aus Frankreich und die amerikanische Vizepräsidentin Kamala Harris auf der Bühne - alle drei starke Redner, denen es gelang, in der ersten Sicherheitskonferenz nach Ausbruch des großen Ukrainekrieges Aufbruchstimmung zu verbreiten.
Man war gemeinsam zu der Erkenntnis gelangt: Die Ukraine kämpft nicht nur ums eigene Überleben, sondern auch für die Werte und die Freiheit der westlichen Demokratien. Die Schlussfolgerung, ihr dabei verlässlich zur Seite zu stehen, musste also nur noch in die Tat umgesetzt werden. Nur noch?
Erkenntnisriesen und Umsetzungszwerge
Was haben die Ukraine-Unterstützerstaaten aus der Erkenntnis und dem Aufbruchwillen von 2023 gemacht? Das war eine der Fragen, die über der Konferenz kreisten wie die Hubschrauber über dem "Bayerischen Hof", wo die MSC seit Jahrzehnten stattfindet. Ein Jahr hatte die westliche Staatengemeinschaft Zeit, sich aufzustellen, Ressourcen zu bündeln, Waffen und Munition zu ordern, Hilfe zu strukturieren - die "Bazooka" auszupacken, wie es Olaf Scholz vielleicht formulieren würde. Doch die Bilanz der Sicherheitskonferenz Mitte Februar 2024 war ernüchternd und vertraut: das immer wiederkehrende too little, to late - zu wenig, zu spät.
Erst nach Monaten entschied die Unterstützergruppe, ihre Hilfe zu strukturieren, unterschiedliche Fähigkeiten in die Verantwortung einzelner Staaten zu legen. In diesen "Capacity Coalitions" wird zum Beispiel Polen künftig die Unterstützung mit Panzern koordinieren, Deutschland und Frankreich wiederum werden gemeinsam allen auf die Füße treten, die mit Luftverteidigungssystemen helfen könnten. Das läuft nun an, hätte aber eigentlich am Montag nach der Konferenz 2023 anlaufen müssen.
Es ist kompliziert - und wird noch komplizierter
Die Welt außerhalb Europas und der USA wurde auf einigen Panels in München besprochen. In der Wahrnehmung, auch nach außen, geriet sie zum Teil unter die Räder. Das Verhältnis des Westens zu China, der Krieg in Gaza, Siedlergewalt in der Westbank, die Position von Schwellenländern - für solche Themen schienen jenseits der Panels kaum Kapazitäten zu sein angesichts des Krieges in Europa. Und wenn US-Außenminister Anthony Blinken eine Zwei-Staaten-Lösung fordert, steht von vornherein fest, wie Israel und die Palästinenser reagieren werden: ablehnend.
Auch die Perspektive auf einen NATO-Beitritt Kiews war kein zentrales Thema, zu viele Fragen offen und enorm schwer zu klären: Welches Territorium wäre zu schützen? Wie riskant ist Stoltenbergs Aussage, "NATO-Beitritt erst nach dem Krieg", mit Blick auf den Kreml? Und könnte man für einen Ukraine-Beitritt auf die Zustimmung aller NATO-Staaten vertrauen? Die Erfahrungen beim Beitritt Schwedens weisen nicht darauf hin.
Statt NATO-Beitritts-Fragen intensiv zu diskutieren, verwies man eher auf die nun angelaufenen Sicherheits-Abkommen zwischen der Ukraine und den G7-Staaten. Das deutsch-ukrainische Abkommen haben Scholz und Präsident Wolodymyr Selenskyj erst am Freitag in Berlin unterzeichnet. Solange NATO-Beitrittsverhandlungen in weiter Ferne scheinen, sollen die Abkommen den Weg dorthin aufzeigen.
Die Sicherheitsabkommen der G7 - besser als ihr Ruf
Werden die Abkommen, die mit den G7 vereinbart werden, den Anforderungen auch inhaltlich gerecht? Zunächst mal sind es ausdrücklich keine Garantien, sondern nur eine verstärkte und gebündelte Kooperation mit zugesagter Finanzierung. "Damit bleiben sie deutlich unterhalb des Schutzes etwa einer NATO-Mitgliedschaft, aber verankern doch eine verbindlichere Zusammenarbeit als die bisherigen Ad-Hoc-Hilfen", bilanziert Major. Sie seien daher – trotz berechtigter Kritik – besser als ihr Ruf.
Solche Abkommen mit wirtschaftlich starken Nationen sind "eine gut organisierte, strukturierte, verlässliche Unterstützung unterhalb von Artikel 5 des NATO-Vertrags. Für die Ukraine hat das Gewicht".
Nach der Unterzeichnung in Berlin war Selenskyj fürs französische Abkommen nach Paris geflogen, die Briten haben schon unterzeichnet. Lauter Einzelveranstaltungen also, die man auch in München hätte symbolstark bündeln können. "Gerade angesichts der schwierigen Frontlage und der Blockade im US-Kongress hatten viele gehofft, dass sich Sunak, Macron, Scholz und der polnische Premier Donald Tusk publikumswirksam auf die Münchner Bühne stellen und zeigen: Wir Europäer machen das jetzt zusammen", sagt Major. "Da hat man eine Chance vertan."
Cool - kühn - Kallas
Sunak und Macron reisten gar nicht erst an. US-Vizepräsidentin Kamala Harris betonte in ihrer Rede die Stärke der transatlantischen Partnerschaft und versicherte, die Ukraine bekomme alle militärische Unterstützung. Aber was ist eine solche Zusage wert, wenn das Weiße Haus durch die republikanische Blockade bei der Ukrainehilfe schon jetzt handlungsunfähig ist? "Alle militärische Unterstützung" ist derzeit kein einziger Dollar.
Wenn also die Staaten, die sonst in München im Rampenlicht stehen, nicht liefern, schärft das den Blick für die Newcomer. Kaja Kallas, Estlands Regierungschefin, steht nicht nur seit vergangener Woche auf der russischen Fahndungsliste ("feindselige Handlungen"). Sie treibt auch europäische Partner zu mehr Kühnheit an, und ihre Verteidigungsausgaben liegen gemessen am estnischen BIP bei drei Prozent.
Auf dem Münchner Panel zur NATO-Politik erläuterte Kallas zum Thema Munitionsproduktion, dass Estland einen sehr guten Tech-Sektor habe. "Warum bringen wir das nicht zusammen, um Fortschritte zu machen", fragte die Premier. "Um nicht das zu produzieren, was es im 20. Jahrhundert gab, sondern das, was dem 21. Jahrhundert entspricht."
Weniger Bedenkenträger, mehr Möglichmacher wünschen sich viele innerhalb der EU, auch wenn nicht alles klappt, was die Estin ersinnt. Von der einen Million Schuss Munition, die man binnen eines Jahres fertigen wollte, wird nur ein Drittel pünktlich produziert sein. Doch sucht inzwischen, wie man hört, die Union in aller Welt nach Artilleriegranaten - sicher auch befeuert durch Kallas' kühne Initiative.
Auch die Idee des tschechischen Präsidenten Petr Pavel ist nach Kallas' Geschmack: Er schlägt vor, dass die EU Munition von Drittstaaten kauft, um sie der Ukraine zu liefern. Finanziert werden könnte das laut der Estin durch EU-Anleihen, also gemeinschaftliche Schulden. Angesichts von Skepsis aus Deutschland fragt sie: "Was ist die Alternative?"
Quelle: ntv.de