Politik

Verkommen, unterwürfig, passiv Russischer Soziologe entsetzt über seine Landsleute

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Ein großer Teil der russischen Bevölkerung unterstützt den Krieg in der Ukraine.

Ein großer Teil der russischen Bevölkerung unterstützt den Krieg in der Ukraine.

(Foto: picture alliance/dpa/POOL)

Was denken eigentlich die Russen über den Krieg? Der russische Soziologe Lew Gudkow führt regelmäßig Meinungsumfragen dazu durch und sagt: "Ich war schockiert über das Ausmaß der Zustimmung zu diesem Krieg." Die russische Gesellschaft habe sich als "noch verkommener, noch unterwürfiger und passiver" erwiesen.

Der bekannte russische Soziologe und Leiter des Lewada-Zentrums, Lew Gudkow, hat gegenüber dem Journal "Nowaja Polscha" erzählt, dass er entsetzt über die Reaktion seiner Landsleute auf die Invasion in der Ukraine gewesen sei: "Ich war schockiert über das Ausmaß der Zustimmung zu diesem Krieg. Ich hatte eine viel schärfere und negativere öffentliche Reaktion auf die Kriegserklärung erwartet." Doch die Gesellschaft habe sich als "noch verkommener, noch unterwürfiger und passiver" erwiesen. Man könne, so Gudkow, gar "von einem amoralischen Zustand" sprechen, der sich durch eine Mischung aus "Apathie, Opportunismus und Zynismus" auszeichne.

Viele Menschen in Russland seien unfähig, sich selbst nüchtern zu betrachten und sich dem repressiven Regime zu widersetzen. Der Soziologe des einzigen unabhängigen Umfrageinstituts in Russland spricht von einem "sehr kleinen Teil der Gesellschaft" von vielleicht 10 bis 12 Prozent, der wirklich "scharf gegen Putin, gegen den Krieg" sei.

Dass sich daran auch im Verlauf des Krieges nichts geändert hat, liegt laut Gudkow zum einen an der staatlichen Zensur von Medien. So würden in Russland beispielsweise keinen genauen Opferzahlen veröffentlicht, sondern höchstens beschönigte Berichte. "Das Thema unterliegt der totalen Zensur", sagte Gudkow der "Nowaja Polscha". Somit könnten auch Meldungen zu Toten und Verwundeten die Unterstützung für den Krieg nicht wirklich schmälern. "Die Informationen, die über informelle Kanäle, vor allem über Angehörige und Freunde der Toten, eintreffen, sind diffus und privater Natur. Dieser Mann wurde getötet, jener Mann wurde getötet, aber ein vollständiges Bild über das Ausmaß der Opfer und Verluste entsteht nicht."

Weil er sich ohne Angst vor Repressionen für eine unabhängige Wissenschaft einsetzt, wurde Lew Gudkow 2017 in Köln mit dem Lew-Kopelew-Preis ausgezeichnet.

Weil er sich ohne Angst vor Repressionen für eine unabhängige Wissenschaft einsetzt, wurde Lew Gudkow 2017 in Köln mit dem Lew-Kopelew-Preis ausgezeichnet.

(Foto: picture alliance / Hermann Wöstmann/dpa)

Gudkow konstatiert zudem, dass die Opposition vollständig besiegt und zerstört und die Zivilgesellschaft zerschlagen worden sei. "Jeder Protest, jeder Widerstand wird massiv und schamlos unterdrückt." In Ermangelung einer Opposition erwartet er auch in der Zukunft keine radikalen Veränderungen. "Es ist wahrscheinlicher, dass nach der Niederlage eine Art Zank innerhalb der Eliten beginnt. Nach dem Abgang Putins wird es einen erbitterten Kampf um die Macht geben, aber das bedeutet nicht, dass sich die Aussicht auf Demokratie eröffnen wird."

Unterstützung für den Krieg bleibt ungebrochen

Gudkows Levada-Zentrum führt jeden Monat eine Umfrage zum russischen Krieg in der Ukraine durch. Seit dessen Beginn sei das Bild "so ziemlich dasselbe", so der Soziologe. Der Grad der Unterstützung für den Krieg liege bei 70 bis 75 Prozent. Gleichzeitig gebe es trotz der hohen Zustimmung zum Krieg keinen inneren Antrieb, zu kämpfen. Mehr als 50 Prozent der befragten Russen wünschten sich eine Einstellung der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Friedensverhandlungen, was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint.

Juliane Fürst vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung schrieb dazu in einem Gastbeitrag für ntv.de: "Was gegensätzlich erscheint, muss nicht unbedingt auf Fehler in den Umfragen hindeuten. Im Gegenteil, widersprüchliche Meinungen sind (nicht nur) in Russland nichts Neues. Im Spätsozialismus wurde die sowjetische Politik und Wirklichkeit von der Bevölkerung weitestgehend abgelehnt und kritisiert. Jedoch wurde weiterhin in diesem System gearbeitet, Befehle wurden ausgeführt. Die absolute Mehrzahl der Sowjetbürger hätte sich auch damals als Patrioten bezeichnet."

Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja sagte ntv.de letztes Jahr mit Blick auf die hohen Zustimmungswerte für Putins Krieg: "Ich vertraue den Umfragen des Lewada-Zentrums. Die Ergebnisse decken sich mit Umfragewerten des staatlichen WZIOM-Instituts."

Soziologe hält Festnahme für realistisch

Mehr zum Thema

Lewada-Leiter Gudkow bezeichnet sich mit Blick auf das heutige Russland als "Pathologen einer gescheiterten oder toten Demokratie." Man habe vielleicht mal eine Demokratie gehabt, aber diese sei tot. "Das Einzige, was uns bleibt, ist zu diagnostizieren und herauszufinden, woran der Kranke gestorben ist."

Wie lange er noch weiter arbeiten kann, ist unklar. Es könne zudem jeden Moment passieren, dass die Behörden bei ihm klopfen: "Natürlich warten wir auf sie, daran besteht kein Zweifel. Es kann jeden Moment passieren. Sobald wir anfangen, einen Rückgang der Zustimmungsraten für Putin zu zeigen, werden wir aufgefressen und liquidiert."

Quelle: ntv.de, rog

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen