Was die Opposition in Kiew denkt "Wir haben es der Bevölkerung zu bequem gemacht"
06.03.2023, 19:53 Uhr
Präsident Selenskyj legt bis heute großen Wert darauf, mit der Bevölkerung in Kontakt zu bleiben.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Wolodymyr Selenskyj steht als Präsident immer stellvertretend für die Ukraine, aber was sagt die Opposition im Land? Ivanna Klympush-Tsintadze war Vize-Premier in Kiew und saß vor kurzem auf einem Panel im "Café Kyiv", einer großen Konferenz der Konrad Adenauer Stiftung. Mit ntv.de spricht sie über Fehler aus der Vergangenheit, den Siegeswillen ihrer Landsleute und darüber, was Munitionsdepots bedeuten, die in Flammen aufgehen.
ntv.de: In Deutschland behaupten manche, Selenskyj vertrete im Krieg vor allem seine eigene Überzeugung. Wie sehen Sie das als Politikerin der Opposition?
Ivanna Klympush-Tsintsadze: Ich bin bei wirklich vielen Themen anderer Meinung als Präsident Selenskyj, aber in dieser Frage stimmen wir voll überein: Freiheit, Souveränität und territoriale Integrität gibt es für die Ukraine nur, wenn wir den Krieg gewinnen. Um irgendeine Art von Verhandlung nach Ende des Krieges möglich zu machen, müssen wir dafür sorgen, dass wir uns selbst erhalten. Wir müssen das Land erhalten, die Nation, den Staat. Um das zu schaffen, müssen wir kämpfen.

Ivanna Klympush-Tsintadze war Vize-Premierministerin der Ukraine und sitzt heute für die Oppositionspartei "Europäische Solidarität" des früheren Präsidenten Petro Poroschenko im Parlament.
(Foto: Frauke Niemeyer)
Sie kämpfen schon seit einem Jahr - wie lange kann das Land noch durchhalten?
86 Prozent der ukrainischen Bevölkerung haben sich in der Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology dafür ausgesprochen, dass wir uns weiter gegen den russischen Angriff verteidigen. Dieser große Zuspruch rührt aus der Erkenntnis der Menschen, dass unser Überleben vom Sieg abhängt.
Vor kurzem waren in Deutschland einige Tausend Menschen auf der Straße, um gegen weitere Waffen für die Ukraine zu protestieren. Sie fordern Verhandlungen, jetzt.
Diese Menschen denken: Es muss doch möglich sein, dass du mit jemandem verhandelst, der deine Kinder entführt, der unter Zwang deine Mitbürger deportiert, deine Landsleute foltert und vergewaltigt. Aber man kann nicht mit einem Terroristen verhandeln. Was diese Leute, die gegen Waffenlieferungen protestieren, nicht verstehen, ist folgendes: Die wichtigste humanitäre Hilfe, die man der Ukraine derzeit geben kann, sind Waffen. Nichts anderes. Uns fehlen die Instrumente, die Ausstattung und Waffen. Aber den Mut, die Tapferkeit, die Einigkeit, um den Angreifer zurückzustoßen - die haben wir.
86 Prozent Unterstützung heißt, 14 Prozent wollen den Kampf nicht fortsetzen. Sind die in der öffentlichen Debatte sichtbar? Gibt es überhaupt eine Debatte?
Ich habe nicht das Gefühl, dass die 14 Prozent mit einer anderen Meinung versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Das Recht dazu wird ihnen nicht verweigert, aber sie gehören eher nicht zum aktiven Teil der Gesellschaft. Diese 14 Prozent, die den Kampf nicht unterstützen, sind auch nicht automatisch der Meinung, dass wir uns ausliefern sollen. Da sind auch andere Positionen möglich. Sie denken vielleicht, wir könnten unser Überleben auf anderem Wege sichern.
Kaja Kallas, die Regierungschefin von Estland, hat neulich gesagt, der Westen habe 2014 den Fehler gemacht, Russland keine Grenzen aufzuzeigen. Welche Fehler hat die Ukraine selbst gemacht?
Vor allem haben wir - ich war nach 2014 einige Jahre in der Regierung - es unserer Bevölkerung zu bequem gemacht. Der Krieg, der die ganzen Jahre lief, hat den Alltag der meisten Ukrainer nicht berührt. Sie haben einfach weiter ihr Leben gelebt. Wenn meine Partei gewarnt hat, dass Russland den Krieg eskalieren würde, brutaler werden würde, wurden wir abgestempelt, als seien wir verrückt.
Wenige Tage vor dem 24. Februar vergangenen Jahres sagte Präsident Selenskyj in Deutschland, es werde keine Invasion Russlands geben.
Meine Partei hat lange Zeit immer wieder davor gewarnt, dass ein großer Krieg kommen würde. Wir hatten nach 2014 über Jahre durch die Verhandlungen mit Russland zu tun. Darum war für uns viel offensichtlicher als für andere, was auf uns zukam. 2019 wollte uns niemand hören, wir wurden die "Partei des Krieges" genannt.
Spielte die mögliche Bedrohung durch Russland eine Rolle im Wahlkampf 2019?
Definitiv.
Haben Ihnen Ihre Warnungen geschadet?
Ebenfalls: Ja. Vor einem Jahr hat sich herausgestellt, dass wir richtig lagen. Mit den Minsker Abkommen haben wir nur Zeit erkauft. Immerhin, sie erlaubten uns, unser Militär zu trainieren und besser auszustatten. Wir konnten unsere Truppen so befähigen, dass sie in der Lage waren, die Russen zurückzuschlagen.
Wenn Sie sagen, Sie hätten es Ihren Landsleuten nach 2014 zu bequem gemacht - was hätten Sie anders machen müssen?
Zum einen haben wir nicht auf Kriegswirtschaft umgestellt, das war ein Fehler. Zusätzliche Programme, die wir eingerichtet hatten, um Waffen produzieren zu können, wurden leider 2019 beendet. Und Leute, die nicht nahe an der Frontlinie lebten, haben einfach weitergemacht wie zuvor. Manche verklärten Russland in nostalgischer Erinnerung ihrer Jugend, als die Ukraine Teil der Sowjetunion war. Wir haben nicht genug getan, um der Bevölkerung klarzumachen, wie existenziell uns Russland bedroht. Diese Erkenntnis war selbst für Ukrainer ein Prozess. Viele Menschen mussten nach dem 24. Februar 2022 total umdenken.
Wurde dieser Umdenkprozess nur durch die Erinnerung an alte Zeiten behindert?
Es gab auch russische Narrative, die konstant bei uns einsickerten. Durch russisches Fernsehen, das wir 2016 abgestellt haben. Durch russische soziale Netzwerke, denen wir den Zugang gesperrt haben. Darauf folgte eine große Debatte mit Kollegen im Westen.
Über den Wert der freien Meinungsäußerung? War das der Punkt Ihrer westlichen Kollegen?
Darum ging es in dieser Debatte, aber in den russischen sozialen Netzwerken geht es nicht um Meinungsfreiheit, sondern darum, die Gesellschaft von innen heraus zu unterminieren. Sie hatten das Ziel, zersetzende Kräfte in der Ukraine zu formieren. In jener Zeit gingen zum Beispiel einige unserer Munitionsdepots in Flammen auf, aber nur wenige Menschen konnten damals begreifen, dass dies eine subversive Aktion Russlands war. Erst jetzt in der Rückschau haben wir verstanden, dass das Attacken aus Moskau waren.
Wo liegen heute die größten Gefahren?
Jetzt habe ich Angst, dass die Menschen im Westen sich daran gewöhnen, dass dieser Krieg tobt. Dass keine Seite richtig große Gewinne erzielt, sondern eine Art Pattsituation entsteht und der Westen das Interesse verliert. Die Menschen im Westen müssen verstehen, was auf dem Spiel steht: Wenn wir Ukrainer fallen, dann wird es auch Georgien und Moldau bald nicht mehr geben. Dann schreitet Russland weiter voran und kann die Ostflanke der NATO angreifen.
Was kann Putin dauerhaft aufhalten?
Russlands vollständige militärische Niederlage, Isolation und Bestrafung. Die Sanktionen dürfen nach Ende des Krieges auf keinen Fall gelockert werden. Russland muss bis zu dem Punkt geschwächt werden, an dem es nicht mehr in der Lage ist, seine Angriffsfähigkeit wiederherzustellen.
Das wäre Ihre Sicherheitsgarantie, statt Verträge?
Wissen Sie was: Wir hatten Sicherheitsgarantien im Budapester Memorandum, ...
... das 1994 unterzeichnet wurde. Die Ukraine willigte ein, ihr Atomwaffenarsenal, das drittgrößte der Welt damals, abzugeben. Die USA, Großbritannien und Russland garantierten für ihre Sicherheit.
Und wir haben 2014 auf diese gepocht, als Russland angegriffen hat, aber ohne Erfolg. Sicherheitsgarantien bringen gar nichts. Ich glaube, die einzige Sicherheitsgarantie, die wirklich funktionieren würde, wäre die NATO-Mitgliedschaft. Und nicht nur in unserem Interesse, auch im Interesse der NATO-Staaten. Wenn wir nicht reinkommen, verlieren sie alles, wofür sie eigentlich einstehen wollen.
Und jenseits von Moral, wie argumentieren Sie noch für Kiews NATO-Beitritt?
Mit Kosten. Es wird den Westen enorm viel Geld kosten, wenn wir nicht Mitglied werden. Denn das bedeutet erstens, dass die Ukraine so weit aufgerüstet werden muss, dass sie immer, zu jedem Zeitpunkt, in der Lage ist, eine russische Attacke selbst abzuwehren. Zweitens hätte Putin sein Ziel erreicht, ...
... einen NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern.
Er wird seine Kräfte sammeln und wieder angreifen. Wieder würde die Ukraine viel militärische Hilfe benötigen, und das wird teuer. Also auch wirtschaftlich gedacht: Es ist viel billiger für die NATO, uns mit drin zu haben statt draußen. Plus: Die militärische Erfahrung, die wir in diesem Krieg gegen Russland sammeln, hat niemand anderes außer uns. Nach dem Krieg trainieren wir die Soldaten im Westen, nicht mehr umgekehrt.
In den hiesigen Medien wurden vor kurzem einige Korruptionsfälle aus der ukrainischen Regierung bekannt. Wie groß ist das Problem?
Es gab eine Verhaftung des Vize-Regionalministers wegen Schmiergelds. Journalisten erhoben Vorwürfe wegen möglicher Korruption bei der Verteilung von Nahrungsmitteln für Soldaten. Zuletzt wurden einige Leute aus dem Verteidigungsministerium entlassen.
So etwas füttert das Narrativ, dass die Ukraine ein korrupter Staat ist.
Worauf wir achten müssen: Es darf für diese Leute nicht mit der Entlassung getan sein, sondern diese Fälle müssen verfolgt und vor Gericht gebracht werden. Das ist entscheidend für uns, denn die ukrainische Gesellschaft hat derzeit nicht null Toleranz gegenüber Korruption, sondern weniger als null. Sie liegt im Minusbereich - eben wegen des Krieges, wegen der Verluste, da ist absolut kein Puffer mehr.
Wie sehr schaden solche Fälle dem Vertrauen der Ukrainer in ihre Regierung?
Die Leute resignieren nicht, sie regen sich auf. "Geht’s noch? Was ist da denn los?"- das ist die Art Reaktion in der Bevölkerung. Es kommt viel Druck aus der Öffentlichkeit und den brauchen wir. Es ist nicht so, dass die Ukraine mit Korruption kein Problem mehr hätte. Wichtig ist aber, dass wir Instrumente geschaffen haben, Behörden eingerichtet, um Korruption zu verfolgen. Das war auch ein Teil des Prozesses, als wir Visafreiheit für die EU erlangt haben. Diese Instrumente müssen wir nutzen. Korruptionsfälle gibt es überall, denken Sie an die Vizepräsidentin des EU-Parlaments. Entscheidend ist, wie man darauf antwortet.
Mit Ivanna Klympush-Tsintsadze sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de