
Am Montag vergangener Woche zog die Polizei Hundertschaften in Zwönitz zusammen und sperrte den Marktplatz ab - auch weil Linke Gegendemonstrationen angemeldet hatten.
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Die Rückkehr scharfer Corona-Maßnahmen verleiht den Corona-Protesten im Süden Sachsens neuen Schwung. Dass Organisation und Informationen zu einem guten Teil auf Rechtsradikale zurückgehen, schreckt weite Teile der Gesellschaft nicht ab. Die Polizei gerät in eine komplizierte Lage.
Am heutigen Montagabend hat der sächsische Verfassungsschutz mal wieder einen Termin im 7000-Einwohner-Städtchen Zwönitz im Erzgebirge. Wenn dort erneut die Kritiker der Corona-Maßnahmen zu einer ihrer unangemeldeten Demonstrationen zusammenkommen, in bewährter Manier als "Spaziergänge" getarnt, werden wahrscheinlich wieder Rechtsextremisten mitlaufen. So steht es in den monatlichen Verfassungsschutzberichten und auch in dem kleinen Ort im Erzgebirge dürfte dieser Umstand bekannt sein. Es ist den Teilnehmern aber egal: Die Allianz gegen eine drohende Impfpflicht und gegen Auflagen zur Eindämmung der Pandemie kennt kaum rote Linien. Den "Feind" wähnen die Demonstranten anderswo, beim als "Verräter" geschmähten sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer oder bei der als "Kretschmers Schergen" titulierten Polizei.
In Sachsen ist in den Pandemie-Monaten etwas gewaltig gekippt: In dem Bundesland mit der niedrigsten Impfrate und der mit dramatischsten Corona-Lage haben sich in den vergangenen eineinhalb Jahren viele Menschen von den Institutionen der gesellschaftlichen Mitte entfernt: von den Politikern der gemäßigten Parteien, von den professionell arbeitenden Medien, ja sogar von der Mehrheit der Ärzte und Wissenschaftler.
"Freie Sachsen" schlagen harschen Ton an
Nirgendwo ist diese Abwendung so ausgeprägt wie im Erzgebirgskreis und im Landkreis Bautzen, wo nur 45 beziehungsweise 47 Prozent der Menschen vollständig geimpft sind. Zusammengenommen sind das mehr als 300.000 Ungeimpfte in zwei Kreisen, von denen sich viele Menschen an Corona-Demos, Spaziergängen und anderen Protestformen beteiligen - überzeugt davon, sich gegen eine Art einsetzender Diktatur zur Wehr setzen zu müssen. Wer da aber ihren Protest organisiert, wer all die Facebook-Gruppen, Telegram-Chats und Youtube-Kanäle mit verstörenden Inhalten und kämpferischen Aufrufen flutet, scheint kaum jemand zu hinterfragen.
Dabei sind viele Akteure in diesen alternativen Medien schon lange vor Corona politisch aktiv gewesen, und zwar in der rechtsextremen Szene oder zumindest in der rechtsradikalen AfD und deren Umfeld. Zu diesen gehört der Chemnitzer Stadtrat Martin Kohlmann, Vorsitzender der im Februar 2021 gegründeten Sammlungsbewegung "Freie Sachsen", die "freiheitliche und patriotische" Initiativen und Gruppierungen zusammenbringen will. Mehr als 85.000 Mitglieder hat allein deren Hauptkanal auf Telegram, in dem Meldungen kursieren, wonach in Sachsen "Milizen" unbescholtene Bürger "schikanieren" würden. Gemeint ist die Durchsetzung der Corona-Auflagen durch die Polizei.
Auf ihrer Website vertreiben die Freien Sachsen Aufkleber mit dem Aufruf "Kretschmer verhaften". Die Untergruppe der "Freien Erzgebirger" wirbt bei VW-Mitarbeitern in Zwickau dafür, Vertreter der Gruppierung in den Betriebsrat zu wählen. Es geht um weit mehr als die Pandemie: Diejenigen, die die Bundesrepublik schon immer abgelehnt haben, nutzen die Skepsis gegenüber der Corona-Politik, um weite Kreise für größere Ziele zu unterwandern. Kohlmann zum Beispiel wird im Jahresbericht des sächsischen Verfassungsschutzes als "Neonationalsozialist", langjähriger Szeneaktivist und Unterstützer der Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck eingestuft.
Südlich von Dresden ist Corona-Skepsis Mainstream
"Indem sie die teilweise vorhandene Auffassung aufgriff, die getroffenen Schutzmaßnahmen seien unverhältnismäßig und dienten allein einer Einschränkung der Grundrechte, ging es der rechtsextremistischen Szene nicht um sachliche Kritik, sondern allein darum, das staatliche Handeln in seiner Gesamtheit zu delegitimieren", beobachtete der Verfassungsschutz schon im vergangenen Jahr. Dieser Trend hat sich seither fortgesetzt. Bei den sogenannten B96-Protesten, bei denen sich jeden Sonntagvormittag Menschen zu "Spaziergängen" entlang der gleichnamigen Bundesstraße zwischen Sassnitz und Zittau versammeln, sind Reichsflaggen und "Reichsbürger"-Symbole üblich, sie schrecken aber die Durchschnittsbürger nicht von einer Teilnahme ab. Nicht alle Sachsen, aber ein erstaunlich hoher Anteil von ihnen hat eine offenbar ganz andere Vorstellung davon, was normal ist und was nicht, als die gesamtdeutsche Mehrheitsgesellschaft
Von Plauen über Zwickau und Chemnitz bis nach Pirna, Bautzen und Görlitz - also überall südlich von Dresden - zeigt sich breiter, Alter und Einkommen übergreifender Protest, der durch die kommende einrichtungsbezogene Impfpflicht und die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht zuletzt nochmals Auftrieb erhielt. Zusätzlich zu den gewohnten vielen kleinen Demos am Sonntagvormittag und am Montagabend stellte die Polizeidirektion Chemnitz am Samstagabend unangemeldete Protestaktionen in Chemnitz, Freiberg, Aue, Schneeberg, Zschorlau, Zwönitz und Zschopau fest. Weitere Ansammlungen in kleineren Orten werden in der Pressemitteilung gar nicht erst einzeln aufgeführt. Eine Auflösung der Zusammenkünfte, Ermittlungen oder gar Personenfeststellungen vermeldete die Polizei dagegen nicht.
AfD-Bundestagsabgeordneter bei unangemeldeter "Demonstration"
In Zschopau kamen die Menschen, einem auch von den "Freien Sachsen" verbreiteten Aufruf folgend, vor dem Klinikum Mittleres Erzgebirge zusammen, um gegen die Impfpflicht zu demonstrieren. Der im Erzgebirge mit 32 Prozent der Stimmen direkt gewählte AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Dietz war unter den Teilnehmern und zeigte sich in einem Facebook-Post ganz gerührt wegen der vielen Teilnehmer der "Demonstration", obwohl offiziell keine angemeldet war. Dietz verlinkt hierzu einen Videobericht von Michael Michel Wittwer, der wie Kohlmann beim rechtsextremen Bündnis "Pro Chemnitz" aktiv ist und nun auch bei den "Freien Sachsen". In dem Bundesland sind die personellen Überschneidungen rechtsextremer Kader, nationalistischer Aktivisten und AfD-Politiker bekanntermaßen eng.
Wittwer spricht in seinem Video von 200 Teilnehmern. Die Chemnitzer Polizeidirektion meldete am Sonntag, ihren Streifenpolizisten seien in Zschopau 40 Menschen mit Kerzen vor der Klinik aufgefallen. Die Aufnahmen sprechen eher für Wittwers Zahlen. Auf Nachfrage von ntv.de, warum die unangemeldete Versammlung nicht aufgelöst und auch sonst keine Maßnahmen eingeleitet wurden, verwies die Polizeidirektion Chemnitz auf den fehlenden Versammlungscharakter. Die Menschen seien den aktuellen Regelungen folgend in Kleinstgruppen aufgetreten. Das sieht in Wittwers Video anders aus.
Die sächsische Polizei tut sich erkennbar schwer im Umgang mit den meist friedlichen und überwiegend bürgerlich auftretenden Gesetzesdehnern. Erst recht auf dem Land, wo man einander kennt und die Landeshauptstadt mit ihrer Corona-Politik mehr als nur eineinhalb Fahrstunden entfernt liegt.
Was ist schon Versammlung, was nicht?
Gleiches ist auch in der Erzgebirgsstadt Zwönitz zu beobachten: Der CDU-Bürgermeister Wolfgang Triebert bezeichnete am Donnerstag "immer mehr Unmut" über die "auch für mich kaum mehr nachvollziehbaren Regierungsentscheidungen" als "erwartbar". Dennoch bat er die Zwönitzer, bis zum Neujahr von "demonstrativen Spaziergängen" abzusehen, damit der Weihnachtsfriede nicht durch erneute Polizeieinsätze gestört werde. Eine Distanzierung sieht anders aus. Zwönitz' Stadtrat hatte noch versucht, das Weihnachtsmarktverbot mit einem langen Einkaufssamstag zu umgehen, bei dem Verkaufsstände "adventstypische Speisen und Getränke" anbieten sollten.
Dass auch diese Aktion am selben Morgen - mutmaßlich auf Weisung der Landesregierung - abgesagt wurde, führte am Samstag Einträgen in den sozialen Medien zufolge zu neuem Frust bei den örtlichen Corona-Skeptikern. "Gegen 18 Uhr wurden circa 60 Personen festgestellt, die sich vereinzelt oder in Kleinstgruppen im Bereich des Marktes von Zwönitz aufhielten", teilte die Polizei am Sonntag mit und stellte fest: "Hinweise auf eine Versammlung waren nicht erkennbar." Auf Nachfrage von ntv.de erläuterte ein Polizeisprecher, ein Versammlungscharakter sei nicht gegeben gewesen. Die "Zusammenkunft" habe mit den an Freitagen und Montagen stattfindenden Spaziergängen "nichts zu tun" gehabt. Am Montagabend wird die Polizei wieder kommen und versuchen, "Spaziergänge" zu unterbinden - wenn sie denn welche feststellt.
Quelle: ntv.de