Groll und Verachtung Was denken die Russen über den Krieg?
04.03.2023, 09:17 Uhr
Am 22. Februar ließ Putin sich und seinen Krieg im Luschniki-Stadion in Moskau feiern. Aber wenn er dort verkündet hätte, dass der Krieg beendet wird, hätten die Massen das auch akzeptiert.
(Foto: IMAGO/SNA)
Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Russen den Krieg in der Ukraine unterstützt. Diese Zahlen sind umstritten: Wer sagt in einer Diktatur schon die Wahrheit? Und doch ist klar, dass Putins Propaganda in Russland einen Nerv trifft, weil sie historisch gewachsene Feindbilder mobilisiert.
Seit Beginn des Kriegs rätselt der Westen, ob und wie sehr die russische Öffentlichkeit die Invasion in die Ukraine unterstützt. Die einfachste Antwort auf diese Frage lautet, dass die russische Gesellschaft im Moment nicht denkt und nicht denken will. Hinter dieser flapsigen Aussage steckt ein harter Wahrheitskern. Die russische Gesellschaft hat sich zu weiten Teilen in ein apolitisches Schweigen geflüchtet. Unter Nachbarn und Kollegen gilt es als unerwünscht, über den Krieg zu sprechen, der öffentlich so nicht genannt werden darf. Die Restaurants sind gefüllt. Die Kinos und Theater zeigen Programm. Die Geschäfte sind offen. In Moskau, St. Petersburg und Swerdlowsk lebt man, als ob nichts geschehen sei, obwohl doch jeder weiß, dass alles anders ist. Die Ukraine ist Thema sowohl durch ihre Präsenz in den öffentlichen Medien als auch durch ihre Abwesenheit im allgemeinen Gespräch.
Was unter dieser Decke des Sich-nicht-kümmern-wollen wirklich gedacht wird, ist schwer zu fassen. Eindrücke hängen stark vom Standpunkt des Betrachters ab. Diejenigen, die sich im Umfeld Moskauer und St. Petersburger Intellektueller aufhalten, sind oft der Meinung, dass die meisten Russen und Russinnen den Krieg ablehnen. Eine gegenteilige Wahrnehmung hat, wer Verwandte oder Freunde in der russischen Mittelschicht oder Kontakte in die Provinz hat. Jüngere Generationen, die über die sozialen Medien vernetzt sind, sprechen mit kritischeren Stimmen. Die ältere Generation verlässt sich größtenteils standhaft auf das russische Fernsehen - und damit auf Putin. Das Bild in Russland ist noch immer heterogen. Einzelkämpfer wagen immer noch den Widerspruch. Es kommt sogar vor, dass Rekrutierungsbüros in Flammen aufgehen, angezündet offenbar mit dem Ziel, ein Zeichen zu setzen. Putins Anhängerschaft jedoch scheint sich nicht zu vermindern. Ein Aufstand des Volkes gegen den Kurs der Regierung ist mehr als unwahrscheinlich.
Die Umfragezahlen sind umstritten
Die harten Zahlen, mit denen man in anderen Zeiten so gerne die gesellschaftliche Meinung maß, sagen nur bedingt etwas aus. Jeden Monat veröffentlicht das Lewada Institut - ein Produkt der Reformen der 1980er-Jahre - seine Zahlen zur russischen Meinung zum Krieg. Aber diese Zahlen sind inzwischen selbst zum Konfliktfall geworden. Wie sehr kann man den Lewada-Umfragen vertrauen? Sind Leute noch bereit, offen ihre Meinung zu sagen? Und wenn ja, sagen sie die Wahrheit? Und sind das überhaupt die relevanten Fragen? Können Zahlen überhaupt etwas über die Ansichten von Leuten aussagen, die in einem so komplexen Umfeld von Verboten und Propaganda leben?
Die Diskussion über die Lewada-Zahlen basiert auf der Annahme, dass öffentliche Meinung logisch und in sich schlüssig ist. Jedoch zeigen schon die Resultate der Umfragen an sich, dass dem nicht so ist. So unterstützten im vergangenen Dezember 71 Prozent der Befragten die Spezialoperation vollkommen oder zumeist. Gleichzeitig waren aber 44 Prozent für sofortige Friedensgespräche, obwohl Russland seine Ziele bis jetzt nicht erreicht hat. Eine Umfrage nur zum internen Gebrauch, die zur gleichen Zeit für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB gemacht wurde, zeigte ein noch frappanteres Bild: Darin sind 55 Prozent der Befragten für Friedensgespräche und nur 25 Prozent für die Weiterführung des Krieges. Die Lewada-Zahlen für Januar 2023 jedoch zeigen einen Zuwachs der Befürworter des Krieges auf 75 Prozent. Die Frage nach Verhandlungen taucht in der neuen Statistik nicht mehr auf.
Innere Widersprüche gab es schon in der Sowjetunion
Was gegensätzlich erscheint, muss nicht unbedingt auf Fehler in den Umfragen hindeuten. Im Gegenteil, widersprüchliche Meinungen sind (nicht nur) in Russland nichts Neues. Im Spätsozialismus wurde die sowjetische Politik und Wirklichkeit von der Bevölkerung weitestgehend abgelehnt und kritisiert. Jedoch wurde weiterhin in diesem System gearbeitet, Befehle wurden ausgeführt. Die absolute Mehrzahl der Sowjetbürger hätte sich auch damals als Patrioten bezeichnet. Und vor allem im Krieg heißt Patriotismus: Unterstützung des Staates, vor allem wenn der Krieg als Feldzug gegen den Westen verkauft wird.
Das heißt nicht, dass eine solche Ergebenheit dem Regime gegenüber frei von Kritik wäre. In dem Dokumentarfilm "Broken Ties" von Andrey Loshak kann man diesen gelebten Widerspruch sehr gut sehen. Die Mutter einer in London lebenden russischen Psychologin weigert sich allen Versuchen der Tochter zum Trotz, den Krieg zu verurteilen. Sie ist bedingungslos für ihren Präsidenten. Gleichzeitig ist ihr sehr wohl bewusst, dass ihr eigenes Haus am Rande von Kaliningrad, in welchem es weder Gas noch eine Ölheizung gibt, ein Versagen des Systems darstellt. Jahrelang hatte der Staat gerade diese Ressourcen in den Westen verkauft, ohne sich groß um die Infrastruktur und sozialen Verhältnisse außerhalb der Metropolen zu kümmern.
Die Kaliningrader Babuschka ist nicht die einzige Repräsentantin der älteren Generation, die das so sieht. Trotz der hohen Unterstützung unter den über 55-Jährigen für den Krieg (laut Lewada 82 Prozent im Januar 2023), sollte man nicht vergessen, dass diese soziale Gruppe in der Vergangenheit sehr wohl auch gegen Putin protestierte, wenn es um ihre eigenen Belange ging. 2018 sorgten heftige Demonstrationen gegen das Herabsetzen des Rentenalters für Schlagzeilen und schlechte Umfragewerte für Putin und Medwedew.
Stalin wird in Russland noch immer als großer Staatsmann gesehen
Solche Widersprüche deuten darauf hin, dass ein besseres Bild vom derzeitigen russischen Gemütszustand entsteht, wenn man die Zahlen für einen Moment beiseiteschiebt und direkt auf die russische Gesellschaft schaut. Vor allem muss man sich dabei klarmachen, dass die zentralen Grundpfeiler der russischen Selbstwahrnehmung noch immer aus der Sowjetzeit stammen und damit auf einer jahrzehntelangen Basis aufbauen. Putins Propaganda eines wiedererstarkten Russlands trifft bei seinen Untertanen auf einen stark ausgeprägten Glauben, dass das eigene Glück mit der Macht Russlands verflochten ist.
Anders gesagt: Für viele Russen ist das eigene Wohlbefinden abhängig von der Größe und Geltung ihres Landes. Für diese Größe ist man bereit, sowohl persönlich als auch gesellschaftlich Opfer zu bringen. Deshalb verzeiht ein großer Teil der Bevölkerung Stalin seine Verbrechen, führte er doch die Sowjetunion zum Sieg im Zweiten Weltkrieg. (Stalin liegt bei Umfragen der beliebtesten Staatsmänner seit Jahren auf Platz eins oder zwei.) Deshalb war und ist Gorbatschow verhasst, denn er war es, der das Imperium verlor. Auf diese Vorstellung von imperialer Größe, die Vorrang vor Recht und Wohlstand hat, baut auch Putin mit seinem Ukrainefeldzug. Auch ihm wird verziehen, so glaubt er jedenfalls, dass hunderttausende russische Soldaten getötet werden, wenn er nur Russland größer und mächtiger macht.
"Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns"
Kurzfristig muss jedoch auch Putin mit Gegenwehr rechnen - wie er von den Pensionärsprotesten oder den Lastwagenfahrerstreiks im Fernen Osten weiß, manchmal auch aus Teilen der Gesellschaft, die ihn normalerweise unterstützen. Die Mobilmachung war daher ein Risiko, und eine Schließung der Grenzen, um die Ausreise von Rekruten zu verhindern, gab es nicht. Allerdings ließ Putins letzte Rede kurz vor dem Jahrestag der Invasion darauf schließen, dass die Regierung die russische Gesellschaft auf einen langen und opferreichen Krieg einstimmt. Eine neue Mobilisierung gilt als wahrscheinlich. Die Folgen der Sanktionen werden sich bald stärker zeigen, da wichtige Ersatzteile für Autos, Elektronik, medizinische Geräte und ähnliches bald ausgehen werden. Im Austausch für die zu erwartenden materiellen und emotionalen Schäden bietet die Regierung einen gemeinsam ausgelebten Hass auf den Westen an - und auch auf die, die sich in den letzten Monaten für den Westen entschieden haben und sich dorthin flüchteten. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns, war die Parole, mit der Putin zum Jahrestag der Invasion die Einheit des russischen Volkes beschwor.
Auch das Narrativ des Westens als verführerischer Feind des authentischen Russlands hat eine lange sowjetische Tradition. De facto kam der Westen in der späten Sowjetunion gleich nach dem Himmelreich - ein verbotenes Schlaraffenland des Konsums aller Art. Aber die sowjetische Liebe zu Levis, Wrangler und Burda-Moden sollte nicht verdecken, dass auf ideologisch-moralischer Ebene Sowjetbürger sich dem Westen weit überlegen fühlten und ihn aus genau den Gründen verachteten, für die sie ihn beneideten. Der Westen war materialistisch, konsumorientiert und spirituell verarmt. Und als solcher existiert er noch immer in den Köpfen der russischen Gesellschaft.
Groll und Verachtung
Der Westen als Feind, Verräter und Verführer der eigenen Leute ist ein Bild, das Putin nur reaktivieren musste - und eines, das die Kraft hatte, über all die negativen Gefühle hinwegzutrösten, die die 1990er Jahre und ihre wirtschaftlichen Härten hervorriefen. Der Soziologe Gregori Iudin nennt es das Narrativ des Grolls. Dieses Narrativ schürt unter der russischen Bevölkerung ein ständiges Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins bei gleichzeitigem Anspruch auf Einzigartigkeit und Vorherrschaft.
Es ist aber auch so, dass neben Groll und Verachtung andere Faktoren gibt, die das russische Weltbild bestimmen. Sowohl die Sowjetunion als auch Russland beschrieben sich fortwährend als friedliebend und sogar friedensstiftend. Noch aus kommunistischen Zeiten ist man gewohnt, international zu denken und zu handeln. Was im Moment wie Hohn klingt, hat sein eigenes Kraftpotenzial. Genauso wie die negativen Gefühle und Weltbilder durch Propaganda mobilisiert werden, so könnte auch an etablierte Emotionen und Vorstellungen appelliert werden, die eine Beendigung des Krieges einleiten könnten.
Putins Massenkundgebung im Luschniki-Stadion vor Tausenden von Zuhörern zeigt die Ambivalenz, die selbst kriegsunterstützenden Handlungen zu Grunde liegt. Ohne Zweifel zeugten die Anwesenheit und der Applaus von Zustimmung, obwohl die Zuschauer zum großen Teil zur Veranstaltung beordert wurden. Interviews mit Leuten in der Menge produzierten die gängige Rhetorik über ukrainische "Nazisten" und die Aggression des Westens. Nach der Veranstaltung bestiegen viele der zumeist aus der Provinz zugereisten Gäste die Metro, um sich Moskau anzuschauen. Die russischen Fahnen stapelten sich am Eingang zur Station. So sehr hing man also doch nicht am Symbol russischer Größe. Und ganz aufs Vergnügen wollte man auch nicht verzichten. Aber wenn man Putin am nächsten Tag ein weiteres Mal hätte zujubeln sollen, dann hätte man es getan. Und wenn Putin dann gesagt hätte, dass man fertig sei in der Ukraine und sich zurückziehe, dann wäre das von der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung auch akzeptiert worden. Die Wut, der Groll und die Sucht nach Großmacht wären dann bis auf Abruf wieder verstaut worden.
Es ist nicht nur Putins Krieg, aber ohne Putin gäbe es diesen Krieg nicht
Das ist nicht passiert und wird leider auch wahrscheinlich so nie passieren. Stattdessen unterfüttern die historisch gewachsenen und propagandistisch angeheizten negativen Gefühle das russische Meinungsbild und vertiefen die Trotzhaltung. Eine tiefgreifende Änderung in der Haltung der russischen Gesellschaft wird erst eintreten, wenn die gelebte Realität und der emotionale Erwartungshorizont weit auseinanderklaffen, zum Beispiel wenn Russlands Verluste auf dem Schlachtfeld auch die Bevölkerung in den urbanen Zentren im Inneren des Landes erreichen oder wenn ein Sieg aussichtslos wird. Die Rhetorik in der ethnisch nicht-russischen Peripherie, in den Gebieten, aus denen die meisten Soldaten rekrutiert werden, wie etwa Buratien oder Dagestan, ist schon jetzt eine andere. Hier werden oft materielle Gründe für einen Kriegseinsatz in den Vordergrund gestellt. In der Armee wird gut gezahlt. Die Mär von den Nazis in der Ukraine kommt hier nur bedingt an.
Ein Jahr nach Beginn des Angriffskriegs ist klar, dass es nicht nur Putins Krieg ist, der geführt wird. Dafür sprechen die Umfragen unter der russischen Bevölkerung zu laut. Dafür gibt es genügend Beweise in den sozialen Medien und anderswo. Aber ohne Putin würde dieser Krieg nicht geführt werden. Die Akzeptanz des Krieges beruht zum großen Teil auf der Akzeptanz von Putins Interpretation der Welt. Eine große, fanatische Bewegung in der Bevölkerung, die den Krieg antreibt, gab es und gibt es nicht. Wäre morgen die Parole Frieden statt Krieg, dann würde die Meinung der russischen Gesellschaft wahrscheinlich darauf einschwenken.
Juliane Fürst ist Historikerin und Leiterin der Abteilung "Kommunismus und Gesellschaft" am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam.
Quelle: ntv.de