Böhmermann hatte veröffentlicht Hessens Verfassungsschutz prüft geleakte NSU-Akten
31.10.2022, 12:28 Uhr (aktualisiert)
Die Veröffentlichung der NSU-Akten gehört bisher zu den größten Enthüllung von Jan Böhmermann und seine Teams vom "ZDF Magazin Royale". Diesmal half auch das Portal "Frag den Staat" mit.
(Foto: picture alliance/dpa)
Nach der vielbeachteten Veröffentlichung der NSU-Akten prüft der hessische Verfassungsschutz nun die Dokumente. Das "ZDF Magazin Royale" und "Frag den Staat" leakten die Unterlagen am Vorabend auf einer Website. Das Echo in der Parteienlandschaft auf den Coup ist geteilt.
Nach der Veröffentlichung von mutmaßlich als geheim eingestuften hessischen NSU-Akten durch das "ZDF Magazin Royale" prüfen hessische Verfassungsschützer jetzt die fraglichen Dokumente. Das Landesamt habe die Sendung von Jan Böhmermann vom Freitagabend "zur Kenntnis genommen". Es prüfe die "im Zusammenhang mit der Sendung erstellten und im Internet veröffentlichten Dokumente", teilte ein Sprecher mit. In der Erklärung ging das Amt nicht auf den Inhalt der Akten ein.
Die Plattform "Frag den Staat" und das "ZDF Magazin Royale" von Jan Böhmermann hatten am Freitag nach eigenen Angaben als geheim eingestufte hessische NSU-Akten veröffentlicht. "Wir glauben, die Öffentlichkeit hat das Recht zu erfahren, was genau in jenen Dokumenten steht, die ursprünglich für mehr als ein Jahrhundert geheim bleiben sollten", heißt es auf der dazu eingerichteten Webseite. Demnach offenbare sich in den als geheim eingestuften Dokumenten "ein mehr als zweifelhaftes Bild von der Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes; vor allem während der 90er Jahre". Aus den Akten gehe hervor: "Zu dieser Zeit sammelte der Dienst zwar umfangreiche Daten, hatte dabei aber weder den Überblick über seinen Bestand, noch folgten aus den gesammelten Informationen stets Konsequenzen."
Um die Quellen zu schützen, seien die Akten komplett abgetippt und ein neues Dokument erstellt worden, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen, schrieb Böhmermann auf Twitter. Bei dem seit Freitag abrufbaren Dokument handelt es sich laut Deckblatt um einen Abschlussbericht zur Aktenprüfung im Landesamt für Verfassungsschutz Hessen im Jahr 2012. Der Bericht ist auf den 20. November 2014 datiert.
Personenbezogene Daten werden geprüft
Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) teilte in einer sieben Zeilen langen Erklärung mit, es prüfe die veröffentlichten Dokumente. Bei daraus folgenden erforderlichen Maßnahmen, vor allem "im Hinblick auf enthaltene personenbezogene Daten und tangierte Staatswohlbelange", stehe man "im Austausch mit den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden". Nähere Angaben wollte ein Sprecher dazu nicht machen.
Zunächst gab es keine offizielle Bestätigung für die Echtheit der Dokumente vom hessischen Innenministerium oder Verfassungsschutz. Nach Einschätzung der hessischen Linken entsprechen sie offenkundig dem Original. "Sie scheinen vollständig und inhaltsgleich transkribiert worden zu sein", sagte der innenpolitische Sprecher der Linken im hessischen Landtag, Torsten Felstehausen. Man habe die Texte nebeneinander gelegt und verglichen. Die Abgeordneten hätten im Untersuchungsausschuss Zugang zu den Originalakten gehabt.
Die Linksfraktion in Wiesbaden begrüßte die Veröffentlichung. Dies hätten Opferfamilien seit langer Zeit gefordert, sagte Felstehausen. "Endlich kann die Öffentlichkeit sich ein eigenes Bild davon machen, wie der sogenannte Verfassungsschutz über Jahre mit Hinweisen auf rechten Terror umgegangen ist." Nach Aussage der Linken wirft der Bericht "ein verheerendes Bild auf die Arbeit des Landesamts für Verfassungsschutz". Die Verfassungsschützer seien Hunderten Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz bei Neonazis nicht nachgegangen, sagte Felstehausen. Der Verfassungsschutz gehöre abgeschafft. Die Bundeschefin der Linken, Janine Wissler, sagte auf einem Landesparteitag im hessischen Dietzenbach zu der Veröffentlichung durch Böhmermann: "Dafür haben wir Jahre gekämpft." Sie warf der hessischen Landesregierung Geheimhaltung statt Aufklärung vor. Eher zurückhaltend reagierten die anderen Fraktionen im hessischen Landtag.
Die SPD-Fraktion sagte, sie wolle zunächst nichts dazu sagen. Die Grünen im Landtag teilten mit: "Wir schauen uns den Vorgang sehr genau an und werden ihn zu gegebener Zeit bewerten." Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion im hessischen Landtag, Holger Bellino, warf Böhmermann vor, die Pressefreiheit überschritten zu haben. "Es ist nicht auszuschließen, dass Extremisten durch die Verknüpfung dieser Informationen aus anderen Dokumenten Rückschlüsse auf Arbeitsweise und Informanten der Sicherheitsbehörden ziehen können." Dadurch könnten "Menschenleben gefährdet und die Arbeit der Sicherheitsbehörden nachhaltig erschwert werden".
Linksfraktion will NSU-Akten an Archiv übergeben
Die Linke-Fraktion im Thüringer Landtag forderte, den Geheimdiensten müssten die vorliegenden Akten zur rechtsextremen Terrorgruppe NSU entzogen werden. Es sei notwendig, die Akten, die zur Aufklärung des NSU-Komplexes beitragen könnten, einem Archiv zu übergeben, um die Aufarbeitung voranzutreiben, erklärte die Abgeordnete Katharina König-Preuss. Die hessischen Dokumente enthielten zudem eine Vielzahl von Informationen zu Thüringer Neonazis, sagte sie.
Der "Nationalsozialistische Untergrund" hatte über Jahre unerkannt mordend durch Deutschland ziehen können. Die Opfer der Rechtsterroristen waren neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin. Die sogenannten NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes sind Ergebnis einer Prüfung, bei der die Behörde eigene Akten und Dokumente zum Rechtsextremismus auf mögliche Bezüge zum NSU geprüft hatte. Um sie gibt es seit Jahren Streit.
Die Akten waren zunächst für 120 Jahre als geheim eingestuft worden, später wurde die Zeit auf 30 Jahre verringert. Mehr als 130.000 Personen hatten in einer Petition die Veröffentlichung gefordert. Hessens Innenminister Peter Beuth hatte im Mai 2021 die Entscheidung verteidigt, die Akten nicht zu veröffentlichen. "Für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden ist es immanent, dass sie ihre Arbeitsweise nicht für jeden offenlegen können", sagte er damals im Landtag in Wiesbaden. "Ansonsten könnten die Verfassungsfeinde selbst diese Informationen nutzen, um unsere gemeinsamen Werte zu bekämpfen oder Menschen gezielt zu gefährden."
Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Irene Mihalic sagte dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland": "Die veröffentlichten Akten ergeben leider keinen neuen Sachstand zu den Hintergründen der Verbrechen des NSU." Umso wichtiger sei es, "das Versprechen der rückhaltlosen Aufklärung des NSU-Komplexes endlich einzulösen".
Mihalic sieht die Glaubwürdigkeit der zuständigen Behörden in Gefahr. "Die Glaubwürdigkeit der beteiligten Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern hängt maßgeblich davon ab, ob sie nach all den Jahren und nach den Aufklärungsbemühungen zahlreicher Untersuchungsausschüsse endlich die Gesamtzusammenhänge erklären können", sagte die Grünen-Politikerin. "Rechter Terror wirkt bis heute fort und die nicht gezogenen Lehren aus dem NSU-Desaster sind ein schwerer Hemmschuh für dessen Bekämpfung."
(Dieser Artikel wurde am Samstag, 29. Oktober 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, als/dpa/AFP