Politik

Gegenoffensive bei Cherson? Ukraine will "Schlachtfeld von hinten austrocknen"

Im Süden des Landes hat sich die Ukraine in den vergangenen Monaten für eine Gegenoffensive in Stellung gebracht.

Im Süden des Landes hat sich die Ukraine in den vergangenen Monaten für eine Gegenoffensive in Stellung gebracht.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Auch drei Tage nach Beginn einer möglichen ukrainischen Gegenoffensive in der Region Cherson ist das genaue Ausmaß unklar. Erste kleine Erfolge werden vermeldet, während die Russen von "gescheiterten Vorstößen" sprechen. Experten mahnen zur Vorsicht.

Schon kurz nach Kriegsbeginn hatten die russischen Truppen den Süden der Ukraine in Beschlag genommen, halten Cherson und andere Städte in dem Gebiet seitdem besetzt. Wochenlang kündigte Kiew eine Gegenoffensive an, die jetzt möglicherweise begonnen hat. Rund um Cherson wurden russische Stellungen angegriffen. Wie erfolgreich die Angriffe sind, ist aber völlig unklar. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte nur, dass es Kämpfe gibt, hält sich ansonsten aber bedeckt. Und die Sprecherin des ukrainischen Südkommandos sagte nur so viel: Jüngste Angriffe hätten "zweifellos den Feind geschwächt".

Ukrainische Truppen hätten die ersten russischen Frontlinien im Gebiet Cherson durchbrochen, meldete Kiew. Erste russische Einheiten hätten sich daraufhin zurückgezogen. Auch der britische Geheimdienst teilte in seinem Lagebericht mit, dass die Ukrainer die russischen Streitkräfte stellenweise etwas zurückgedrängt und dabei Schwachpunkte der russischen Verteidigungslinien ausgenutzt hätten.

"Es sieht alles danach aus, dass das jetzt wohl eine größere Operation ist", sagt Sicherheitsexperte Joachim Weber von der Universität Bonn im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Der Politikwissenschaftler macht auf die Berichte, wonach die russische Frontlinie durchbrochen worden sei, aufmerksam, gibt aber zu bedenken, "dass das noch nicht viel heißen muss, da die russischen Truppen dort sicherlich etwas tiefer gestaffelt stehen".

"Über große Offensive spricht man nicht"

Auch andere Kriegsbeobachter mahnen zur Vorsicht. Es sei noch zu früh, die Angriffe auf russische Stellungen im Gebiet Cherson als die große Gegenoffensive zu betiteln. "Generell gilt, wenn man eine große Offensive macht, spricht man nicht darüber, sondern versucht, seinen Gegner zu überraschen. Natürlich versucht die Ukraine ihre Situation im Süden zu verbessern und zu stabilisieren, damit Odessa nicht in Gefahr gerät. Aber ich würde raten, hier ein paar Tage abzuwarten und dann zu gucken, was wirklich passiert ist", sagt Militärexperte und Oberst a.D. Ralph Thiele bei ntv.

Der ukrainische Journalist Illia Ponomarenko vom "Kiew Independent" hat davor gewarnt, die Angriffe auf die russischen Stellungen im Gebiet Cherson bereits als große Gegenoffensive zu bezeichnen. Er vermutet, dass noch etwas viel Größeres kommt. Nach dem Motto: Über die große Offensive wird im Vorfeld besser nicht gesprochen. Auch Weber gibt zu bedenken: "Aus militärischer Sicht ist es für den Angreifer immer am besten, gar nicht über geplante Offensiven zu reden. Aber die ukrainische Regierung hat sie seit Wochen angekündigt und von einer großen Befreiungsaktion gesprochen. Für sie hängt politisch viel davon ab, dass diese Offensive gelingt."

"Russische Aussagen widersprüchlich"

Russland dagegen sagt bereits jetzt, der Vorstoß der ukrainischen Truppen sei "erbärmlich gescheitert". Der Verwaltungschef der annektierten Krim hat die Berichte über die ukrainische Offensive sogar als "Fake" betitelt. Sicherheitsexperte Weber rät in jedem Fall zur Vorsicht. Man dürfe keiner der beiden Seiten blind vertrauen. "Die russische Stellungnahme ist in sich widersprüchlich: Scheitern kann die Offensive ja nur, wenn es intensive Kämpfe gab." Für beide Seiten stehe "unendlich viel auf dem Spiel", kündigt Weber an. "Wir werden eine Zeit lang mit unseren Interpretationen leben müssen."

Der britische Geheimdienst geht davon aus, dass die russischen Besatzer trotz erheblicher Verstärkung unter Personal- und Nachschubproblemen leiden. Die meisten Einheiten seien unterbesetzt, heißt es. Und das, obwohl die Russen nach Schätzung von Weber "bis zu 25.000 Mann" aus dem Osten in den Süden der Ukraine verlegt haben. "Aber die Ukraine hat es dank der westlichen Hightech-Waffensysteme anscheinend sehr erfolgreich geschafft, die russischen Nachschublinien zu stören und teilweise auch die Munitionsdepots zu zerstören", analysiert Weber im Podcast.

Die Ukrainer haben in den vergangenen Wochen unter anderem einen russischen Munitionszug zwischen Cherson und der annektierten Krim angegriffen. Zudem haben sie es geschafft, die drei Dnjepr-Brücken zwischen Saporischschja und Cherson teils schwer zu beschädigen. "Damit haben die Ukrainer die russische Armee teilweise in eine Situation gebracht, die man im NATO-Sprachgebrauch als "battlefield interdiction" bezeichnet. Das heißt, das Schlachtfeld wird von hinten ausgetrocknet, die Russen werden von ihren rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten", erklärt Weber den offensichtlichen Plan der Ukrainer.

300 Tonnen Kriegsgerät pro Tag

Soldaten und deren Verpflegung kann man zwar auch über schwer beschädigte Brücken und die provisorischen Pontonbrücken noch an die andere Flussseite bringen. Das gelte vielleicht auch für einen Teil der Munition, aber eben nicht für schweres Kriegsgerät, ergänzt Weber. "Ein Artilleriebataillon hat im Kampfeinsatz einen Verbrauch von ungefähr 300 Tonnen pro Tag." Das alles über schwer beschädigte Brücken zu transportieren, ist kaum zu schaffen. "Das kann die Russen austrocknen."

Die Bedeutung der Kämpfe im Süden schätzt auch Carlo Masala als extrem hoch ein. "Wenn die Ukraine Cherson zurückerobern sollte, würde sie die Russen zurück über den Dnjepr schicken. Russland könnte dann keine Landbrücke zwischen dem Osten und dem Süden bis runter zur Krim schaffen. Gleichzeitig würde die Eroberung von Odessa fast völlig unmöglich werden." Für die russischen Streitkräfte hätte das eine "massive Niederlage" zur Folge, die sich auch "zu Hause nicht mehr verschweigen" ließe, ist Masala im "Stern"-Podcast "Ukraine - die Lage" überzeugt.

Fehlende Kampfpanzer? "Westliches Versagen"

Und trotzdem ist völlig offen, ob es der ukrainischen Armee tatsächlich gelingt, großflächig Gelände zurückzuerobern. Die Verteidigungsfähigkeit haben Kiews Truppen in den vergangenen mehr als sechs Monaten eindrucksvoll bewiesen, aber Offensivoperationen sind etwas ganz anderes, erklärt Militärexperte Weber. "Dafür braucht es geländegängige gepanzerte Verbände, Kampfpanzer, Schützenpanzer. Und einiges mehr, was zum Gefecht der verbundenen Waffen dazugehört, wie man das im Militärjargon nennt."

Doch genau das ist die Achillesferse der ukrainischen Truppen. Es fehlt an Kampfpanzern, das eigene Material ist deutlich veraltet oder nach sechs Monaten Krieg abgenutzt oder zerstört. Auch der Ringtausch mit anderen osteuropäischen Ländern "reicht nicht aus, um die sicherlich zehnfache Überlegenheit der Russen im Bereich schwerer Waffensysteme auszugleichen", schätzt Weber im Podcast ein. "Das bleibt die Krux der Ukrainer. Werden sie es schaffen, ohne einen großen Umfang an mechanisierten Kräften diese Offensiven erfolgreich durchzuführen?"

Die ukrainischen Truppen sind eher unbeweglich und kaum gepanzert. Sie könnten im Granatenhagel der russischen Artillerie zerschossen werden, sagt der Militärexperte. Um das zu verhindern, sei die Ukraine auf weitere Waffen aus dem Westen angewiesen, in diesem Fall vor allem auf Panzer. Der Westen habe zwar "hochpotente Waffensysteme wie die HIMARS- und MARS-Raketenwerfer geliefert", aber keine Kampfpanzer. Die seien jedoch in dieser Kriegsphase, wenn es um großflächige Rückeroberungen geht, wichtig für die Ukraine, sagt Joachim Weber. Nach über einem halben Jahr Krieg seien fehlende Kampfpanzer-Lieferungen ein "westliches Versagen".

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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