Politik

Reisners Blick auf die Front "Europa steht jetzt ohne Hose da"

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Europa habe auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Spiegel vorgehalten bekommen, sagt Oberst Reisner.

Europa habe auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Spiegel vorgehalten bekommen, sagt Oberst Reisner.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Russlands Machthaber Putin darf sich in der Aufmerksamkeit von US-Präsident Trump sonnen, die Europäer stehen derweil im Schatten - und vor großen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Oberst Markus Reisner erklärt im Interview mit ntv.de, wie diese Lage Europa unter Zeitdruck setzt und warum Moskau keine Eile hat.

ntv.de: Herr Reisner, auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat US-Vizepräsident J.D. Vance gesagt, der russische Präsident Wladimir Putin müsse mit militärischen Mitteln rechnen. Ist das mehr als eine Drohgebärde für den Verhandlungstisch in Saudi-Arabien? Nimmt Putin das ernst?

Markus Reisner: Der Punkt hier ist, dass diese Drohung momentan völlig untergeht. US-Präsident Donald Trump hat Putin wieder auf die Weltbühne zurückgeholt, und zwar mit drei Aussagen: Erstens hat er gesagt, Putin ist ein Konkurrent und Gegner in Europa. Das heißt, er erkennt faktisch an, dass Russland überregionale Interessen hat. Zweitens hat er ihn als "World Leader" bezeichnet. Das heißt, er betrachtet ihn auf Augenhöhe. Drittens hat er gesagt: Frieden kann man nur durch Macht schaffen. Damit spricht er Russland Macht zu und revidiert die Aussage Barack Obamas aus dem Jahr 2014, Russland sei nur eine Regionalmacht.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

(Foto: privat)

Das klingt, als ob Russland seine Strategie bestätigt sehen könnte.

Genau. Putin sieht sich durch Trumps Haltung bestätigt. Wenn die USA nicht bald handeln und Russland klare Grenzen setzen - wovon derzeit nichts zu sehen ist - dann wird Russland nicht nur feststellen, dass es den längeren Atem hatte. Putin wird vielleicht auch auf den Geschmack kommen, und sich noch mehr holen, als er bereits hat.

Was braucht ein Friedensabkommen, damit es nicht sofort wieder in sich zerfällt?

Ein solches Abkommen braucht ein Mandat und eine Friedenstruppe. Wenn die USA aber nun sagen: "Was ihr Europäer macht, das ist eure Sache", dann muss Europa diese Truppe stellen. Und die bräuchte nicht nur Fähigkeiten zur Abschreckung, sie bräuchte auch dahinterliegende Fähigkeiten, um tatsächlich vom Gegner ernst genommen zu werden; Stichwort Nuklearbewaffnung. Bis jetzt hat die Nato immer deswegen funktioniert, weil man wusste, dass für den Fall eines Angriffes vor allem die USA Gegenmaßnahmen ergreifen. Jetzt steht im Raum, dass das nicht passiert.

Ist eine rund 1000 Kilometer lange Frontlinie überhaupt zu sichern?

Die Front ist nicht nur im Donbass sehr lang, sondern hat auch zwei Abschnitte bei Kursk und Charkiw. Hinzu kommt noch die Grenze zu Russland. Allein von Saporischschja bis Kupjansk ist es so weit wie von der Südschweiz bis zur Mitte der Tschechischen Republik. Wenn Sie die gesamte Grenze zwischen der Ukraine und Russland mitrechnen, sind Sie in Berlin. Dazu kommt, dass eine solche Truppe nicht nur aus Soldaten bestehen kann, sondern Luftstreitkräfte, Aufklärung und logistische Unterstützung braucht. Zahlen von 150.000 bis 200.000 Soldaten kursieren. Das sind gewaltige Dimensionen.

Sie haben vergangene Woche gewarnt, Kupjansk könnte von den Russen in die Zange genommen werden. Hat sich die Lage dort weiter zugespitzt?

Hier geht es nicht um Kupjansk an sich. Nördlich von Kupjansk haben die Russen Brückenköpfe gebildet. Von dort könnten sie möglicherweise nach Nordwesten vorstoßen. Ein zweiter Stoß der Russen aus dem Raum Charkiw/ Wowtschansk könnte sich mit diesen Kräften vereinen, um ein großes Stück ukrainischen Territoriums herauszureißen.

Wie wahrscheinlich ist das?

Bisher haben die Russen nur ihre Brückenköpfe gesichert. Jetzt versuchen sie, diese zu stabilisieren. Ob die Ukraine die Brückenköpfe eindrücken kann, bleibt abzuwarten. Gelingt das nicht, kontrollieren die Russen das Gebiet, können sich dort festsetzen und ihren Vorstoß vorbereiten.

Die Ukraine hat eingeräumt, zwei Drittel des im russischen Kursk besetzten Gebiets wieder verloren zu haben. Wie wichtig ist das für die anstehenden Verhandlungen?

Die Zahlen zeichnen ein klares Bild: Russland hat im vergangenen Jahr etwa 4500 Quadratkilometer erobert, die Ukraine konnte etwa 500 Quadratkilometer in Besitz nehmen und auch halten. Die Möglichkeiten der Ukrainer, Gelände im Tausch herzugeben, sind sehr begrenzt.

Muss Russland eigenes Gebiet überhaupt zurückerobern? Geht das nicht möglicherweise am Verhandlungstisch viel einfacher?

Das ist natürlich eine Überlegung. Russland hat keine große Eile, was den Raum Kursk betrifft. Auch, weil durch die Kämpfe dort signifikant ukrainische Verbände gebunden werden. Das gilt aber auch für die russischen Kräfte.

In einer Situation wie dieser, mit anstehenden Verhandlungen und vielen politischen Entwicklungen, wie arbeitet da das Militär? Ein Militär muss ja vorausplanen, aber wenn nächste Woche plötzlich ein Friedensabkommen kommt, ändert das alles.

Das Militär arbeitet auf drei Ebenen: strategisch, operativ und taktisch. Auf strategischer Ebene gibt die Politik die Richtung vor - für Russland etwa die Inbesitznahme bestimmter Gebiete wie Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Die operative Ebene setzt diese Ziele mit militärischen Mitteln um, und auf taktischer Ebene entscheidet sich, ob diese Pläne tatsächlich durchgesetzt werden können. Der aktuelle Krieg ist ein Abnutzungskrieg, in dem es nicht um große Manöver geht, sondern darum, laufend frische Kräfte nachzuführen, um den Gegner abzunutzen.

Also ist die aktuelle militärische Strategie eher darauf ausgerichtet, die Lage zu halten, als jetzt noch schnell Geländegewinne zu erzielen?

Momentan sehen wir keine größeren russischen Truppenbewegungen, die auf eine großangelegte Offensive hindeuten. Es wird weitergekämpft, aber entscheidend ist jetzt, was in Saudi-Arabien passiert. Die Parteien warten ab, ob es eine Einigung gibt oder nicht. Falls es zu einem Abkommen kommt, könnten beide Seiten versuchen, sich kurzfristig noch in eine bessere Position zu bringen. Aber aktuell dominiert das Prinzip der Verzögerung. Tragisch daran ist, dass die Verhandlungen weitgehend an Europa und der Ukraine vorbeilaufen.

Die Ukraine will in Kursk eine russische Marineeinheit in ein Minenfeld gedrängt haben und mit Drohnen attackiert haben. Ist das glaubwürdig?

Solche Ereignisse gibt es täglich. Die Ukraine nutzt solche Erfolge für ihre Informationsstrategie, um die Moral der eigenen Truppen zu stärken. Das ist völlig normal. Aber strategisch sind das keine Wendepunkte.

Die Ukraine meldete außerdem die Rückeroberung des Dorfes Pіschtschanka bei Pokrowsk. Ist das mehr als ein kurzes Aufflackern im Verteidigungskampf?

Solche Angriffe sollen Gebiete entlasten, etwa um Versorgungsrouten zu sichern oder Zeit zu gewinnen. Aber sie ändern die strategische oder operative Lage nicht grundlegend. Sie verzögern den russischen Vormarsch. Aber sie sind keine Zeichen einer nachhaltigen Wende.

Trumps Vize Vance hat der Debatte um Europas Verteidigungspolitik zusätzliche Dramatik verliehen. Wovon hängt ab, wie die Entwicklung hier weitergeht?

Das hängt vom Willen der europäischen Staaten ab, sich selbst zu verteidigen. Das transatlantische Bündnis war über Jahrzehnte die Grundlage der europäischen Sicherheit. Wenn die USA sich abwenden, stehen wir vor einem Problem: Europa hat nur eine beschränkte nukleare Abschreckung und die in die Ukraine gelieferten Waffen wurden bis jetzt nicht ersetzt.

Was bedeutet das mit Blick auf Russland?

Ich weiß, das klingt schlimm und man möchte es nicht hören: Aber für Russland spielt es keine Rolle, was Europa sagt, Moskau schafft einfach Fakten. Das zeigt sich auch daran, dass Putin immer mit den Amerikanern sprechen wollte und nicht mit den Europäern. Genau das ist ihm nun gelungen - und viele haben die Tragweite dieses Moments noch nicht erfasst.

Folgt aus Putins Anerkennung durch die USA etwas Konkretes? Oder ist es nur ein symbolischer Erfolg für Russland?

Das wird sich nun in den russischen Handlungen zeigen: Wenn sie erkennen, dass die Amerikaner den Konflikt nicht weiterführen wollen, könnten sie zum Beispiel die Verhandlungen bewusst in die Länge ziehen - ohne Furcht vor Konsequenzen.

Was könnte Russland damit erreichen?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Russland hat eine ganz eigene Vorstellung von einer demilitarisierten Zone: Nicht eine Pufferzone entlang einer Frontlinie, sondern eine weitreichende Entmilitarisierung der gesamten Ostukraine. In russischen Darstellungen reicht diese Zone teilweise bis weit über den Dnipro hinaus. Jede Bedrohung Moskaus soll ausgeschlossen werden.

Sie haben gesagt, es hängt vom politischen Willen Europas ab, wie sich die Verteidigungsfähigkeit entwickelt. Aber ist das nicht auch eine Frage der Zeit? Eine neue Waffenindustrie oder gar ein nukleares Abschreckungspotenzial könnte Europa ja nicht von heute auf morgen aufbauen.

Ich habe das auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit dem Kaiser verglichen, der feststellt, dass er keine Kleider anhat: Europa hat den Spiegel vorgehalten bekommen und merkt jetzt, dass es ohne Hose dasteht. Ja sogar, dass es keine Hose mehr hat.

Was bedeutet das?

Wenn sich die Amerikaner wirklich von uns abwenden, dann haben wir nichts, was wir auf den Tisch legen könnten, um von Russland ernst genommen zu werden.

Und Russland ist sich dessen bewusst.

Natürlich. Und nicht nur das: Russland hat auch Verbündete wie China, auf die es sich stützen kann. Europa hingegen wurde in die Zuschauerrolle gedrängt. Selbst bei den Verhandlungen in Saudi-Arabien haben die Europäer keine entscheidende Position. Am Ende wurden ihnen nur Fragebögen zugeschickt, in denen sie ankreuzen konnten, welche Fähigkeiten sie einbringen könnten. Das ist weit entfernt von der Augenhöhe, auf der das transatlantische Bündnis einst funktionierte.

Mit Markus Reisner sprach Lukas Wessling

Quelle: ntv.de

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