Wo sind all die Wähler hin? In der SPD bricht ein Richtungsstreit los


Vier in einem Boot, aber rudern sie in die gleiche Richtung? Kühnert, Esken, Klingbeil und Scholz auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2023.
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Erstmals seit Jahren zeigen sich in der SPD deutliche programmatische und auch personelle Spannungen. Nach dem verheerenden Europawahlergebnis fordern alle Parteiflügel Konsequenzen, stellen sich darunter aber ganz unterschiedliches vor.
Seit dem Wochenende muss Bundeskanzler Olaf Scholz zwei Krisen gleichzeitig moderieren: den Haushaltsstreit in der Bundesregierung und den schleichend eskalierenden Richtungskonflikt in seiner SPD. Am Tag seiner Rückkehr vom Ukraine-Gipfel in der Schweiz musste sich Scholz um beides kümmern: Präsidiumssitzung seiner Partei am Sonntagnachmittag, anschließend Haushaltsverhandlungen mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesfinanzminister Christian Lindner. Die Krisen daheim drängen. Scholz reiste entsprechend pünktlich vom Gipfel ab.
Die Sozialdemokraten sind aufgeschreckt: Die Ergebnisse bei den Europa- und Kommunalwahlen am 9. Juni waren desaströs. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen droht der Partei im September ebenfalls Ungemach, erst recht aber bei den Bundestagswahlen im kommenden Jahr. Reihenweise müssen Mandatsträger um ihre Ämter bangen. Umso mehr Wucht entfaltet eine schon lange schwelende, vom Wahlerfolg 2021 überdeckte Richtungsdebatte der Partei. Sie dreht sich um die Fragen: Wer sind "unsere Leute" und was wollen sie?
Mehr SPD oder mehr Dänemark?
Offiziell auf die Tagesordnung der SPD holte diese Fragen das Forum Demokratische Linke 21. Die linke Gruppe innerhalb der SPD fordert seit dem Wochenende einen "Kurswechsel in der Regierungspolitik". In einer Mitgliederbefragung will DL21 - so die Kurzform - über eine weitere Beteiligung der SPD an der maßgeblich von der FDP vorgegebenen Sparpolitik abstimmen lassen. Der linke Parteiflügel fordert eine Abkehr von den starren Vorgaben der Schuldenbremse und einen massiven Investitionsschub, nicht zuletzt im Bereich Soziales, Bildung und Gesundheit. Das ist aus Sicht des Forums der Markenkern der Sozialdemokraten.
Ganz anders sehen das die Konservativen vom Seeheimer Kreis: Sie vermuten die Tür zurück ins Herz der Wähler beim Thema Migration: "Wir sollten uns den Kurs der nordischen Sozialdemokraten sehr genau anschauen", sagte Dirk Wiese dem "Tagesspiegel". Dänemarks sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen vertritt einen im EU-Vergleich besonders restriktiven Umgang mit Zuwanderern. SPD-Vizefraktionschef Wiese ist zugleich Vorsitzender der Seeheimer. SPD-Chef Lars Klingbeil wird dem Flügel zugerechnet. Die Seeheimer stellen sich zudem besonders offensiv hinter Scholz. Wiese verwahrte sich im "Tagesspiegel" gegen Kritik des Juso-Chefs Philipp Türmer, der in großen Abschiebeversprechen einen Verrat an sozialdemokratischen Grundwerten sieht. Türmer ist derzeit der vielleicht schärfste innerparteiliche Kritiker von Scholz.
Kühnert und Scholz im Visier
So bricht sich dieser Tage ein Flügelstreit Bahn, den der damalige SPD-Generalsekretär und heutige Parteivorsitzende Klingbeil mühsam befriedet hatte. Seine Co-Vorsitzende Saskia Esken und der heutige Generalsekretär Kevin Kühnert gehören den Parteilinken an. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich ebenso, doch die größte Gruppe an Abgeordneten versammeln inzwischen die Seeheimer hinter sich. Personaldebatten gehen entlang dieser Konfliktlinie: Parteilinke fordern von Scholz mehr SPD-Profil in der Ampel. Die Gegenseite macht ihren Frust eher am früheren Scholz-Gegenspieler Kühnert fest, der die erfolglose Wahlkampagne verantwortet. Offen ist, ob die innerparteilichen Seitenhiebe vor allem Frustventil sind oder erstes Funkensprühen einer gerade entzündeten Lunte.
Wie dieser Konflikt weitergeht, hängt ganz wesentlich am Kanzler: Findet Scholz in den Gesprächen mit Habeck und Lindner einen Weg zur Aussetzung der Schuldenbremse unter Verweis auf die Lage in der Ukraine? Dann wäre schlagartig der Spardruck raus und die Ampel müsste weder über Bürgergeld- noch Rentenkürzungen sprechen und könnte zudem mehr Geld zum Ankurbeln der Wirtschaft in die Hand nehmen. Oder bleibt es bei Lindners umfangreichen Sparvorgaben, die Scholz im Mai demonstrativ unterstützt hatte? "Schwitzen" sei angesagt, hatte Scholz den Kabinettsmitgliedern da mitgegeben. Doch weniger Sozialausgaben bei zugleich unablässig steigenden Militärausgaben sind vielen SPD'lern kaum vermittelbar, das gilt nicht nur für Parteilinke. Schon am Dienstag nach der Europawahl diskutierte die SPD-Fraktion intensiv mit Scholz über die richtigen Lehren.
Ukraine-Kurs wird nicht belohnt
Und noch ein Thema treibt die SPD um: Wie hält sie es künftig mit der Ukraine und Russland? "Besonnenheit", "Frieden" und "Sicherheit" waren im Europawahlkampf Eigenschaften, die Wählerinnen und Wähler mit Scholz verbinden sollten. Das war der Tenor seiner Wahlkampfauftritte. Das war die Botschaft der Wahlplakate. Scholz' Kurs der dosierten Unterstützung der Ukraine hätte auf das Konto der SPD einzahlen sollen. Mit Blick auf das Ergebnis stellt sich die nun Frage, ob Scholz' "Ja, aber"-Kurs bei der eigenen Klientel verfängt. Bei der Europawahl hat die SPD jeweils fast 600.000 Menschen an AfD und BSW verloren, die die militärische Unterstützung der Ukraine entschieden ablehnen. Den Schritt hin zu AfD und BSW dürften am 9. Juni vor allem Ostdeutsche gegangen sein, die 2021 noch SPD gewählt hatten.
Mit dem Kanzler als Stabilitätsanker zu werben, ist nicht aufgegangen. Als einzig denkbare Alternative zu Scholz gilt Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. Der niedersächsische Pragmatiker wird mit seinen lauten Rufen nach Aufrüstung und Wehrpflicht von den SPD-Linken aber kaum als Heilsbringer betrachtet. Spekulationen über einen Kanzlerkandidaten Pistorius dürften zwar nicht abebben. Vorerst kreist die Parteidebatte aber um die inhaltliche Ausrichtung: Wieder mehr linke Politik durchsetzen oder die Ampel zusammenhalten in der Hoffnung auf eine Trendwende in den kommenden Monaten?
2021 war Scholz zu weiten Teilen wegen der Schwäche der Konkurrenz Kanzler geworden. Geliebt wurde er nie und wird es ausweislich seiner persönlichen Umfragewerte heute noch weniger. Doch das "Respekt"-Versprechen an die arbeitende Mitte der Gesellschaft war zentraler Baustein einer gut gemachten Bundestagswahlkampagne. Von den versprochenen und umgesetzten 12 Euro Mindestlohn haben insbesondere die Menschen im Osten profitiert. Dann aber fraß die kriegsbedingte Inflation etwaige Einkommenssprünge auf. Die SPD will nun mit dem Versprechen von 15 Euro Mindestlohn in den nächsten Wahlkampf ziehen. Sie verweist zudem stolz auf ihr Rentenpaket, das das Renteneintrittsalter festschreibt und die Rentenbeiträge erst mittelfristig nach oben treibt - dann aber spürbar.
In der Migrationspolitik ist es nie genug
In weniger linken Teilen der SPD hat sich der Eindruck verstärkt, die SPD-Wähler seien von ganz anderen Themen getrieben als vom Sozialstaatsversprechen: Gut bezahlte Jobs müssten ebenso sicher sein wie die Straßen. Bevor sich Otto-Normal-Bürger mit Zukunftsfragen wie Altersarmut und Folgen einer möglichen Arbeitslosigkeit befasst, will er oder sie erst mal die Gegenwart geklärt wissen. "Ohne Sicherheit ist alles andere nichts", hat Scholz die Menschen wiederholt wissen lassen. Nach dem Messerattentat in Mannheim bekannte sich der Kanzler zur Abschiebung von Straftätern auch nach Afghanistan und Syrien.
Einem "Spiegel"-Bericht zufolge verhandelt Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit dem afghanischen Nachbarland Usbekistan bereits über eine Abschieberoute für Afghanen, die nicht länger in Deutschland erwünscht sind. Das Problem mit der Migrationspolitik: spürbare Senkungen der Zugangszahlen stellen sich selten schnell und zuverlässig ein. Und mehr tun kann man immer. Die Opposition hat auf dieser Wiese leichtes Spiel.
Zerrissenes Land, zerrissene SPD
Migration eignet sich für eine im Herzen linke Partei wie die SPD auch nur bedingt als Kampagnenthema. Und das schon gar nicht im Osten, wo die nach "Remigration" rufende, rechtsradikale AfD flächendeckend stärkste Kraft geworden ist. Den Osten zu ignorieren, kann sich die SPD aber ebenfalls nicht leisten, nicht nur wegen der anstehenden drei Landtagswahlen. Fast alle Ostwahlkreise waren bei der Bundestagswahl an die SPD gegangen, nur Sachsen und Südthüringen fielen an die Direktkandidaten der AfD. Bei der Europawahl waren fast alle Ostkreise AfD-blau. Wenig überraschend hat sich Thüringens Innenminister und SPD-Spitzenkandidat zur Landtagswahl, Georg Maier, als einer der ersten Sozialdemokraten für Abschiebungen nach Afghanistan ausgesprochen.
So spiegelt die Richtungsdebatte in der SPD auch die Zerrissenheit des Landes, das sie regiert: In den Städten, zumal in Westdeutschland, bewegen andere Themen als auf dem Land, insbesondere im Osten. Hinzu kommen die unterschiedlichen Prämissen von Jung und Alt. Die Partei will jedem etwas bieten, ist aber derzeit niemandes erste Wahl. Laut Infratest dimap haben von den Arbeitern 33 Prozent AfD gewählt, 24 Prozent CDU/CSU und nur 12 Prozent die SPD. Die Menschen, die die SPD gerne als "unsere Leute" zählt, haben demnach ihre Kreuzchen nicht entlang von Sozialstaatsversprechen gemacht.
Von vorgezogenen Neuwahlen kann sich die SPD derzeit keinen Vorteil versprechen. Zu weit weg ist sie von ihrem letzten Bundestagswahlergebnis in Höhe von fast 26 Prozent. Die FDP per Vertrauensfrage herauszufordern - "Gebt nach oder gebt die Ampel auf!" - scheint daher wenig attraktiv. Die vorgeschlagene Mitgliederbefragung könnte auch zum Gegenteil des Beabsichtigten führen. Auch das Forum Demokratische Linke 21 sollte wissen, dass Scholz auf Druckversuche allergisch reagiert.
Quelle: ntv.de