Leiden in Berg-Karabach "Putin hat die Seiten gewechselt"
20.09.2023, 18:56 Uhr Artikel anhören
Nach Beginn des Angriffs von Aserbaidschan auf Berg-Karabach wird eine Verletzte medizinisch versorgt.
(Foto: via REUTERS)
Russlands Präsident Wladimir Putin braucht Aserbaidschan, um mehr Gas in die EU zu liefern. Ein Grund für den Kreml, im Konflikt um Berg-Karabach inzwischen sichtbar den derzeitigen Aggressor zu unterstützen. Wer in diesem Konflikt welche Strippen zieht, erklärt Stephan Malerius von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Georgien im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Herr Malerius, seit heute Morgen schweigen die Waffen in Berg-Karabach. Zugleich heißt es, die armenischen Kräfte hätten ihren Widerstand gegen den aserbaidschanischen Angriff aufgegeben. Heißt das, der Aggressor, Machthaber Alijew, kann einen Haken an die Sache machen?
Stephan Malerius: Es ist gut, dass die Waffen schweigen, aber gelöst ist der Konflikt trotzdem nicht. Die Frage wird sein: Was passiert mit den 100.000 Armeniern, die in dem Gebiet leben? Wird Alijew denen Angebote machen, die sie annehmen können? Im Sinne von Integration, Staatsbürgerschaft, Sicherheiten? Oder legt er es darauf an, sie nach Armenien zu vertreiben? Momentan lässt sich das nicht absehen. Die zweite offene Frage: Welche Rolle wird Russland spielen? Moskau hat diesen Waffenstillstand vermittelt, wie auch schon 2020. Aber Putin wird irgendeine Gegenleistung von Aserbaidschan dafür erwarten. Wie wird die aussehen?

Der Slawist Stephan Malerius leitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung das "Regionalprogramm Politischer Dialog Südkaukausus" und lebt in Georgien.
(Foto: privat)
Zuletzt kümmerte sich Putin nicht mehr um den Konflikt, und die Reaktion des Westens musste Aserbaidschan nicht fürchten. Kann man so platt zusammenfassen, warum Alijew es überhaupt gewagt hat, mit massiver Gewalt Fakten zu schaffen?
Putin ist durch den Krieg in der Ukraine so absorbiert, dass Russland im Berg-Karabach-Konflikt gerade kein starker Akteur sein kann, das stimmt. Was aber entscheidender ist: Putin hat die Seiten gewechselt. Über 30 Jahre war der Kreml ganz klar die Schutzmacht Armeniens, und jetzt arbeitet er mit Aserbaidschan zusammen.
Welche Vorteile zieht er aus dem Seitenwechsel?
Putin handelt aus geopolitischem Kalkül: Zum einen hat Moskau in den vergangenen zwei Jahren unter Sanktionen die Möglichkeit genutzt, russisches Gas über Aserbaidschan nach Europa zu verkaufen. Das funktioniert so: Aserbaidschan hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angeboten, mehr Gas zu fördern und der EU zu liefern. Tatsächlich aber fördert man dort gar nicht mehr Gas. Sondern Aserbaidschan schöpft das Gas aus dem eigenen Markt ab, und der wird von Russland wieder aufgefüllt.
Aserbaidschan ist also ein Umschlagplatz für russisches Gas, das in die EU geliefert wird?
Es ist eine billige Tauschrechnung, aber Russland möchte sein Gas loswerden, wo es kann. Und dafür ist Aserbaidschan wichtig, das ist ein Punkt. Zum anderen ist das Land enger Verbündeter der Türkei, und für Putin sind gute Beziehungen zur Türkei auch sehr wichtig. Das sind die beiden wichtigsten Faktoren, mit denen Armenien nicht konkurrieren kann. Wenn man sich die russische Rhetorik anschaut, auch seit gestern, dann steht Russland ganz offen auf aserbaidschanischer Seite.
Die EU hat sich aber nicht stark genug auf Seiten der Armenier positioniert?
Viele Jahre lang ist man neutral gewesen - auch, weil beide Seiten Schuld auf sich luden. Als beide Länder noch Republiken der Sowjetunion waren, gab es schon Gewalt in dem Konflikt, aber die Zentralmacht in Moskau hat damals einen Krieg verhindert. Ab 1992 hat es auf beiden Seiten grausame Verbrechen gegeben: Massaker, Pogrome, Hinrichtungen, Bewohner der jeweils anderen Volksgruppe wurden aus ihren Dörfern vertrieben. Da kann man keiner Seite die Schuld zuschieben, beide sind zutiefst schuldig geworden. Nach dem Krieg Anfang der 1990er gab es kleinere Auseinandersetzungen und Schießereien, aber keine großen Kampfhandlungen. Der Konflikt war über viele Jahre quasi eingefroren.
Was sagt denn das Völkerrecht zu Berg-Karabach?
Völkerrechtlich gehört Berg-Karabach zu Aserbaidschan.
So einfach lässt sich das sagen?
Ja. Aserbaidschan hat im Rahmen der territorialen Integrität einen Anspruch darauf, dass dieses Gebiet von Berg-Karabach nicht nur zum eigenen Staatsgebiet gehört, sondern auch unter die Kontrolle der Zentralregierung in Baku gestellt wird.
Kompliziert wird es dadurch, dass die Bewohner von Berg-Karabach Armenier sind.
Entsprechend ist die armenische Argumentation seit jeher: Die Menschen haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Darum hat Armenien nach Ende des ersten Krieges 1994 immer wieder versucht, Referenden in Berg-Karabach abzuhalten. Aserbaidschan hat sich nicht darauf eingelassen.
Der Konflikt lautet also: Anspruch auf territoriale Integrität Aserbaidschans gegen Recht auf Selbstbestimmung der Armenier. Das klingt tatsächlich, als hätten beide Seiten einen Punkt.
Aus diesem Grund und auch, um weiter vermitteln zu können, bemüht sich der Westen darum, in der Sache selbst relativ neutral zu bleiben. Zugleich unterstützt die EU Armenien aber, zum Beispiel mit Förderprogrammen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen: Wenn man sich die Verfasstheit beider Länder anschaut, dann haben wir es bei Aserbaidschan mit einem verknöcherten, repressiven, autoritären und sehr korrupten Staat zu tun. Geführt wird er von einer Person, Präsident Alijew - und seiner Frau. Dieses Regime widerspricht im Prinzip allem, wofür der Westen steht: Demokratie, Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten wie Versammlungs- und Pressefreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung.
Was ihn als Verhandlungspartner schwierig macht?
Es gibt da keinerlei Gemeinsamkeiten und auch keinen Dialog, jenseits von Gas- und Öllieferungen. Und das sieht bei Armenien ganz anders aus. Dort gab es auch Korruption und manipulierte Wahlen, bis 2018 die "Samtene Revolution" kam. Mit ihr wurde Nikol Paschinjan Regierungschef, und das Land richtete sich nach Westen aus. Demokratie ist seither die Maßgabe für alle Reformen - für Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit. Da hat Armenien in den letzten vier, fünf Jahren große Fortschritte gemacht und steht im Südkaukasus derzeit als Musterbeispiel für Demokratisierung da. Von dieser Warte aus betrachtet könnte das Land auch ein Mitglied der europäischen Familie sein.
Seit 2020 ist der Konflikt nicht mehr eingefroren. Wie endete diese Phase?
Indem Aserbaidschan durch Waffengewalt, durch einen Angriff die Situation verändern wollte und das auch geschafft hat. Das ist der zweite Grund dafür, dass der Westen versucht, Armenien zu unterstützen. Bis dahin hatte sich Europa kaum eingemischt, aber nach Ende des Krieges ist man aufgewacht mit einer neuen Realität in der Region: Aserbaidschan hatte Armenien sieben Gebiete abgenommen, die zuvor als "Pufferzonen" fungiert hatten, und konnte auch Teil Berg-Karabachs unter seine Kontrolle bringen.
Auch dort leben die Menschen also jetzt unter autoritärer Herrschaft?
Genau. Russland hat dann ein Waffenstillstandsabkommen zwischen den Gegnern aufgesetzt, und erst zu dieser Zeit hat Europa angefangen, mal genauer auf diesen Konflikt zu schauen und zu verstehen, dass ein autoritärer Staat da mithilfe eines Angriffskrieges die Verhältnisse zu seinen Gunsten verändert hatte.
Was hat der Westen mit dieser Erkenntnis gemacht?
Die EU fördert Armenien mit den schon erwähnten Programmen und versucht auch, die Sicherheitslage der Menschen zu verbessern, vor allem in den Grenzregionen. An der armenisch-aserbaidschanischen Grenze sind seit Februar zivile Beobachter stationiert. Das ist wichtig, weil es Aserbaidschan schon etwas davon abschrecken kann, auch noch das Kerngebiet von Armenien anzugreifen.
Wie bemüht man sich um Frieden für die Region?
Recht konkret. Über Monate hinweg hat der Westen Verhandlungen gefördert. Aserbaidschans Machthaber Alijew und Armeniens Premier Paschinjan haben sich einige Male in Brüssel getroffen. EU-Ratspräsident Charles Michel hat gemeinsam mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz und Frankreichs Regierungschef Emmanuel Macron versucht, ein Friedensabkommen mit beiden Regierungschefs zu unterzeichnen. Auch deswegen ist die Reaktion des Westens meiner Ansicht nach jetzt so harsch: Weil Aserbaidschan all das über den Haufen wirft und wieder mit Waffen neue Realitäten schaffen will.
Was kann der Westen in der jetzigen Situation tun?
Mit dem versuchten Friedensprozess in der ersten Hälfte des Jahres hatten EU und USA den Russen die Initiative schon abgenommen. Das war konstruktiv, und man hat ganz konkret über strittige Punkte verhandeln können - Rechte, Sicherheiten, Austausch von Gefangenen. Dieser Prozess zwischen beiden Parteien, auf diplomatischem, friedlichem Weg, der muss weitergehen, und nur der Westen kann ihn voranbringen. Russland hat daran kein Interesse.
Mit Stephan Malerius sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de