Grünen-Chefin über Kiew-Reise "Putin terrorisiert die Gesellschaft"
06.10.2025, 15:34 Uhr Artikel anhören
Franziska Brantner an der Einschlagstelle einer russischen Iskander-Rakete in Kiew
(Foto: Philipp Töllner)
Zwei Tage Kiew - das bedeutet dieser Tage etwa zehn Mal Luftalarm. Grünen-Chefin Franziska Brantner ist in die Ukraine gereist und hat selbst im Luftschutzkeller gesessen. Nach Treffen mit Politikern, Kriegsversehrten und NGOs fordert sie im Gespräch mit ntv.de umso vehementer Hilfe für den Kampf gegen Putin.
ntv.de: Frau Brantner, nach zwei Tagen in Kiew: Wie haben Sie die Stadt wahrgenommen? Haben die Menschen im vierten Kriegsjahr noch Ressourcen?
Franziska Brantner: Wir haben Soldaten getroffen, die schon seit 2014 an der Front kämpfen. So lange wehrt sich die Ukraine schon gegen Russlands Angriff, das vergessen wir in Deutschland oft. In Kyjiw sind die Menschen, die wir getroffen haben, sehr müde. Aber sie halten durch und bewältigen ihren Alltag mit beeindruckender Überlebenskraft. Wir haben auf unserer Reise auch wegen der vielen Luftalarme nur wenig Schlaf bekommen. Wenn das aber über Wochen und Monate anhält, sind die Auswirkungen enorm. Das ist Teil der psychologischen Kriegsführung von Putin. Es ist ein Krieg, in dem nicht nur Soldaten verwundet und getötet werden, was schlimm genug ist. Putin terrorisiert die Gesellschaft, weil er hofft, dass sie irgendwann einfach nicht mehr kann.
Sie haben mit Politikerinnen, Korruptionsexperten, NGOs oder Kriegsversehrten gesprochen. Wo ist Hilfe am drängendsten nötig?
Die Abwehr der Luftangriffe ist am dringlichsten. Dafür brauchen die Ukrainer mehr Abwehrsysteme und Munition. Mit dem Wegfall der US-Hilfen läuft das Land Gefahr, seine Soldatinnen und Soldaten nicht mehr bezahlen zu können. Das ist wichtig, weil die ihre Familien ernähren müssen. Reha-Maßnahmen für Verwundete sind unterfinanziert, die Absicherung der Veteranen ebenso. Es fehlt also nicht allein an Waffen und Munition. Aber keine Frage, der Drohnenkrieg setzt der Ukraine zu. Da braucht es jetzt viel Unterstützung aus Europa. Die Drohnenabwehr ist ja auch für uns schon ein Thema. Was übrigens zeigt, dass wir aus Putins Sicht längst Kriegspartei sind. Es ist ein Krieg. Gegen die Ukraine führt Putin ihn mit Waffen. Gegen uns mit hybriden Methoden.
Sie denken an die Drohnen über dem Münchner Flughafen?
Zum Beispiel. Die technologischen Innovationen sind hier enorm. Wir können da viel von den Ukrainern lernen. Wir trafen in Kiew auch Kriegsversehrte. Sehr viele der verwundeten Ukrainer sind heute Drohnenopfer. Das hat sich in den fast vier Kriegsjahren seit der Vollinvasion stark verändert. Deswegen ist die Frage so wichtig, wie wir mehr dazu beitragen können, dass die Drohnen gar nicht erst auf ukrainischem Boden einschlagen können.
Was favorisieren Sie?
An uns wurden auf allen politischen Ebenen immer wieder zwei Wünsche herangetragen: Zum einen sollen wir endlich den Taurus liefern, den Merz fest versprochen hatte. Zum anderen sollen wir helfen, russische Drohnen schon im ukrainischen Luftraum abzufangen. Erst recht dann, wenn sich diese Drohnen im Anflug auf EU- oder Nato-Gebiet befinden. Diese Fragen können wir nicht einfach ignorieren.
Sie haben viele konkrete Vorschläge mit Blick auf die Sicherheit der Ukraine, sind jetzt aber in der Opposition. Was können Sie überhaupt bewirken?
Als Grüne habe ich im Bundestag Anfang des Jahres die Hand gehoben und für das Sondervermögen und die Reform der Schuldenbremse gestimmt …
… die es ohne Ihre Zustimmung nicht gegeben hätte.
Das war unser Beitrag als konstruktive, verantwortungsvolle Opposition, auch für die Verteidigung und die Sicherheit der Ukraine. Was mich jetzt aber wütend macht: Für 2026 hat Verteidigungsminister Boris Pistorius einen Bedarf von 15,8 Milliarden Euro für die Ukraine angemeldet. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil aber hat den Bedarf jetzt auf knapp neun Milliarden Euro heruntergerechnet. Von dieser Regierung, die sich öffentlich für ihre Unterstützung rühmt, erwarte ich, dass sie der Ukraine zumindest so viel Geld zur Verfügung stellt, wie der eigene Verteidigungsminister für notwendig hält. Kanzler Merz und Klingbeil dürfen sich nicht länger aus der Verantwortung scholzen. Sie müssen ihre neuen Handlungsspielräume vollumfänglich ausschöpfen. An unserer kollektiven Sicherheit darf nicht gespart werden.
Deutschland streitet über knapp sieben Milliarden Euro, während etwa rund 200 Milliarden auf eingefrorenen russischen Konten herumliegen. Nur die Zinsen werden genutzt. Warum ist das so schwierig?
Da muss ich etwas ausholen: Es geht um etwa 185 Milliarden Euro, die die russische Zentralbank bei der Euroclear in Brüssel angelegt hat.
Der Kreml hatte außerhalb Russlands Geld angelegt, damit es für ihn arbeitet?
Genau. Dieses Geld wurde - wie vieles andere auch - sanktioniert, eingefroren. Der Kreml hat derzeit also keinen Zugriff darauf. Die große Gefahr ist jetzt: Diese EU-Sanktionen müssen alle sechs Monate erneuert werden - einstimmig. Und Ungarn ist da leider kein verlässlicher Partner. Sollte Ungarn in der nächsten Abstimmung nicht mehr die Hand dafür heben, dann muss die EU das Geld freigeben. Und würde damit dem russischen Präsidenten wieder Milliarden Euro in die Kriegskasse spülen. Das wäre eine absolute Katastrophe. Wir müssen also zum einen raus aus der Abhängigkeit von Ungarns Präsident Viktor Orbán. Und wir müssen das Geld endlich nutzen können. Ursula von der Leyen hat dazu gerade einen relevanten Vorschlag gemacht.
Wie würde der Plan der EU-Kommissionspräsidentin funktionieren?
Euroclear würde das Geld in EU-Anleihen investieren, die dann die EU-Kommission als Kredit an die Ukraine weitergibt. Orbán könnte mit diesem Konstrukt nicht mehr quertreiben. Mit diesem Darlehen könnte die Ukraine dann seine Verteidigung verlässlich zwei Jahre finanzieren und auch neue Waffen kaufen. Putin hat darauf gesetzt, dass die Ukraine aufgeben muss, wenn Trump der Ukraine die finanzielle Unterstützung streicht. Es wäre also die nötige europäische Antwort für die Ukraine. Apropos Trump: Sollte jetzt sein Friedensplan in Gaza Erfolg haben und er es schaffen, der Ukraine zu einem gerechten Frieden zu verhelfen, herrje, dann würde ich ihn persönlich für den Friedensnobelpreis vorschlagen. Den scheint er ja unbedingt zu wollen.
Wo ist der Haken am von-der-Leyen-Plan? Mindestens einen wird es ja geben.
Die Frage war immer: Wie finden wir eine rechtssichere Lösung, die potenziellen Anlegern nicht das Gefühl gibt, ihr Geld sei in der EU nicht sicher angelegt. Die Gefahr wäre dann, dass solche Anleger abwandern und unser Finanzsystem damit in eine Schieflage gerät. Mit dem von-der-Leyen-Vorschlag wäre dem vorgebaut, weil das russische Geld nicht enteignet wird und als eine Art zweite Sicherungskette die EU-Mitgliedstaaten bürgen.

Brantner mit einem Rada-Abgeordneten, der sich für Kiewer Luftschlags-Opfer einsetzt
(Foto: Philipp Töllner)
Warum das? Reichen 180 Milliarden nicht aus?
Doch! Es ist doch so: Angesichts der immensen Schäden, die Russland täglich verursacht, braucht die Ukraine dringend weitere Mittel. Und Russland ist völkerrechtlich zu Reparationszahlungen für diesen illegalen Angriffskrieg verpflichtet. Es ist daher nur richtig, dass schon heute diese Verpflichtungen genutzt werden, um die Ukraine erfolgreich gegen den Aggressor zu verteidigen. Man schlägt Putin sozusagen mit seinen eigenen Waffen. Die Idee ist also, dass die Ukraine die Reparationszahlungen nutzt, um die Kredite zurückzuzahlen. Falls Russland keine Reparationen zahlt, würden entweder EU-Mitgliedsstaaten Verantwortung übernehmen, oder sie könnten eben dann die russischen Vermögen enteignen und nutzen.
Davon sind nicht alle begeistert?
Natürlich sind das Ansätze, die von uns Mut erfordern. Aber an der Stelle mal kurz zurück ins Rehazentrum, das wir in Kyjiw besucht haben. Da war ein Rettungsassistent, der an der Front Verwundete vom Schlachtfeld geholt hat. Er ist dabei auf eine Mine getreten und hat ein Bein verloren, mit 21 Jahren. Dieser junge Mann hat Mut bewiesen. Es ist doch irre, was die sich dort abverlangen für ihre und unsere Freiheit. Sie geben ihre Gesundheit, ihr Leben. Wir nur Geld und Waffen. Das sollte uns unsere Freiheit wert sein. Dass Putin weiter gehen will als in die Ukraine, hat er allen klar gemacht.
Macht das eigentlich für Sie als Expertin den Reiz aus an "Ihren" Wirtschafts- und Energiethemen - die Verquickung mit Fragen wie Lebensgrundlagen und Sicherheit?
Energie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen leben können. In der Ukraine sehen wir das ganz deutlich. Diese Strategie des Aushungerns und Erfrierenlassens haben die Russen gegenüber der Ukraine schon mal angewandt. Die Erinnerung an den Holodomor, das Töten durch Aushungern, ist in der Ukraine noch sehr wach. In den 1930er-Jahren hat Moskau unter Stalin auf dem heutigen Gebiet der Ukraine Millionen von Menschen verhungern lassen. Damals war es die Nahrung, heute die Energieversorgung. Putins Ziel ist, das zivile Leben in der Ukraine zu zerstören.
Das heißt, Wirtschafts- und Energiepolitik ist weit internationaler als das manche Leute vielleicht einschätzen?
Ja, und es geht wirklich immer um Sicherheit. Alle, die damals sagten, die Gas-Pipeline Nord Stream 2 sei ein reines Wirtschaftsprojekt, haben Quatsch erzählt. Energieversorgung ist eine hochpolitische, hoch sicherheitsrelevante Frage. Sie bestimmt, wie abhängig wir sind, wie erpressbar wir sind und im Zweifel eben auch, wie verletzbar wir sind. Putin kennt einen Teil unserer Energieinfrastruktur bestens - die Gaspipelines, die Speicher. Ich erinnere daran, dass er zu Beginn der Vollinvasion Energie als Waffe gegen uns eingesetzt hat und wir eine extreme Gasmangellage hatten. Das alles waren Ergebnisse einer naiven Energie- und Ostpolitik. Diese Naivität ist gefährlich: Auch in vielen neuen digitalen Anwendungen steckt viel zu viel chinesische Software drin. Da müssen wir rechtzeitig gegensteuern. Wir brauchen europäische Bezugsquellen für unsere kritische Infrastruktur, um sie krisenfest zu machen. Auch wenn das anfangs teurer erscheint - auf lange Strecke fahren wir besser damit.
Internationales reizt Sie aber offenbar nicht nur als Sicherheitsthema. Sonst hätten Sie nicht in Tel Aviv, Buenos Aires und New York gelebt, oder? Wäre das Modell Baerbock auch etwas für Sie?
Ich habe tatsächlich lange Jahre und in unterschiedlichsten Regionen im Ausland gelebt. Da hätte ich gut bleiben können, für die UN arbeiten oder an einer Universität. Irgendwann habe ich mich aber bewusst entschieden, nach Deutschland zurückzukommen, weil ich mich sehr verbunden fühle mit unserem Land. Meine internationalen Erfahrungen möchte ich für uns nutzbar machen - das Wissen, die Kontakte. Auch, um bei uns die Demokratie hochzuhalten und - das hört sich jetzt pathetisch an - den Frieden in Europa zu sichern. Das ist eher mein Weg gewesen und bleibt es wohl auch.
Mit Franziska Brantner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de