Politik

Reisners Blick auf die Front "Vieles spricht dafür, dass zwei Patriot-Startgeräte zerstört sind"

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Im Internet kursierten am Wochenende Aufnahmen der mutmaßlich zerstörten Startgeräte. Links im Bild zum Vergleich ein intaktes Patriotsystem.

Im Internet kursierten am Wochenende Aufnahmen der mutmaßlich zerstörten Startgeräte. Links im Bild zum Vergleich ein intaktes Patriotsystem.

Die russische Luftwaffe flankiert mit Erfolg die Angriffe am Boden. Ein Video vom Wochenende zeigt vermutlich die Zerstörung von Patriot-Werfern. Oberst Markus Reisner erklärt, warum die Systeme für die ukrainische Luftverteidigung gerade jetzt so wichtig sind, und wie es entlang der Front aussieht.

ntv.de: Herr Reisner, die Russen greifen derzeit intensiv entlang von drei Haupt-Stoßrichtungen an. Wie stark sind die ukrainischen Truppen dort unter Druck?

Markus Reisner: In der Region Charkiw greifen die russischen Gruppierungen "Zapad" und "Centr" an, vor allem südlich von Kupjansk, mit der Absicht, Richtung des Flusses Oskil vorzudringen. Dort ist die Situation momentan unter Kontrolle. In der Region Saporischschja wird sehr heftig gekämpft, vor allem im Raum Robotyne. Dort war es den Ukrainern während ihrer Sommeroffensive gelungen, in die erste Verteidigungsstellung einzubrechen, also den Fuß in die Tür zu bekommen. Hier haben es die Russen geschafft, den ukrainischen Fuß wieder hinauszudrücken, und sie versuchen jetzt, die dort gewonnenen Räume zurück in Besitz zu nehmen. Am kritischsten ist die Situation momentan aber westlich von Awdijiwka, in der Region Donezk.

Dort, wo die Russen die erste Verteidigungslinie der Ukraine durchbrochen haben?

Dieses Momentum versuchen die Russen zu nutzen und nach der Eroberung von Awdijiwka sofort auch die zweite Verteidigungslinie der Ukraine zu durchbrechen, die nicht so gut vorbereitet ist wie die erste. Hier wollen die Russen eine Art Domino-Effekt herbeiführen und bei Orlivka weiter nach Westen vorstoßen. Dort ist die Situation momentan am kritischsten.

Wie wehrt sich die Ukraine?

Sie verlegt zum Teil Eliteeinheiten an diese Front, auch mit Einsatz von M1 Abrams-Panzern, die verhindern sollen, dass den Angreifern ein Durchbruch gelingt. Die Russen haben hier zwei Zeitfaktoren, die wesentlich und dringlich sind: das Eintreten der zweiten Rasputiza, der nächsten Schlammperiode zum einen. Und zum anderen darf man die Wahlen in Russland nicht vergessen, Mitte März. Da möchte man natürlich Ergebnisse haben, um dem Präsidenten einen Push zu verschaffen.

Sollte der Durchbruch durch die zweite Linie auch gelingen, wie sieht es dahinter denn aus?

Es gibt schon einige Analysen anhand von Luftaufnahmen und Satellitenbildern, die bewerten, in welchem Maß die ukrainische Seite Verteidigungsanstrengungen betreibt. Im Gegensatz zu den Russen, die letztes Jahr sieben Monate dafür investieren konnten, ihre Abwehr gegen die erwartete Offensive aufzubauen, haben die Ukrainer nicht so viel Zeit und Ressourcen gehabt, um eigene Anlagen aufzuziehen. Wir sehen, dass einige entstanden sind, die jetzt massiv weiter verstärkt werden, aber noch sind auch Lücken vorhanden. Die Ukrainer versuchen gerade im Wesentlichen, diese Lücken zu schließen, das sieht man auf den Satellitenaufnahmen. Wenn es tatsächlich einer größeren russischen Formation gelingen sollte, durchzubrechen, kann es sein, dass sie weiter in die Tiefe stößt. Im Moment erkennen wir aber noch nicht, dass die Front an irgendeiner Stelle wirklich nachgibt.

Die Russen haben in der Vergangenheit - laut Einschätzung des ukrainischen Generalstabs - oft einen hohen Preis für ihre Angriffe bezahlt, mit sehr hohen Verlustzahlen. Wie entwickelt sich das?

Ich zitiere jetzt Oryx, jene Seite, die es sich zur Aufgabe macht, Verluste beider Seiten dokumentarisch mit Fotos festzuhalten und zu zählen. Wenn wir uns die Bilanz der Fahrzeuge anschauen: Auf ukrainischer Seite liegt die Zahl momentan bei 5334 verlorenen Fahrzeugen, also entweder beschädigt, zerstört oder vom Feind in Besitz genommen. Oryx zählt 14.799 verlorene Fahrzeuge auf russischer Seite. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 2,8 zum Vorteil der Ukraine. Statistisch gesehen braucht ein Angreifer aber ein Verhältnis von 1 zu 3 bis sogar 1 zu 4, um seine Verluste zu kompensieren. Trotz dieser hohen Verluste sind die Russen also noch immer in der militärischen Norm.

Sehen die Bilanzen für andere Waffen und Kräfte ähnlich aus?

Die Ukrainer haben 757 Panzer verloren im Vergleich zu 2813 dokumentierten Verlusten auf russischer Seite. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 3,7. Die ist hier also höher, aber immer noch in diesem Bereich zwischen 1 zu 3 und 1 zu 4. Mit dem, was die Russen an Kampffahrzeugen noch aus den ehemaligen Depots aus Zeiten der Sowjetunion herangeführt haben und was sie neu produzieren, geht man davon aus, dass die Russen in der Lage wären, den Krieg auf dem jetzigen Niveau noch zwei bis drei Jahre weiterzuführen. Die Frage ist, kann die Ukraine mit ihren Landstreitkräften hier langfristig gegenhalten? Dies gilt gerade auch für die Fliegerabwehr. Dort haben die Russen starken Zulauf bei Drohnen und Marschflugkörpern, gerade in den letzten Tagen haben wir massive Angriffe der Russen mit Drohnen gesehen. Diese müssen bekämpft werden.

Es heißt schon länger, dass neben der Artilleriemunition auch die Munition für das Patriot-Luftverteidigungssystem sehr knapp ist. Wird die Ukraine da gegenhalten können?

An der Front sehen wir, dass es Russland gelungen ist, seine Luftwaffe wieder massiv in den Einsatz zu bringen. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren gern unserer eigenen Propaganda geglaubt, im Sinne, dass die russische Luftwaffe nicht die Lufthoheit habe und nicht in der Lage sei, unterstützende Angriffe zu fliegen. Ich habe immer gesagt, das stimmt so nicht.

Wie setzt Russland seine Luftwaffe ein?

Wir haben auf der einen Seite die strategische Komponente, also die schweren Bomber, die Marschflugkörper abfeuern und dazu nicht in den ukrainischen Luftraum eindringen müssen. Die russische Luftwaffe fliegt aber vor allem auch unmittelbare Bodenunterstützung, diese Tradition stammt noch aus dem Zweiten Weltkrieg und zeigt einen ganz anderen Charakter als westliche Luftwaffen. Die russischen Jets flankieren also den Einsatz der Bodentruppen, und zwar auf hohem Niveau durch die Adaption von eigentlich alten Gleitbomben in einer Größe von 250 bis zu 1500 Kilogramm, die sie wieder einsatzbereit machen. In sozialen Medien werden wir geflutet von Videos, die Bombenabwürfe russischer Systeme zeigen. Dieser Einsatz hat massiv zugenommen, und es fällt den Ukrainern immer schwerer, im Bereich der mittleren und hohen Fliegerabwehr hier dagegen zu halten.

Die Ukraine braucht ihre Luftverteidigung, um Städte und Infrastruktur zu schützen. Sind die Frontsoldaten den Angriffen ausgeliefert?

Die Ukraine versucht gezielt, Fliegerabwehrhinterhalte zu legen: Sie löst einzelne Fliegerabwehrsysteme, zum Beispiel Nasams, aber auch Patriot, aus den urbanen Zentren heraus und bringt diese verdeckt an die Front. Sie haben also das Radar nicht eingeschaltet. Erst wenn einfliegende russische Jets akustisch oder optisch aufzunehmen sind, wird das Radar kurz eingeschaltet. In dem Moment, wenn das Radar das Ziel aufgenommen hat, werden die Raketen abgefeuert. Den russischen Piloten bleibt kaum Zeit zur Reaktion. Mit dieser Methode ist es in den vergangenen Wochen laut Meldungen der Ukraine gelungen, bis zu 15 feindliche Kampfflugzeuge abzuschießen. Die Russen waren aber auf der Suche nach diesen Fliegerabwehrsystemen im Hinterhaltseinsatz, und in den letzten zehn Tagen scheint es gelungen, einige zu zerstören. Am Wochenende hat das auch neuerlich ein Video dokumentiert.

Was ist dort zu sehen?

Offensichtlich ein signifikanter Erfolg der Russen: zwei Patriot-Werfer, die vermutlich inklusive eines Radars durch den gezielten Einsatz einer russischen Iskander-Rakete zerstört werden. Erkennbar ist eine Kolonne von Fahrzeugen, die entlang einer Bewegungslinie fährt, und diese wird gezielt von einer Rakete angegriffen. Es gibt auch mehrere Detailaufnahmen von den Trümmern. Diese stehen den Experten nun zur Verfügung und es sprechen einige Merkmale für zwei Patriot-Werfer. Wer ganz genau hinsieht, kann also tatsächlich Patriot-Systeme erkennen. Die Russen labeln das Video selbst mit einer Zerstörung von S300-Systemen, also alter Fliegerabwehr aus sowjetischer Zeit. Aber bei genauer Betrachtung dürften es leider tatsächlich Teile einer Patriot-Batterie sein, das berichtete als erstes internationales Medium auch Forbes.

Die Patriot-Systeme sind für die Ukraine enorm wertvoll, und zugleich haben sie nicht viele. Wie hoch schätzen Sie den Schaden ein?

Die Ukraine hat drei Patriot-Batterien bekommen. Das sind jeweils zwei Fahrzeuge mit vier Werfern, die jedes Fahrzeug mitführt. Drei Batterien also mit insgesamt jeweils acht Werfern, macht 24 Werfer. Dann wissen wir, dass die Niederlande nochmal vier zusätzliche Werfer geliefert haben. Das heißt, wir haben 28 Werfer verfügbar zum Schutz der urbanen Zentren. Wenn es nun tatsächlich gelungen ist, zwei Fahrzeuge mit je vier Werfern zu zerstören, mitsamt der Mannschaft, dann fehlen, falls das Video der Wahrheit entspricht, nun acht von vormals 28 Werfern.

Das hört sich nach einem schmerzhaften Verlust an. Wie sieht es mit den F16-Kampfjets aus? Werden die eine Komponente für die Luftabwehr sein können?

Moderne Fliegerabwehr kann man unterteilen in eine aktive und in eine passive Komponente. Die passive Komponente: Sie schaffen Lagebilder, zum Beispiel über Radarsysteme, für stationäre oder bewegliche Fliegerabwehrbatterien. Als aktive Komponente dienen Kampfflugzeuge dazu, einfliegende gegnerische Jets abzufangen und abzuschießen oder sie schon daran zu hindern, überhaupt in den Luftraum einzudringen. Das macht die F16 so bedeutsam.

Laut einem Bericht der "New York Times" muss die Ukraine aber noch bis Sommer ausharren, bevor der Kampfjet in den Einsatz gehen kann.

Die größten Herausforderungen sind dabei gar nicht so sehr die notwendige Zeit für die Pilotenausbildung und die Verfügbarkeit des Kampfflugzeugs selbst, sondern die Logistik: Wo werden diese Kampfflugzeuge stationiert und wie viele dieser Stützpunkte kann man errichten?

Das ist aufwändiger als Piloten ausbilden und die Jets startklar machen?

Sie dürfen nicht vergessen, dass die Russen mit ihrer weitreichenden Aufklärung in der Lage sind zu erkennen, von welchen Plätzen diese Flugzeuge aus eingesetzt werden und somit in der Lage sind, mit Drohnen und Marschflugkörpern anzugreifen. Denn in dem Moment, wo das Flugzeug zum Beispiel startet, hinterlässt es automatisch, wenn ein Radar es erkennt, eine Signatur. Dass die ukrainischen Kampfflugzeuge bis jetzt durchgehalten haben, liegt auch daran, dass sie nicht auf denselben Platz zurückkehren, von dem aus sie gestartet sind. Sie fliegen stattdessen einen Ausweichlandeplatz an, also eine Autobahn zum Beispiel oder einen anderen Flugplatz, sie spielen eine Art "Katz und Maus" mit den Russen.

Wird das mit F16 auch möglich sein?

Damit die nicht bereits nach der Stationierung zerstört werden, brauchen die Ukrainer mehrere Stütz- aber auch Logistikpunkte, damit die F 16 permanent zwischen diesen Plätzen rotieren können und unerkannt bleiben.

Geht das auch mit Autobahnen?

Das ist eben das Problem: Die F16 hat einen tief liegenden Triebwerks-Einlass, unter dem Piloten, relativ nah am Boden. Das heißt, die Autobahn muss sehr sauber sein, damit nicht irgendwas eingesaugt wird, was das Triebwerk beschädigt. Wenn man die Verschmutzungssituation im Griff hat, dann wäre eine Autobahn schon irgendwie machbar. Aber das ist ja nicht alles: Wenn die F16-Maschine gelandet ist, braucht sie Versorgung - Kraftstoff, Strom, Munition, Betriebsmittel -, damit sie wieder starten kann. Das passiert jetzt gerade im Hintergrund, es werden Absprungplätze verfügbar gemacht, damit der Jet überhaupt einsetzbar ist.

Diese Riesenlogistik hinter den Waffen hat man selten im Blick.

Dass Feldherrn oder Generäle Kriege entscheiden, stimmt nur zum Teil. Hinter jedem erfolgreichen Feldherrn steht ein guter Logistiker, vor allem sein Generalstab, der die ganzen Planungen macht. Damit der Feldherr weiß, ob ein operativer Plan auch tatsächlich funktioniert oder nicht. Sie können mit einer starken Streitmacht in ein Land einmarschieren, aber wenn Ihnen am dritten Tag der Sprit ausgeht, dann haben sie ein Riesenproblem. So ist es den Russen zu Beginn des Krieges ergangen: Sie sind in die Ukraine einmarschiert und haben nach fünf Tagen kurz Halt gemacht, um auf ihre Versorgung zu warten. Die ist aber nie angekommen, weil die Ukrainer sie gezielt abgefangen haben. Das hat den Russen am Beginn das Genick gebrochen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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