Separatistenregion in Moldau Transnistrien? Schon längst in Russlands Händen
29.04.2022, 19:36 Uhr
Hammer und Sichel sind im Stadtbild der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol fest verankert.
(Foto: picture alliance / PIXSELL)
Die Republik Moldau befürchtet seit Russlands Invasion in der Ukraine, das nächste Opfer Putins zu werden. Das kleine Land ist nicht in der NATO, nicht in der EU und hat seit Jahrzehnten eine pro-russische Region auf seinem Staatsgebiet: Transnistrien.
Eine Explosion in einem Regierungsgebäude, zwei gesprengte Sendemasten, erhöhte Terrorwarnstufe - in Transnistrien herrscht seit ein paar Tagen Chaos. Die Behörden hatten in den vergangenen Tagen mehrere Explosionen gemeldet. Am Montag gab es demnach Explosionen im Ministerium für Staatssicherheit in der Hauptstadt Tiraspol. Das staatlich kontrollierte Fernsehen meldete, unbekannte Angreifer hätten das Ministerium mit Granatwerfern beschossen. Einen Tag später wurden zwei Sendemasten gesprengt, mit denen die Bewohner Transnistriens russische Radiosender empfangen konnten.
Für die Attacken macht Russland die Ukraine verantwortlich. Die Ukraine sagt, Russland war es selbst. Um in Transnistrien Panik zu schüren und mit den dort stationierten russischen Truppen den Süden der Ukraine in die Zange zu nehmen.
Nächstes Ziel von Russland?
Schon seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine gibt es Spekulationen darüber, wo Russlands Präsident Wladimir Putin seine Truppen als Nächstes einmarschieren lässt. Immer wieder war und ist die Rede vom prorussischen Transnistrien, dem kleinen De-facto-Staat innerhalb der Republik Moldau.
"Ein De-facto-Staat hat ähnlich wie ein De-jure-Staat ein Territorium und eine Bevölkerung, die durch eine Regierung kontrolliert und regiert wird. Der Unterschied ist, dass De-facto-Staaten international nicht anerkannt werden", erklärt Sabine von Löwis, die am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien den Forschungsschwerpunkt Konfliktdynamiken und Grenzregionen leitet, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Die Ursache für die fehlende Anerkennung von Staaten liege häufig in der Art der Abspaltung begründet, führt die Geografin aus. "Das entspricht häufig nicht den Erwartungen der internationalen Staatengemeinschaft. Oder man hat sich eben auch nicht im gegenseitigen Einvernehmen getrennt."
Mini-Staat mit Ukraine-Grenze
Transnistrien grenzt direkt an die Ukraine. Das Schwarze Meer mit der Hafenstadt Odessa ist nicht weit. Das Gebiet erstreckt sich über einen 200 Kilometer langen Streifen vom Nordosten bis Südosten des Landes und macht etwa zehn Prozent der Fläche von Moldau aus.
Der Pseudostaat auf dem Gebiet der Republik Moldau ist vor gut 30 Jahren entstanden, als die Sowjetunion zerfiel. Moldau hatte sich im August 1991 für unabhängig erklärt, sich von der Kontrolle aus Moskau gelöst und sich stattdessen in Richtung Rumänien orientiert. Rumänisch wurde zur offiziellen und einzigen Amtssprache erklärt. Das wollten die Menschen in Transnistrien aber nicht mitmachen - sie haben sich von der Republik Moldau abgespalten.
Initiiert worden sei die Abspaltung von der "politisch-ökonomischen Elite, mit Unterstützung der Arbeiterschaft", beschreibt Expertin von Löwis. "Dadurch konnte diese Protestbewegung sehr gut organisiert und den Romanisierungstendenzen in Moldau etwas entgegengesetzt werden."
Die Proteste mündeten 1992 in einer militärischen Auseinandersetzung. Die Republik Moldau versuchte, die Region mit Gewalt an sich zu binden. "Das ist aber nicht gelungen, weil auch die russische Armee dort eingegriffen hat", berichtet Sabine von Löwis. Schließlich wurde 1992 ein Waffenstillstandsabkommen vereinbart, welches bis heute hält.
200 Euro Einkommen im Monat
Die transnistrische Bevölkerung lebt unter schwierigen Bedingungen, die meisten Menschen sind arm. Das durchschnittliche Einkommen liegt bei umgerechnet etwa 200 Euro im Monat. Das sind noch einmal rund 100 Euro weniger, als die Menschen in Moldau durchschnittlich verdienen. Auch deshalb verlassen viele Menschen das Land. Die Bevölkerungszahl ist seit dem Ende der Sowjetunion stark gesunken. Anfang der 1990er Jahre lebten noch etwa 700.000 Menschen in Transnistrien, heute sind es offiziell nur noch 460.000.
Völkerrechtlich hat Transnistrien alles, was andere Staaten auch haben: ein Staatsvolk, ein definiertes Staatsgebiet und eine Regierung, die Staatsgewalt ausübt.
Dazu kommt eine eigene Währung, auch wenn die Geldscheine außerhalb des De-facto-Staates wertlos sind. Genauso wie die transnistrischen Pässe, mit denen sich weltweit keine Grenze überqueren lässt. Etwa die Hälfte der Einwohner soll aber auch einen russischen Pass haben.
Kostenloses Gas, Rentenzuschüsse, Soldaten
Transnistrien ist seit fast 30 Jahren faktisch von Moldau unabhängig. Völkerrechtlich ist das Land aber weiter Teil von Moldau, weil kein Staat Transnistrien als eigenständig anerkennt.
Selbst Russland nicht. Dabei sorgt Moskau dafür, dass Transnistrien wirtschaftlich einigermaßen überleben kann. Russland unterstützt die Separatistenregion mit kostenlosem Gas, Rentenzuschüssen und russischen Soldaten, die auch heute noch als "Friedenstruppen" in Transnistrien stationiert sind. Ohne Russlands Unterstützung könnte Transnistrien als De-facto-Staat nicht überleben und müsste sich wahrscheinlich wieder der Republik Moldau anschließen. "Russland stellt auf diese Weise eine andauernde Instabilität in der Region her. Dadurch wird sich Moldau über kurz oder lang, auch wenn es möchte, nicht in die EU integrieren können. Russland hat somit Einfluss am Rande Europas", erklärt Expertin von Löwis.
Die EU arbeitet eng mit Moldau und ihrer proeuropäischen Präsidentin Maia Sandu zusammen. Aber eine Aufnahme in die EU ist undenkbar, solange die Republik instabil ist. Das gilt auch für eine Aufnahme in die NATO. Das Land hat mit einem schwelenden Grenzkonflikt keine Chance, in beide Bündnisse aufgenommen zu werden.
Ein "Sheriff" kontrolliert das Land
All das ist im Interesse Russlands, das in Tiraspol - der Hauptstadt Transnistriens - auf zwei mächtige Oligarchen vertrauen kann. Ohne Viktor Guschan und Ilja Kasmaly läuft nämlich kaum etwas in dem kleinen De-facto-Staat.
Die beiden ehemaligen russischen Geheimdienstagenten leiten den Sheriff-Konzern. Das mit riesigem Abstand größte Unternehmen Transnistriens kontrolliert etwa 60 Prozent der Wirtschaft des Landes, berichtet Sabine von Löwis. Für 17 Prozent der Staatseinnahmen Transnistriens ist das Sheriff-Imperium verantwortlich, zugleich zahlt der Konzern bis zu 50 Prozent auf das Steuerkonto des Staates ein. Sheriff betreibt sämtliche Tankstellen des Landes, hat einen Mobilfunkkonzern, einen Spirituosenhersteller, eine eigene Bank, eine Supermarktkette und einen Fußballverein, der sich voriges Jahr sogar erstmals für die Champions League qualifiziert und dort gegen Real Madrid und Schachtar Donezk gewonnen hat.
Gegründet wurde Sheriff 1993 von Wiktor Guschan und Ilja Kasmaly. Der ungewöhnliche Name geht auf das ursprüngliche Unternehmenskonzept zurück. "Sie haben eine Art Sicherheitsfirma für Angehörige von Polizeifamilien gegründet und dann nach und nach angefangen, verschiedene legale und illegale Handelssysteme zu kontrollieren. Ursprünglich ging es mal um Zigaretten. Später haben sie verschiedene andere lukrative Handelsgeschäfte übernommen und sind dann immer größer geworden", berichtet Sabine von Löwis.
Dem Konzern werden enge Beziehungen zur Politik nachgesagt - vor allem zum langjährigen Präsidenten Igor Smirnow, der Transnistrien von 1991 bis 2011 mit harter Hand regierte und dem Sheriff-Konzern Steuer- und Zollvorteile verschaffte. Im Gegenzug hat Sheriff die Politik der Regierung unterstützt - auch finanziell. So sind gegenseitige Abhängigkeiten entstanden.
Ohne Sheriff läuft nichts in Transnistrien - und ohne Russland sowieso nicht.
Moldau hat Angst, dass Russland sich eines Tages Transnistrien komplett einverleibt, wie es Moskau 2014 mit der Krim tat - und auch mit den selbst ernannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine vorhat. Was Russland davon hätte? Wenn Putin einen Landweg von der Krim bis nach Transnistrien schaffen würde, wäre die Ukraine vollständig vom Schwarzen Meer abgeschnitten.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.
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Quelle: ntv.de