Politik

Hohe Terrorgefahr in Deutschland "Sind bei IS-Bedrohung maximal abhängig von den USA"

Auch in Deutschland müsse das Sicherheitskonzept bei Großveranstaltungen künftig an die gewachsene Bedrohungslage durch Islamisten angepasst werden, sagt Steinberg.

Auch in Deutschland müsse das Sicherheitskonzept bei Großveranstaltungen künftig an die gewachsene Bedrohungslage durch Islamisten angepasst werden, sagt Steinberg.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die Anschlagspläne auf ein Taylor-Swift-Konzert in Wien verdeutlichen, dass die Gefahr durch den IS in Europa keineswegs gebannt ist. Vor allem der IS Afghanistan nehme westeuropäische Länder wie Deutschland verstärkt in den Blick, erklärt der Terrorismus- und Islamismusforscher Guido Steinberg im Gespräch mit ntv.de. Der Schutz auf Großveranstaltungen müsse daher auch hierzulande deutlich verstärkt werden. "Sonst ist die Sicherheit auf solchen Events nicht mehr garantiert", sagt der Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Auf lange Sicht brauche es ein komplettes Umdenken in der Sicherheitspolitik.

ntv.de: Für rund 170.000 Fans bedeutet die Absage der drei Taylor-Swift-Konzerte in Wien eine enorme Enttäuschung, für den Veranstalter selbst hohe finanzielle Einbußen. Trotzdem habe er aufgrund der Terrorgefahr "keine andere Wahl" gehabt, hieß es. Wie konkret war die Bedrohungslage in Wien?

Guido Steinberg: Mir scheint die Bezeichnung "abstrakte Terrorgefahr", von der die Sicherheitsbehörden sprechen, stark beschönigend. Den Berichten zufolge hat es bereits eine Anschlagszelle gegeben, das Ziel war festgelegt, die Tatmittel wurden vorbereitet und ein Video mit einem Gefolgschaftseid auf den IS gedreht. Diese Informationen sprechen dafür, dass die Gefahr nicht nur abstrakt, sondern sehr konkret war. Ich kann daher nachvollziehen, dass der Veranstalter die Konzerte abgesagt hat.

Schon wieder lag der Fokus von islamistischen Anschlagsplänen auf Konzerten. Das weckt Erinnerungen an die Anschläge auf die Bataclan-Halle in Paris 2015, beim Ariana-Grande-Konzert in Manchester 2017 oder zuletzt auch bei einem Konzert in Moskau. Was macht ausgerechnet Konzerte für Islamisten so interessant?

Das ist eine Kombination aus zwei Faktoren. Zum einen handelt es sich um Veranstaltungen, die den militanten Islamisten ein besonders großer Dorn im Auge sind: halbnackte Frauen auf der Bühne und viele junge Menschen, die feiern und Musik hören. In der Welt der Islamisten gehören diese Dinge verboten, sie sind ein Symbol für die kulturelle Verderbtheit des Westens. Zum anderen kann auf diesen Veranstaltungen eine verhältnismäßig große Zahl von wehrlosen Zivilisten getötet oder verletzt werden. Die Islamisten haben aus vergangenen Anschlägen gelernt. Sie wissen, dass sie mit solchen Attentaten besonders viel Aufmerksamkeit erregen und das ist in ihrer Welt ein besonders großer Erfolg.

Das klingt, als müsste sich Westeuropa auf mehr Anschläge beziehungsweise Anschlagspläne auf Großveranstaltungen wie Konzerten einstellen.

Eins muss man klar sagen: In Deutschland hat sich die Sicherheitslage im Bereich Terrorismus in den vergangenen zehn Jahren insgesamt dramatisch verschlechtert. Zudem bemerken wir in den vergangenen ein bis zwei Jahren, dass die Zahl der ernsthaften, also konkreten, Terrorpläne und der Anschläge durch Einzeltäter deutlich zugenommen hat. Und wir wissen nun einmal, dass Großveranstaltungen wie Konzerte oder Weihnachtsmärkte bevorzugte Ziele der Islamisten sind.

Was bedeutet das konkret? Könnte es künftig häufiger zu Einschränkungen wie Konzertabsagen kommen?

Natürlich wird es weiterhin Großveranstaltungen geben. Es wird sich auch keiner sein Fußballspiel verbieten lassen. Allerdings werden die Regierungen auf die wachsende Bedrohung reagieren müssen, unter anderem mit mehr Personal und mehr Befugnissen für Sicherheitskräfte. Das wird man auch bei Großveranstaltungen zu spüren bekommen. Die Maßnahmen, die ohnehin schon hoch sind, werden noch einmal hochgefahren werden müssen. Sonst ist die Sicherheit bei solchen Events nicht mehr garantiert. Deshalb hat es auch vor der Fußball-Europameisterschaft hierzulande und vor Olympia in Frankreich Diskussionen über die Terrorgefahr und Sicherheitsmaßnahmen gegeben.

Tatsächlich hat der "Islamische Staat" seine Anhänger hierzulande vor der Europameisterschaft zu Anschlägen aufgerufen. Die Sicherheitsbehörden waren alarmiert und stuften die Anschlagsgefahr als hoch ein. Trotzdem wurde im Unterschied zu Wien keines der Spiele abgesagt.

Der wesentliche Unterschied ist, dass wir es jetzt mit einer Anschlagszelle zu tun haben: Mindestens drei junge Leute, die deutliche Signale geliefert haben, dass sie in ihrer Anschlagsplanung sehr weit fortgeschritten sind. Ein junger Mann hat ein Video aufgenommen, in dem er Gefolgschaft schwört. Im Gegensatz zu Wien war die Gefahr bei der EM abstrakt. So ist es - zumindest bisher - auch bei Olympia in Paris. Wobei es allerdings keinen Unterschied gibt, ist die Bedrohung durch die Organisation IS an sich. Im Gegenteil: Vor allem der IS in Afghanistan ist in den vergangenen Jahren stärker geworden, der Fokus auf Deutschland und Europa hat zugenommen.

Das betonte jüngst auch Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang. Demnach ist die Terrorgefahr durch Islamisten hierzulande deutlich höher als in den vergangenen Jahren. Woher kommt diese Entwicklung?

Mit dem Erstarken des IS in Afghanistan versucht er auch, international mehr Anschläge zu verüben. Hinzu kommen deutlich mehr Leute hierzulande, die darüber nachdenken oder sogar bereit sind, Anschläge für die Organisation zu verüben. Dabei hat sich ein gewisses soziales Profil herauskristallisiert: Es sind viele russischsprachige Attentäter dabei, oft aus Zentralasien oder dem Kaukasus. Das trifft zum Beispiel auf den geplanten Terroranschlag auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien zu, da waren die potenziellen Attentäter Tadschiken. Gerade bei diesem sozialen Profil handelt es sich vor allem um ein importiertes Phänomen, viele dieser Menschen kamen mit dem Flüchtlingsstrom 2014 bis 2016 und ab 2022 nach Deutschland und Österreich. Sie kommen teilweise aus Bürgerkriegskriegsländern, in denen viele militante Islamisten am Werk waren oder immer noch sind.

Der 19-jährige Islamist, der den Anschlag auf das Taylor-Swift-Konzert plante, hatte hingegen nordmazedonische Wurzeln.

Ebenso wie der islamistische Attentäter, der im November 2020 in der Wiener Innenstadt vier Menschen tötete und weitere verletzte. Tatsächlich ist dieses soziale Profil in der islamistischen Szene immer verbreiteter - auch in Deutschland. Deswegen müssen wir auch genau hinschauen, was da gerade in Österreich passiert. Allerdings ist dieses Phänomen nicht ganz so leicht zu erklären. Im Gegensatz zu den eben beschriebenen Islamisten aus Zentralasien und dem Kaukasus sind die ethnischen Albaner oft hier geboren und werden in einem besonders jungen Alter zu Terroristen.

Wie kann die wachsende Bedrohung durch den IS eingedämmt und die Einschränkungen für die Gesellschaft möglichst klein gehalten werden?

Die Bundesregierung und auch die Länder fangen an, langsam auf die veränderte Sicherheitslage zu reagieren. Allerdings stehen wir erst am Anfang eines Prozesses, in dessen Verlauf viele Dinge verändert werden müssen. Es gibt allerdings ein besonders großes und drängendes Problem: Wir sind bei der IS-Bedrohung maximal abhängig von den USA. Das beste Beispiel ist der aktuelle Fall aus Wien. Da hieß es von den Sicherheitsbehörden, der erste Hinweis auf den potenziellen Attentäter sei aus dem Ausland gekommen. Das ist ein Code für: Die USA haben uns informiert. Dieses Phänomen gilt auch für Deutschland. Erste Informationen über Anschlagspläne kommen fast immer aus den USA, manchmal aus Großbritannien und hin und wieder aus Israel. Deutschland und Europa insgesamt sollten sich schnellstmöglich überlegen, ob sie nicht lieber selbst solche Fähigkeiten entwickeln können.

Warum?

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Aus zwei Gründen. Erstens ist diese amerikanische Unterstützung kein Naturgesetz. Möglicherweise gibt es einmal eine Regierung in den USA, die weniger transatlantisch gesinnt ist und diese Hilfe reduziert oder an Bedingungen knüpft. Zweitens gab es bereits eine Phase, in der die USA Probleme hatten, die Kommunikation des IS zu überwachen. Das waren die Jahre 2014 bis 2016. Das Ergebnis war eine katastrophale Anschlagswelle, zunächst in Belgien und Frankreich mit den Attentaten und schließlich auch hier in Deutschland im Jahr 2016 auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin. Deutschland muss sich daher überlegen, eigene Kompetenzen auf diesem Gebiet zu entwickeln und die Kompetenzen der Behörden entsprechend auszuweiten, etwa eine stark ausgeweitete Kommunikationsüberwachung möglich zu machen. Man darf sich allerdings nicht täuschen: Das ist sehr teuer, sehr anspruchsvoll und würde einen Kulturwandel in der deutschen Sicherheitspolitik voraussetzen.

Mit Guido Steinberg sprach Sarah Platz

Quelle: ntv.de

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