Stromnot durch russische Raketen Für den Winter baut die Ukraine "Frankenstein-Einheiten"
16.06.2024, 08:32 Uhr Artikel anhören
Ein DTEK-Mitarbeiter prüft Anfang Mai die Zerstörungen in einem Kraftwerk des Unternehmens.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Russland hat so viele Kraftwerke in der Ukraine zerstört, dass die Hälfte der Stromproduktion ausgefallen ist. Das ist schon jetzt schwierig, im Sommer - im Winter könnte es katastrophal werden. Dmytro Sakharuk vom ukrainischen Energiekonzern DTEK sagt im Interview mit ntv.de, nötig sei nicht nur eine Reparatur von beschädigten Kraftwerken, sondern auch mehr Luftabwehr und eine Erhöhung der Stromimporte aus den Nachbarländern.
Mittelfristig brauche die ukrainische Stromerzeugung eine dezentrale Stromversorgung. Und mehr Erneuerbare, denn die seien widerstandsfähiger, so Sakharuk: "Natürlich können auch Windturbinen und Solarpaneele angegriffen werden, aber die Russen müssten dafür viel mehr Ressourcen aufwenden, weil die Anlagen über ein riesiges Gebiet verteilt sind. Und sie sind definitiv einfacher und schneller zu reparieren."

Dmytro Sakharuk ist Geschäftsführer von DTEK, dem größten privaten Energiekonzern in der Ukraine.
(Foto: DTEK)
ntv.de: Präsident Selenskyj sagte am Dienstag auf der Wiederaufbaukonferenz in Berlin, russische Raketen- und Drohnenangriffe hätten die Hälfte der Stromerzeugungskapazität der Ukraine zerstört. Wie stark ist Ihr Unternehmen betroffen?
Dmytro Sakharuk: Vor dieser Angriffswelle, also vor dem 22. März dieses Jahres, verfügten wir über sechs Wärmekraftwerke.
Kohle oder Gas?
Kohle. Sie waren schon in der vorherigen Welle zwischen Oktober 2022 und Februar 2023 angegriffen worden, aber wir haben sie repariert. In diesem Jahr gab es sechs Angriffe auf unsere Kraftwerke: zwei im März, zwei im April, einer im Mai und einer im Juni. Die insgesamt verfügbare Leistung dieser sechs Kraftwerke betrug 5 Gigawatt. Derzeit stehen uns 500 Megawatt zur Stromproduktion zur Verfügung. Im Grunde sind wir auf 10 Prozent gesunken, von 5 Gigawatt auf 500 Megawatt. Wir versuchen, bis zum Beginn der Heizperiode mindestens die Hälfte dessen wiederherzustellen, was beschädigt oder zerstört wurde.
Also bis Oktober?
Je nachdem, wie man zählt. Traditionell beginnt die Heizsaison in der Ukraine am 15. Oktober. Aufgrund des ungewöhnlich warmen Wetters haben die Behörden im vergangenen Jahr beschlossen, den Termin auf den 1. November zu verschieben. Um die Hälfte der Schäden zu reparieren, brauchen wir 350 bis 400 Millionen Dollar - hauptsächlich für die Anschaffung von Transformatoren, Turbinen, Generatoren. Das Problem ist, dass Unternehmen so etwas nicht im Regal liegen haben. In der Regel werden solche Geräte für die jeweilige Anlage gefertigt. Deshalb ist die Vorlaufzeit lang und natürlich muss eine Vorauszahlung geleistet werden.
Können Sie die Kraftwerke denn reparieren?
In diesem Jahr könnte es zumindest teilweise eine kurzfristige Lösung geben. Wir bekommen vielleicht Material aus Kraftwerken, die während der Sowjetzeit in Ländern wie Polen, der Tschechischen Republik, Bulgarien, Rumänien und Griechenland gebaut wurden. Gemeinsam mit dem ukrainischen Energieministerium und Energieunternehmen der Ukraine besuchen wir diese Anlagen bereits. Viele von ihnen wurden oder werden aufgrund von ökologischen Vorschriften geschlossen. Wir prüfen, was in der Ukraine verwendet werden kann.
Sind Sie fündig geworden?
Wir haben einiges gefunden - nicht alles, was wir brauchen, und natürlich ist es gebraucht. Aber es sollte möglich sein, das Material zu reparieren, zu warten, auf Lastwagen zu verladen und in die Ukraine zu transportieren. Das ist der schnellste Weg, zumindest einen Teil unserer Stromerzeugungskapazität wiederherzustellen. Natürlich passt das Material nicht immer. Ein bisschen werden unsere Kraftwerksblöcke Frankenstein-Einheiten sein.
Haben Sie genügend Ingenieure und Arbeiter, um die beschädigten Leitungen und Anlagen zu reparieren?
Ja. Wir beschäftigen 50.000 Mitarbeiter in den verschiedenen Sparten unseres Unternehmens. Bergleute zum Beispiel, die jetzt bei der Reparatur von Anlagen, Umspannwerken und Leitungen helfen. Allerdings haben wir einen Mangel an Fachkräften, die das Material aus den alten Kraftwerken in den Nachbarländern anpassen können. Das Ausmaß der Zerstörung ist so groß, dass wir dafür nicht genug Ingenieure haben. Außerdem fehlt uns Personal, um die Geräte abzubauen und dorthin zu transportieren, wo sie benötigt werden. Derzeit sind 5000 unserer Mitarbeiter in der Armee. 289 wurden als Soldaten getötet. 875 sind verletzt. 66 werden vermisst. Und wir haben auch zwölf Mitarbeiter, die in Gefangenschaft sind. Einige unserer Mitarbeiter sind bei der Arbeit ums Leben gekommen. Vier wurden getötet und 65 verletzt. Das ist der hohe Preis, den wir für den Betrieb von Kraftwerken zahlen. Man braucht Mitarbeiter für die Aufsicht der Blöcke - auch wenn Alarm ist. Wir reduzieren die Anzahl der Kollegen dann auf ein Minimum und haben zusätzliche Schutzmaßnahmen in die Kontrollräume eingebaut; sie tragen auch Schutzwesten und Helme. Aber es ist trotzdem sehr gefährlich. Diese Leute sind wie die Soldaten in Schützengräben.
Wie sehr werden diese Frankenstein-Blöcke helfen?
Sie werden nicht den gesamten Bedarf abdecken, vielleicht 15 oder 20 Prozent. Deshalb müssen wir auch neues Material beschaffen, denn an manchen Stellen ist es nicht möglich, altes Material zu verbauen - in Kontrollräumen zum Beispiel. Wir brauchen also Geld - der Finanzbedarf ist hoch und der Umsatz unseres Unternehmens gering. In der vorherigen Welle haben wir zehn Einheiten repariert und dafür 126 Millionen Dollar ausgegeben. Alle diese zehn Einheiten müssen jetzt erneut repariert werden. Wir hoffen auf internationale Unterstützung. Die ukrainische Regierung stellt möglicherweise kostengünstige Kredite bereit, oder internationale Institutionen wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung oder die Europäische Investitionsbank geben möglicherweise auch Darlehen, um die Ausrüstung zu beschaffen und die Arbeiten zu finanzieren. US Aid, die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit, hat bereits 46 Millionen Dollar für die Beschaffung von Ausrüstung bereitgestellt, dazu kommen 26 Millionen Dollar aus dem europäischen Energy Security Support Fund. Aber die Lücke ist immer noch riesig: Für alle Reparaturen brauchen wir 350 bis 400 Millionen Dollar. Und bis zum Beginn der Heizsaison sind es nur noch maximal 140 Tage.
Gibt es einen Unterschied zwischen den Angriffen seit März und der ersten Angriffswelle im Winter 2022/2023?
Während der ersten Welle hatten wir mehr Luftverteidigung. In diesem Frühjahr haben die Russen auf den Moment gewartet, in dem der Ukraine die Munition für die Flugabwehr ausging, weil es bei unseren amerikanischen und europäischen Partnern zu Verzögerungen kam. Das ist der Hauptfaktor: unsere Verteidigungsfähigkeit.
Im Moment versuchen wir, in allen Gesprächen zu erklären: Selbst wenn wir Geld, Ausrüstung und Leute haben, um die Arbeit zu erledigen, hat das keinen Sinn, wenn die Russen innerhalb eines Monats, einer Woche oder eines Tages einen weiteren Luftangriff starten und erneut unsere Kraftwerke zerstören.
Auf den ersten Blick scheint es unlogisch, dass die Russen mit dem Angriff auf die Energieinfrastruktur bis März gewartet haben.
Das war sehr logisch. Im Dezember, Januar und Februar schickten sie Tausende dieser billigen Shaheed-Drohnen, um unsere Verteidigung zu erschöpfen. Als sie merkten, dass unsere Vorräte fast auf Null gingen, wussten sie: Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, um Raketen zu schicken. Es reicht also nicht, wenn wir unsere Stromerzeugungskapazität wiederherstellen, wir müssen sie auch schützen können. Aber es gibt noch eine dritte Sache, die wir brauchen.
Was ist die dritte Sache?
Wir müssen unsere Energieimporte aus Europa erhöhen. Seit dem 16. März 2022 ist die Ukraine an das europäische Stromnetz angeschlossen. Derzeit beträgt die Verbindungskapazität 1,7 Gigawatt - das ist die kombinierte Kapazität aus Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Moldau. Rein technisch gesehen beträgt die Kapazität allerdings von 3,5 Gigawatt. Das Limit von 1,7 Gigawatt war eine Entscheidung des Europäischen Netzwerks der Übertragungsnetzbetreiber, ENTSO. Das ist das Forum, in dem Ingenieure entscheiden, wie viel Strom innerhalb des europäischen Netzes von einem Land in ein anderes übertragen werden darf. Sie verfolgen meist einen sehr konservativen Ansatz. Das war auch so, als unsere Energiesysteme synchronisiert wurden: Die ENTSO-Ingenieure sagten, es sei unmöglich, wir müssten zwei Jahre warten. Dank des politischen Drucks der Europäischen Kommission ist es im März passiert, und es funktioniert einwandfrei. Auf 3,5 Gigawatt werden wir wohl nicht kommen, aber 2,2 oder 2,5 sind durchaus machbar. Aus technischer Sicht ist alles bereit.
Wie viel Strom brauchen Sie?
Wir haben ein Stromdefizit von 2 Gigawatt in der Ukraine. Im Winter wird das auf 4 Gigawatt hochgehen, da viele Menschen Strom zum Heizen nutzen. Ein Anstieg der Energieimporte um 0,5 oder 0,7 Gigawatt könnte zwei oder drei beschädigte Blöcke ersetzen. Das könnte die Zeiten der Stromabschaltungen erheblich verringern.
Wie häufig muss denn der Strom abgestellt werden?
Derzeit muss der staatliche Übertragungsnetzbetreiber Ukrenergo den regionalen Unternehmen Limits setzen. Die regionalen Betreiber schalten die Kunden nach Zeitplänen ab. In Kiew beispielsweise hat DTEK für jeden Bezirk einen rollenden Zeitplan eingeführt: Die Menschen haben vier Stunden lang keinen Strom, dann fünf Stunden Strom - und so weiter. Wenn im Winter das Energiedefizit steigt, werden die Zeiträume ohne Strom deutlich länger sein: sieben Stunden ohne Strom, zwei Stunden mit Strom. Die Menschen werden in ihren Wohnungen bis zu 20 Stunden lang keinen Strom haben. Das ist ein riesiges Problem. 500 oder 700 Megawatt aus unseren Nachbarländern könnten unsere Situation deutlich entlasten. Das ist der dritte Schritt: wiederherstellen, verteidigen und mehr Stromimporte. Ein vierter Schritt, über den gerade viel gesprochen wird, ist die Installation dezentraler Energiequellen.
Ein dezentrales Energiesystem?
Ja, mit Gasturbinen und Generatoren. Die Ukraine sollte alles, was möglich ist, ins Land holen und neben wichtigen Infrastruktureinrichtungen wie Wasser- , Abwasser- und Heizungsanlagen installieren. Keines dieser Systeme funktioniert ohne Strom. Wenn es keinen Strom gibt, haben die Menschen keinen Strom, aber möglicherweise auch keine Wärme, kein Wasser und kein Abwasser. Dann werden Wohnungen unbewohnbar. Wie der Präsident am Dienstag sagte, haben wir 9 Gigawatt verloren. Die Möglichkeit, auch nur Teile davon zu ersetzen, ohne unser System zu dezentralisieren, ist begrenzt. Die Dezentralisierung unseres Energiesystems wird zwei bis drei Jahre dauern, deshalb müssen wir jetzt damit anfangen. Es geht nicht nur darum, Gasturbinen und Generatoren anzuschaffen, sondern auch darum, sie ins Netz zu integrieren. Das braucht Zeit. Dennoch ist es die schnellste und günstigste Lösung.
Was wären das für Generatoren?
Die kleinen Generatoren, an die wir denken, wären Gasturbinen mit einer Leistung von 25 Megawatt, oder Generatoren, die wie ein Schiffsmotor mit Diesel oder Benzin betrieben werden. Sie könnten bis zu 18 Megawatt produzieren. Mit genügend Generatoren könnten wir die wichtigen Infrastruktureinrichtungen unterhalten, die im Winter dringend benötigt werden, damit die Menschen in ihren Häusern bleiben können.
Welche Rolle spielen erneuerbare Energiesysteme in diesem Konzept?
Das ist das nächste Kapitel in der Entwicklung des ukrainischen Energiesystems. Der Anteil erneuerbarer Energien in der Ukraine ist auf elf Prozent gestiegen. Vor dem Krieg hatte unser Unternehmen 1,2 Gigawatt Solar- und Windkraftanlagen gebaut. Davon sind 500 Megawatt leider im besetzten Teil der Ukraine, im Süden, in dem Teil der Region Saporischschja, der von den Russen kontrolliert wird. Wir verfügen noch über zwei große Solaranlagen mit einer Leistung von 200 Megawatt. Während des Kriegs haben wir zusätzlich 114 Megawatt Windkraft gebaut. Im Süden können Städte wie Odessa und Mykolajiw dank unserer dortigen Windparks mit Strom versorgt werden, wenn die Umspannwerke in der Gegend zerstört werden.
Es ist wichtig, erneuerbare Energien auszubauen, weil sie widerstandsfähiger sind: Natürlich können auch Windturbinen und Solarpaneele angegriffen werden, aber die Russen müssten dafür viel mehr Ressourcen aufwenden, weil die Anlagen über ein riesiges Gebiet verteilt sind. Und sie sind definitiv einfacher und schneller zu reparieren.
Mit Dmytro Sakharuk sprachen Hubertus Volmer und Maryna Bratchyk
Quelle: ntv.de