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Auswirkungen der Europawahl Bei SPD und Grünen sitzt der Schock tief

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Viel zu grübeln für SPD-Chef Klingbeil, SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. (Archivbild)

Viel zu grübeln für SPD-Chef Klingbeil, SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. (Archivbild)

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Grünen verlieren bei der Europawahl mehr als jede andere Partei, doch auch die SPD muss eine heftige Schlappe einstecken. Der Schrecken sitzt bei beiden Parteien tief. Schlimmer wiegt die Ratlosigkeit, wie eine Trendumkehr gelingen kann - und wie viel Zeit der Ampel dafür bleibt.

Wer in der Politik nichts mehr werden will, muss auch kein Blatt vor den Mund nehmen. "Wir haben kein einziges Milieu, keine Gruppe, keine Generation begeistert oder positiv erreicht", schreibt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, kurz nach den Europa- und Kommunalwahlen am Sonntag in einer bald wieder verschwundenen Instagram-Story. "Unsere Botschaften haben niemanden überzeugt" - weder Gegner noch Befürworter einer stärkeren militärischen Unterstützung der Ukraine. Das ist eine kaum verklausulierte Kritik am vom Bundeskanzler gewählten Mittelweg der mantrahaft wiederholten "Besonnenheit".

AfD und BSW feierten Erfolge, "weil das Gute und Vernünftige immer weniger emotionale Verbindung zur Bevölkerung aufzubauen vermag", lautet ein weiterer Befund des langjährigen SPD-Abgeordneten. Auch das lässt sich auf den wenig populären Olaf Scholz und seine Art zu reden münzen, nachdem die SPD den Kanzler überall plakatiert hatte.

Führende Sozialdemokraten, die noch nicht in Richtung Karriere-Ausfahrt blinken, sprachen nach der Wahl von einem "Denkzettel". Die Wortwahl lässt offen, ob der Wähler den Abgestraften eine Chance zur Besserung einräumt. Wenn ja, wären die Wähler zumindest nicht dauerhaft verloren. Und verloren gegangen sind schließlich sehr viele: Im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 haben Infratest dimap zufolge 5,3 Millionen Menschen weniger die SPD gewählt. 2,5 Millionen gingen demnach ans Lager der Nichtwähler verloren, an BSW und AfD jeweils fast 600.000.

22 Prozent der vormaligen SPD-Wähler sagten Infratest dimap, die Bundesregierung verdiene einen Denkzettel. Die Hälfte aller Wähler machte demnach ihre Wahlentscheidung an der Bundespolitik fest.

Auf der Suche nach Schuldigen

Was aber folgt daraus für die SPD? Generalsekretär Kevin Kühnert machte als Ursache für das schlechte Abschneiden seiner Partei eine "Kontaktschande" aus. Seine Partei ist demnach nicht selbst verantwortlich, sondern für schlechte Performance von FDP und Grünen mit abgestraft worden. Die parlamentarische Geschäftsführerin Katja Mast stimmt zu. Zwar tue die Koalition sehr viel zur Bewältigung der Probleme, sie finde aber, dass die Ampel "durch immer wieder neue Debatten, die angezettelt werden", von Erfolgen ablenke. Sie führt als Beispiel das Rentenpaket II an, mit dem sich ihre SPD auch gegen die Koalitionspartner durchgesetzt habe. Die Partei erwartet aber Durchsetzungskraft an anderer Stelle: bei der alles überlagernden Geldfrage.

Die Wochen bis zum 3. Juli sind der Ampel-Showdown schlechthin: Bis dahin wollen die drei Regierungsparteien einen Haushaltsentwurf zusammenhaben, den sie dann zur Feinjustierung ans Parlament übergeben können. Zu den wenigen Haushaltsfragen, in denen Einigkeit besteht, gehört die Überzeugung, keinesfalls mit einem ungelösten Haushalt in die Sommerpause gehen zu wollen. Wenn der Bundestag pausiert, gehen die Landtagswahlkämpfe in Brandenburg, Sachsen und Thüringen in die heiße Phase.

Die Europawahl hat schon angedeutet, was den Sozialdemokraten dann blüht: 2021 hatte die SPD im Osten überraschend stark abgeschnitten und sehr viele Direktmandate geholt. 2024 dürften dort besonders viele SPD-Wähler zu BSW und AfD gewechselt haben, weil die militärische Unterstützung der Ukraine im Osten sehr unpopulär ist. In Sachsen und Thüringen könnte die Kanzlerpartei gar aus dem Parlament fliegen. Doch auch das Abschneiden in früheren Hochburgen der alten Bundesrepublik ist schmerzhaft. In ganz Nordrhein-Westfalen war die SPD zur Europawahl einzig im Kreis Herne stärkste Kraft. Der Ruhrpott, einstige Herzkammer der Sozialdemokratie, wählte meistens CDU und immer öfter auch AfD.

Die Ampel spielt das Chicken Game

Wie aber der Haushalt 2025 aussehen könnte, ist weiter völlig offen. Die FDP, angeführt von Bundesfinanzminister Christian Lindner, lehnt weiter eine Aussetzung der Schuldenbremse unter Verweis auf den Krieg in der Ukraine ab. Etwaige Sondervermögen bräuchten zudem die Unterstützung der Union. Die hat aber wenig Interesse, der Ampel zu Hilfe zu eilen. Sie macht Druck, der Kanzler möge die Vertrauensfrage stellen und so endlich den Weg für Neuwahlen freimachen.

Tatsächlich sind Gedankenspiele zur Vertrauensfrage längst im Bündnis angekommen. Könnte Scholz so die Zustimmung der FDP zu einer wie auch immer gearteten Haushaltslösung erzwingen? Noch im Frühjahr hatten die Freidemokraten Medienspekulationen über einen Bruch des Ampel-Bündnisses freien Lauf gelassen. Sie waren der FDP eine willkommene Drohkulisse.

Möglich, dass SPD und Grüne diesen Spieß nun umdrehen. SPD-Chef Lars Klingbeil kündigte noch am Sonntagabend eine "kämpfende" SPD an, explizit bezogen auf Höhe und Finanzierungswege des kommenden Haushalts. Motto: Wenn sich die FDP nicht bewegt, soll sie doch zeigen, ob sie zum Äußersten bereit ist. Chicken Game nennen sie so etwas im Englischen: Zwei Autos fahren aufeinander zu, wer weniger mutig ist, lenkt zuerst ein. Das Risiko: Sind beide Seiten stur genug, gehen auch beide drauf. Oder in diesem Fall: alle drei.

Niederlage auf ganzer Linie

Wie schmerzhaft ein Crash der Ampel sein könnte, darauf haben auch die Grünen am Sonntag einen Vorgeschmack bekommen. Die 11,9 Prozent der Grünen zur Europawahl waren deutlich unter dem, was die Parteiführung befürchtet hat. Die Klimapartei ist damit noch unter den schlechtesten Umfragewerten seit Regierungsantritt geblieben. Und das bei einer Europawahl, die der Kernklientel doch eigentlich wichtiger ist als der anderer Parteien.

Und während die Grünen weiterhin auf dem Land und bei Wählerschichten mit niedrigerem Bildungsabschluss nicht verfangen, wackeln plötzlich auch die städtischen Hochburgen. Zwar waren die Grünen dort oft stärkste oder zweitstärkste Kraft, das aber mit vergleichsweise schwachen Zahlen. Das Milieu der urbanen Akademiker hat stattdessen unerwartet oft die Kleinstpartei Volt gewählt. Diese hat um 1,9 Prozentpunkte zugelegt - offenbar auch aus Enttäuschung derjenigen, die zuvor die Grünen für mehr Klimaschutzmaßnahmen gewählt hatten. Die Grünen werden das Ergebnis intensiv aufarbeiten, beteuern führende Grünen-Politiker.

Das Entsetzen ist groß darüber, dass die Partei unter einem angenommenen Kernklientelwert von 14 Prozent landen kann. Die Ratlosigkeit über die Gründe ist vor der Tiefenanalyse noch größer. Parteirebell Anton Hofreiter sagte noch am Abend des Wahlergebnisses zur Funke-Mediengruppe, dass sich die Grünen nun einen eigenen Kanzlerkandidaten sparen könnten. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dürfte das anders sehen. Ihm werden hartnäckig Ambitionen nachgesagt. Er kann deshalb auch kein Interesse an vorgezogenen Neuwahlen haben.

Wie sehr Habeck willens ist, für eine schnelle Lösung des Haushaltsstreits auf die FPD zuzugehen, zeigt seine Bereitschaft zur Aussetzung des Lieferkettengesetzes. Ein Angebot, das nicht nur die SPD, sondern auch die eigene Parteibasis irritiert. Aber ein vorzeitiges Aus der Ampel wäre auch das Ende aller grünen Kanzlerträume. In eineinhalb Jahren dagegen könnte die allgemeine Stimmung zumindest theoretisch schon wieder ganz anders sein. Alles hängt jetzt an der Frage: Finden die drei Parteien doch noch eine Lösung für das mittlere zweistellige Milliardenloch im kommenden Jahr - binnen 21 Tagen.

Quelle: ntv.de

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