Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Kursk-Offensive ist ein Hochrisikospiel der Ukraine"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Ukrainischer Panzer bei Kupjansk: Im Donbass führen die Ukrainer seit Wochen Rückzugsgefechte.

Ukrainischer Panzer bei Kupjansk: Im Donbass führen die Ukrainer seit Wochen Rückzugsgefechte.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Die Ukraine wolle die eroberten Gebiete im russischen Kursk weiter ausdehnen, müsse sich zugleich aber auf einen Gegenangriff vorbereiten, sagt Oberst Reisner bei ntv.de. Indes gehe der russische Vormarsch im Donbass unvermindert weiter. Reisner sieht die Ukraine an einem gefährlichen Scheidepunkt angekommen.

ntv.de: Die Ukraine kontrolliert weiterhin ein beträchtliches Gebiet in der russischen Region Kursk. Können ihre Truppen dort möglicherweise sogar noch weiter vorrücken?

Markus Reisner: Die Ukraine hat bis zu 6000 Soldaten auf russischem Territorium im Einsatz. Diesen Soldaten ist nach Angaben des ukrainischen Generalstabs gelungen, bis zu 80 Ortschaften einzunehmen und circa 1000 Quadratkilometer unter Kontrolle zu bringen. Die Ukraine versucht jetzt, diesen gewonnenen Raum zu halten und zum Teil auszudehnen. Sie geht dabei von der Offensive zur Defensive über. Sie bereitet sich auf mögliche russische Gegenangriffe vor. Zugleich wird versucht, das eroberte Gebiet nach Westen hin auszudehnen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Woran machen Sie das fest?

Der Fluss Sejm durchläuft das Gebiet des ukrainischen Vorstoßes. Die Ukraine hat dort nachweislich zwei Brücken zerstört und eine weitere beschädigt. Warum? Erstens, weil sich dieser Fluss als mögliche Verteidigungslinie gegenüber den russischen Angriffen anbietet. Zweitens, weil die Ukraine es schaffen könnte, noch zusätzliches Gebiet entlang des Sejm in den Besitz zu nehmen. Ferner versucht die ukrainische Armee, ihre Nachschub- und Versorgungslinien offenzuhalten. Eine Herausforderung ist, dass die Ukrainer bei der Vorbereitung auf die russischen Gegenangriffe kaum schweres Pioniergerät zur Verfügung haben.

Was meinen Sie mit schwerem Pioniergerät?

Das ist jenes Gerät, das man braucht, um zum Beispiel Panzergräben anzulegen, um Schützengräben auszuheben, um Bunker tatsächlich so zu bauen, dass sie gegen Beschuss durch Artillerie oder Bomben widerstandsfähig sind. Die Ukrainer verfügen in Kursk momentan nur über das Gerät zur Eroberung des Gebietes, nicht über das, was man zur dessen Verteidigung braucht.

Sie deuteten eine weitere Herausforderung an …

Die betrifft die Luftüberlegenheit der Russen. Durch die ständigen Angriffe aus der Luft haben die Ukrainer nicht die Möglichkeiten, sich tatsächlich tief und nachhaltig einzugraben. Das aber wird entscheidend dafür sein, ob die Ukraine diesen Abschnitt über längere Zeit halten kann.

Die Ukrainer bereiten sich darauf vor, aber begonnen hat er noch nicht: Warum tut sich Russland so schwer damit, einen Gegenschlag in Kursk zu starten?

Das ist die große Blamage der Russen aus meiner Sicht. Russland hatte kaum Kräfte in der Region. Das dortige 488. Motorisierte Schützenregiment bestand vor allem aus Wehrpflichtigen. Diese Einheiten haben die Ukrainer nach dem Grundsatz von Überraschung und Täuschung überrannt. Das zeigt sich sowohl an der hohen Zahl an russischen Gefangenen als auch an den nur wenigen Aufnahmen zerstörten schweren Geräts. Die Russen hatten offensichtlich kaum etwas stationiert. Jetzt brauchen sie Zeit, ihre Reserven heranzuführen und zum Einsatz zu bringen. Die bereits herangeführten Kräfte schaffen es jedoch mittlerweile, die Ukraine daran zu hindern, weiter vorzustoßen. Aber die Kräfte sind noch bei Weitem nicht so ausgeprägt, dass sie in der Lage sind, einen großen Gegenangriff durchzuführen. Bei 5000 bis 6000 ukrainischen Soldaten braucht Russland mindestens 20.000 bis 25.000 Soldaten für einen Gegenangriff. Im Allgemeinen verfügt Russland aber über Kräfte in diesem Umfang.

Bedient sich die russische Armee hierfür auch bei den Truppen im Donbass? Schließlich war das eine ukrainische Hoffnung: dass der Angriff auf Kursk Entlastung im Donbass schafft.

Das war, strategisch betrachtet, das mittelfristige Ziel der Ukraine. Kurzfristig ging es darum, wieder positive Schlagzeilen zu produzieren, vom Vorrücken der Russen im Donbass abzulenken und die Moral der eigenen Truppen zu stärken. Das ist eindeutig gelungen. Dass das mittelfristige Ziel gelingt, eine Verschiebung der russischen Truppen aus dem Donbass nach Kursk, ist nicht zu erkennen. Hier gibt es keine messbaren Erfolge.

Woran könnte man diese messen?

Am Kampfgeschehen im Donbass, wo die Russen nach wie vor angreifen. Der ukrainische General Oleksandr Syrskyj hat hierzu vor Kurzem auch Zahlen genannt. Die Russen marschieren demnach im Donbass am Tag circa 4,8 Kilometer vor. Die Russen verlegen bisher keine nennenswerten Kräfte vom Donbass nach Kursk.

Was sind die langfristigen Ziele der Kursk-Offensive?

Die Ukraine will vor möglichen Verhandlungen mit Russland die eigene Position auf dem Schlachtfeld verbessern. Es wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen, ob das tatsächlich gelungen ist. Dafür müsste die Ukraine den eroberten Raum entsprechend lange halten. Interessant ist hierzu ein Bericht der "Washington Post" vom Wochenende: Demnach waren von Katar vermittelte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine geplant. Diese soll die russische Seite nach der Kursk-Offensive erst einmal abgesagt haben.

Wenn der ukrainische Erfolg vor allem der fehlenden Kampferfahrung der in Kursk stationierten Russen geschuldet ist, muss Russland dann nicht Donbass-Truppen heranziehen?

Jene Kräfte, die Russland jetzt heranführt, bestehen entweder aus Soldaten, die am Ende ihrer Wehrpflicht ihre Dienstzeit verlängert haben, oder aus kampferfahrenen Soldaten. Den taktischen Kennungen der Fahrzeuge nach wurden in einer ersten Maßnahme Kräfte aus dem Raum nördlich von Charkiw in Richtung Kursk verlegt.

Es ist demnach zumindest gelungen, den Druck auf Charkiw zu verringern? Wir haben noch vor wenigen Wochen diskutiert, ob möglicherweise sogar diese zweitgrößte Stadt der Ukraine fallen könnte.

Richtig. Als sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gestern erstmals zur Kursk-Invasion geäußert hatte, nannte er das Ziel, eine Pufferzone einzurichten. Anders als im Donbass ist die Front bei Charkiw faktisch erstarrt. Und es wurden ja nicht nur russische Bodentruppen von Charkiw nach Kursk verlegt, sondern auch der Einsatz russischer Gleitbomben in und um Charkiw hat nachgelassen, weil die Kampfflugzeuge nun in Kursk im Einsatz sind.

Russland beschießt die ukrainischen Truppen in Kursk auch mit Gleitbomben. Ist das ein Hinweis darauf, dass der Kreml den Krieg auf eigenem Boden genauso rücksichtslos zu führen bereit ist wie in den besetzten Gebieten?

Davon können Sie ausgehen. Natürlich hat der Name Kursk historische Bedeutung im Zusammenhang mit der Kursker Offensive 1943 im Großen Vaterländischen Krieg, wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen. Dann gibt es noch das Atomkraftwerk Kursk. Darüber hinaus spielt der Kursker Raum eine untergeordnete Rolle für Russland. Die meisten Ortschaften wurden evakuiert. Jetzt wird Moskau versuchen, die Blamage wieder wettzumachen, indem man das Gebiet um jeden Preis zurückerobert.

Das Atomkraftwerk in Kursk wäre ein attraktives Faustpfand für die Ukraine, um im Gegenzug wieder die Kontrolle über das AKW im ukrainischen Saporischschja zu erlangen. Versuchen die Ukrainer in diese Richtung vorzustoßen?

Zumindest halte ich diese Absicht für realistisch. Man erkennt das auch, wenn man sich den Einbruchsraum ansieht, dass es grob Richtung Norden ging. Momentan sieht es aber nicht danach aus. Die Distanz nach Kursk zum Atomkraftwerk ist zu groß und der Überraschungseffekt ist nicht mehr gegeben. Die Vorstöße Richtung Norden und Osten sind wegen der russischen Luftüberlegenheit zum Erliegen gekommen. Die Russen haben das Gefechtsfeld mit ihren Aufklärungsdrohnen gesättigt und können die ukrainischen Soldaten, die ja mit ihrem schweren Gerät auf den Straßen fahren müssen, erkennen und entsprechend mit Artillerie und Kampfflugzeugen bekämpfen.

Sie haben die Lufthoheit angesprochen. Ist eigentlich schon beobachtbar, dass die F16-Kampfjets, die der Ukraine vom Westen zur Verfügung gestellt worden sind, zum Einsatz kommen? Möglicherweise auch über russischem Territorium?

Ihre Bodenoffensive müsste die Ukraine in der Luft abstimmen. Hierfür würde sich natürlich die F-16 eignen. Die russischen Luftabwehrsysteme in russischem und ukrainischem Territorium erlauben es der Ukraine aber nur, Zitat General Sysrskyj, die F-16 auf nicht weniger als 40 Kilometer an die Front heranzuführen. Diese Gefahr für ukrainische Kampfjets erklärt auch die Angriffe mit weitreichenden Boden-Boden-Waffen aus westlicher Lieferung auf russische Flugabwehrsysteme. Es gibt aber einige interessante Videoaufnahmen von Zerstörungen, die auf den Einsatz von Hochpräzisionswaffen hinweisen - etwa bei den zerstörten Sejm-Brücken. Diese Waffensysteme könnten von Su-24 und Mig-29 aus sowjetischer Produktion getragen worden sein oder auch von F-16. Tatsächlich im Einsatz sehen wir die F-16 aber noch nicht. Sollte das der Fall sein, würden auch schnell Aufnahmen davon kursieren.

Sie haben gesagt, der russische Vormarsch im Donbass geht unvermindert weiter. Welche Bewegungen hat es dort in den vergangenen Tagen gegeben?

Im Donbass greifen die Russen unverändert vor allem aus fünf Stoßrichtungen an. Das ist südlich von Kupjanks, bei Pishchane, dann bei Toretsk im Raum von Niu York, bei Tschassiw Yar, wo die Russen den Siwerski-Donbass-Kanal überschritten haben. Hinzukommen die Vorstöße bei Oscheretyne und bei Vuhledar. Damit nähern sich die Russen der dritten ukrainischen Verteidigungslinie. Die erste Linie lehnte sich an die 2014 von den Separatisten eroberten Gebiete an und ist an mehreren Stellen durchbrochen. In der zweiten Linie wird gekämpft und die Russen sind dabei, diese zu durchstoßen. Die dritte Linie ist ausgedünnt. Dort befindet sich aber mit Pokrovsk eine wichtige Festung und ein wichtiger Logistikknotenpunkt.

Und was folgt danach?

Danach folgt weites, offenes und flaches Land. Dort müsste die Ukraine jetzt weitere Verteidigungsstellungen bauen. Dazu fehlen die Zeit und die Ressourcen. Und genau deshalb versuchen die Russen mit aller Vehemenz, aus dieser zweiten Verteidigungslinie herauszutreten und Richtung dritte vorzustoßen. Wir sehen also: Für die ukrainische Seite ist die Gesamtsituation trotz der Offensive in Kursk unverändert nachteilig.

Das heißt, die Offensive lenkt von einer potenziell katastrophalen militärischen Lage der Ukraine ab?

Völlig richtig. Ein Auslöser für die geplanten Gespräche in Katar war Kiews Energiesituation. Nach mehr als 900 Tagen Krieg mit russischen Luftangriffen gegen die kritische Infrastruktur stehen der Ukraine nach Schätzungen nur noch 9 von 18 Gigawatt Energiebedarf für den kommenden Winter zur Verfügung. Das Land blickt einem extrem schwierigen Winter entgegen. Zugleich ist der dringend benötigte militärisch-industrielle Komplex der Ukraine signifikant in seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Die Ukraine setzt jetzt darauf, mit Kursk dauerhaft eine bedeutsame Tauschmasse in den Händen zu halten und auch den Krieg nach Russland zu tragen.

Und wenn das nicht gelingt?

Die Kursk-Offensive ist ein Hochrisikospiel der Ukraine. Sie muss mit vorher schon knappen Ressourcen jetzt drei Fronten bewirtschaften. Wenn der Effekt der Kursk-Invasion verpuffen sollte, wurden kostbare Reserven verbraucht, die man eigentlich im Donbass gebraucht hätte, wo Russland ungebremst voranmarschiert. Dann könnte sich die kurzfristige Anhebung der Kampfmoral ins Gegenteil verkehren.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen