Mehr Patriots für die Ukraine? Die Waffe, die niemand entbehren kann


Ein Patriot Luftabwehrsystem der US-Armee nimmt an einer Übung in Alaska teil.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
An der Front toben die Gefechte, doch genauso gefährlich für die Ukraine sind Russlands Luftangriffe auf Kraftwerke. Mit mehr Patriotsystemen könnte sich Kiew wehren. Doch die sind auch in anderen Ländern rar und relevant.
Wo geht es an der Front 500 Meter voran oder 200 zurück? Die Lage auf dem Gefechtsfeld steht beim Blick auf den Ukrainekrieg meist im Fokus. Was kaum registriert wird: die vielen russischen Luftangriffe mit verheerenden Folgen, besonders auf das Versorgungssystem. Acht schwere Attacken allein im Juni. "Anders als im Winter 22/23, wo die Russen vor allem auf Umspannwerke und Stromerzeugung zielten, geht es jetzt sehr gezielt gegen Wasser- und Heizkraftwerke", sagt Militärexperte Markus Reisner. Er befürchtet irreparable Schäden am System, die sich im kommenden Winter durch die Witterung noch verstärken könnten.
Damit kann Russlands Präsident Wladimir Putin gleich mehrere Ziele erreichen: Zerstörte Infrastruktur entzieht der ukrainischen Industrie die Produktionsbasis, auch der Rüstungsindustrie, die etwa für den Drohnennachschub immens wichtig ist. Zerstörte Infrastruktur - kein Strom, keine Wärme, kein Trinkwasser - entzieht aber auch der Bevölkerung die Lebensgrundlage. "Spätestens im kommenden Winter könnte der Druck so groß werden, dass viele Ukrainer flüchten müssten", sagt Reisner. "Nach meiner Einschätzung wollen die Russen eine Flüchtlingswelle auslösen". Hybride Kriegsführung, russische Spezialität.
Was zuallererst helfen könnte gegen die Gefahren aus der Luft, ist leider am wenigsten vorhanden: weitflächige Flugabwehr. Eigenen Systemen sowjetischer Bauart, mit denen sich die Ukrainer in den ersten Kriegsmonaten effektiv schützen konnten, fehlt inzwischen zumeist die Munition oder sie sind nicht mehr funktionstüchtig. Nachschub mit westlichen Flugabwehr-Waffen läuft indes noch stockender als es beim Thema Panzer der Fall war. Der Grund dafür ist simpel: Der Westen hat hier selbst auf Kante genäht.
"Mit Blick auf seine Fähigkeiten zur Luftverteidigung ist Deutschland eines der stärksten Länder in Europa", sagt NATO-Experte Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations. Und was zunächst anmutet, als habe man sich schlicht verhört, ergibt mit Blick in die Vergangenheit Sinn: Während des Kalten Krieges verlief der Eiserne Vorhang entlang der innerdeutschen Grenze. Die Luftverteidigung für Mitteleuropa basierte zur Hälfte auf westdeutschem Material und Streitkräften. "Westdeutschland war in jenen Jahren der am dichtesten geschützte Luftraum der NATO", sagt Loss. In Zahlen ausgedrückt: 36 Patriot-Batterien hatte die Bundeswehr 1990 im Bestand.
2022 waren davon noch 12 übrig. Zwei dieser 12 Systeme hat die Ukraine schon bekommen, wozu die Niederlande ebenfalls mit einigen Startgeräten beitrugen. Nummer 3 soll bald folgen. Im europäischen Vergleich ist Deutschland selbst mit dem abgespeckten Bestand noch immer recht fähig. Auch wenn laut Aussage des amerikanischen Thinktanks CSIS 18 Staaten Patriot für ihre Luftverteidigung nutzen: Gemessen an der neuen Bedrohungslage sind die Lücken in den einzelnen Beständen der NATO-Partner groß.
Bestellungen helfen in fünf Jahren weiter
Und so bekam die Anfang 2024 eingerichtete "Fähigkeitskoalition Luftverteidigung", in der Deutschland und Frankreich federführend ukrainische Fliegerabwehr aufbauen wollen, zwar viel Anerkennung von allen Seiten, aber wenig Rückmeldung aus Partnerstaaten, was man denn selbst dazu beitragen könne. Im April legten Außenministerin Annalena Baerbock und Verteidigungsminister Boris Pistorius noch einmal nach: Angesichts der schweren russischen Attacken starteten sie eine Hauruck-Aktion, die IAAD-Initiative: Immediate Action on Air Defense.
Immediate - das ist der springende Punkt. Bestellungen, wie die acht neuen Patriotsysteme, die Pistorius derzeit beim US-Hersteller Raytheon aufgibt, helfen in fünf Jahren weiter. Nicht im nächsten Winter. Diese Erkenntnis scheint sich auch in anderen Ländern durchzusetzen. "Auf Initiative Deutschlands und der Niederlande finden hinter den Kulissen nun Gespräche statt. Da viele Staaten ihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben, geht es nun darum, Einzelteile herauszulösen", sagt Loss. Ein Startgerät von Euch, ein Radar von uns, irgendjemand kann noch eine Feuerleiteinheit entbehren - so mühsam stellt man derzeit in Europa Patriotsysteme für Kiew zusammen. Und die USA? Sitzt da nicht sogar der Hersteller?
Auf rund 80 Systeme wird der us-amerikanische Bestand an Patriots geschätzt, was im Vergleich mit den korintenzählenden Europäern wie reiner Luxus anmutet. Doch nur auf den ersten Blick. Der Experte zerlegt den US-Vorrat wie folgt: Geschätzt ein Drittel des Waffenbestands befindet sich in Wartung oder Reparatur. Mindestens ein weiteres Drittel der US-Patriots steht im Ausland: Zwei Batterien schützen logistische Knotenpunkte für die Ukrainehilfe in Polen. In Japan und Südkorea sind die USA ebenso mit Patriots präsent wie im Nahen Osten. Dort schützt man die amerikanischen Streitkräfte vor Ort in Kuwait, Bahrain, Jordanien, Katar, Irak.
"Nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2022 haben Angriffe auf US-Basen in der Region nochmals zugenommen", sagt Loss. "Darum wurden Systeme dorthin nachgeschoben." Grob geschätzt das letzte Drittel verbleibt in den USA, um reagieren zu können, falls die Lage im Nahen Osten weiter eskaliert, sie sich im Westpazifik zuspitzt oder in Europa.
Zu wichtig, um einen Mangel zu riskieren
Eine gewisse Marge an Waffenvorrat ist letztlich aber doch vorhanden und aus der löst Washington nun ein weiteres System heraus. Grundsätzlich allerdings gilt für Patriot und für alle Staaten, die damit arbeiten: Zu wichtig, zu wirkmächtig, um einen Mangel für die eigene Abwehr zu riskieren.
Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass sich das System etwa gegen Drohnen nicht selbst schützen kann. Sobald aber der Patriot-Radar eingeschaltet ist, um feindliche Ziele aufzuklären, ist das System auch selbst für den Gegner erkennbar. Im März gingen der Ukraine nach Einschätzung westlicher Experten zwei Patriot-Startgeräte verloren. Die Russen hatten die Werfer aufgeklärt und dann mit einer Iskander-Rakete angegriffen.
"Im System der verbundenen Waffen muss das Patriotsystem selbst geschützt werden, die Ukrainer behandeln es ähnlich wie den König beim Schach", sagt Loss. "Andere Systeme wie die deutschen Iris-T-SLM oder norwegische Nasams werden ihm als Bauern zum Schutz an die Seite gestellt."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bittet seine Unterstützer um sieben weitere Systeme. Diese Zahl reicht bei weitem nicht aus, um das ganze Land zu schützen, also den Himmel über der Ukraine zu schließen. Zugleich ist bereits abzusehen, dass allein aus europäischen und US-Beständen keine sieben Systeme zusammenkommen werden.
Seit Donnerstag scheint eine neue Option im Spiel zu sein: Israel plant Berichten zufolge, seine acht Patriot-Batterien durch modernere Systeme zu ersetzen. Nun berichtet die Financial Times (FT) von Gesprächen zwischen Washington, Kiew und Jerusalem. Die USA würden die acht Systeme gern kaufen und an die Ukrainer weitergeben.
Mit vier Geräten muss Kiew improvisieren
Doch in dieser Frage ist Israel ein schwieriger Verhandlungspartner: Da dem Land eine zweite Front mit der Hisbollah im Norden droht, ist die israelische Regierung nicht unbedingt in Stimmung, Luftverteidigungswaffen aus der Hand zu geben. Zumindest nicht, solange die regionale Sicherheitslage zugespitzt bleibt. Bei Unterstützung für Kiew war man bislang ohnehin sehr zurückhaltend, um den Kreml nicht gegen sich aufzubringen.
Bis aus Israel Vollzug gemeldet wird, könnte es also noch einiger Gespräche bedürfen, vielleicht kommt der Deal am Ende gar nicht zustande. Die Ukrainer üben sich derweil auch bei der Luftverteidigung in ihrem Talent zur Improvisation. Zwar werden die derzeit vorhandenen Systeme überwiegend für den Schutz Kiews genutzt, doch immer wieder bewegt man die Patriots auch näher Richtung Front, um sie dort etwa gegen Jagdbomber einzusetzen.
"Die Ukrainer machen das geschickt, indem Sie die Startgeräte viel näher an die Front bringen als die Radare. So wiegen sich russische Flieger in Sicherheit, sind real jedoch viel näher an der Gefahr als sie annehmen", sagt Loss. Mit dieser Taktik sind der Armee einige erfolgreiche Abschüsse gelungen. Neben zerstörten Kampfjets meldete das ukrainische Militär in diesem Jahr auch zwei abgeschossene AWACS-Maschinen, wertvolle "fliegende Kommandozentralen", die feindliche Ziele aufspüren, verfolgen und Angriffe koordinieren.
Laut Militäranalysten sind die israelischen Patriots zwar älteren Datums, aber mit hoher Reichweite, einem großen Gefechtskopf und viel Munition ausgestattet - genau das, was die Ukraine dringend braucht. Denn speziell der russische Bestand an Gleitbomben wird von Analysten nach wie vor sehr hoch geschätzt. So erscheint es weder machbar noch sinnvoll, jede einzelne Bombe abzuwehren. Viel klüger ist es, die Jagdflieger zu beschießen, die Bomben abwerfen und Marschflugkörper losschicken, um der Ukraine Strom und Wärme zu kappen. Patriot ist dazu in der Lage. Und es gibt Hoffnung auf einen neuen Lieferanten.
Quelle: ntv.de