Wiederaufbaukonferenz in Berlin Wie die Ukraine durch den Krieg kommen will


Russland greift seit März erneut und verstärkt Kraftwerke in der Ukraine an.
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Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten hat Russland die Hälfte der ukrainischen Stromkapazitäten zerstört. Die Energieversorgung dürfte das wichtigste Thema auf der Wiederaufbaukonferenz in Berlin sein.
Eine Wiederaufbaukonferenz mitten im Krieg? Wie sinnvoll das Treffen heute und morgen in Berlin ist, zeigt sich in der Ukraine in diesen Tagen. Seit Ende März, und verstärkt in den letzten Wochen, greift Russland massiv die ukrainische Energieinfrastruktur an, vor allem Wärme- und Wasserkraftwerke. Nach Angaben des staatlichen Stromversorgers Ukrenergo hat die Kapazität der Kraftwerke einen historischen Tiefstand erreicht.
Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte auf der Konferenz in Berlin, Russland habe die Hälfte der ukrainischen Stromproduktionskapazitäten zerstört. Noch kritischer sieht es bei DTEK aus, dem größten privaten Stromanbieter des Landes. DTEK hat nach eigenen Angaben 90 Prozent seiner Kapazitäten verloren. Vor dem vollumfänglichen russischen Angriff versorgte das Unternehmen rund 40 Prozent der ukrainischen Stromkunden

Selenskyj ist derzeit auf Staatsbesuch in Berlin; am Nachmittag hält er eine Rede im Bundestag.
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Der Fokus der ukrainischen Regierung liegt darauf, weitere Flugabwehrsysteme zu erhalten, um Kraftwerke, Umspannwerke und dergleichen schützen zu können. Selenskyj sagte am Vormittag in Berlin, die Ukraine brauche mindestens sieben Patriot-Luftabwehrsysteme. "Luftverteidigung ist die Antwort auf alles." Er dankte vor allem Deutschland dafür, dass es drei Patriot-Systeme zur Verfügung stellt.
Kleine Lösungen für die Haushalte, Atomstrom für die Industrie
Klar ist aber auch: Die großen ukrainischen Kraftwerke dürften bis zum nicht absehbaren Kriegsende für Russland wichtige Ziele bleiben. Ein Neubau von größeren Anlagen wäre auch mit besserer Flugabwehr extrem kompliziert, wenn nicht unmöglich. In Berlin wird es an diesem Dienstag und Mittwoch deshalb darum gehen, wie man verstärkt private Investitionen dafür findet, um die Solaranlagen und Windgeneratoren aufzubauen.
Mit kleineren Solarkraftwerken wird die Ukraine zwar ihre Industrie kaum ausreichend versorgen können. Aber private Haushalte, die unter den ständigen Stromausfällen leiden, könnten entlastet werden. Für die Industrie würde dann die Stromproduktion der ukrainischen Kernkraftwerke ausreichen. Russland hält das AKW Saporischschja besetzt, hat aber Atommeiler in diesem Krieg noch nicht bombardiert. Allerdings gab es in der ersten Angriffswelle auf die ukrainische Energieinfrastruktur im Winter 2022/2023 Angriffe auf Transformatoren der Umspannwerke bei Atomkraftwerken.
Nach Lugano 2022 und London 2023 ist Berlin bereits die dritte internationale Wiederaufbaukonferenz zur Ukraine. Die Stromversorgung wird in der deutschen Hauptstadt sicherlich zu den zentralen Themen gehören: Im Sommer führen Stromausfälle unter anderem dazu, dass Klimaanlagen nicht mehr genutzt werden können. Im Winter dürften die Probleme jedoch weitaus gravierender sein.
Zehn Prozent der Wohnungen zerstört
Die Energieversorgung ist nicht der einzige Sektor, der vom russischen Angriffskrieg massiv betroffen ist. Laut einer gemeinsamen Analyse der ukrainischen Regierung, der Weltbank, der Europäischen Kommission sowie der UN vom Februar 2024 hat Russland der Ukraine einen Schaden von umgerechnet 152 Milliarden US-Dollar zugefügt - eine Summe, die nach jedem neuen Beschuss, also quasi täglich, steigt.
Besonders schwer ist die Lage bei den Wohnungen. Man geht davon aus, dass Russland bisher rund zehn Prozent der Wohnungskapazitäten zerstört oder beschädigt hat. Insgesamt entfallen auf den Wohnbereich 37 Prozent aller Schäden. Besonders betroffen sind die Frontregionen Charkiw, Donezk, Luhansk und Saporischschja, aber auch weiterhin die Region um die Hauptstadt Kiew. Ebenfalls kritisch sind die Zerstörungen bei der Transportinfrastruktur, der Industrie und der Landwirtschaft: Viele Felder sind vermint, und die langfristigen Folgen der Katastrophe am Wasserkraftwerk Kachowka sind noch immer kaum absehbar.
Insgesamt werden die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine Stand Februar 2024 auf 486 Milliarden US-Dollar geschätzt - eine deutliche Steigerung im Vergleich zu 411 Milliarden bei der ersten Einschätzung im Februar 2023. Auch hier ist der Bedarf für den Wiederaufbau des Wohnsektors am größten: 17 Prozent der gesamten Kosten sollen auf ihn entfallen. Daher ist es kaum überraschend, dass die Berliner Konferenz für die Ukraine auch eine strategische Bedeutung hat und für Kiew zu den wichtigsten außenpolitischen Terminen in diesem Jahr gehört - neben dem geplanten Friedensgipfel in der Schweiz gemäß der Friedensformel von Präsident Wolodymyr Selenskyj, der am kommenden Wochenende stattfindet.
Minister entlassen, Behördenchef zurückgetreten
Allerdings verlief die Vorbereitung auf die Konferenz auf der ukrainischen Seite alles andere als ruhig. Gerne hätte man in der ukrainischen Präsidentenkanzlei noch vor der Veranstaltung einen Nachfolger für den kürzlich entlassenen Vizepremier und Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakow gefunden, was jedoch nicht gelungen ist. Kubrakows Entlassung an sich, die seine deutsche Kollegin Svenja Schulze während ihrer Reise nach Kiew überraschte, hat bereits für leise Unzufriedenheit der westlichen Botschafter in der Ukraine gesorgt, die mit ihm offensichtlich gute Beziehungen pflegten. Auch der deutsche Botschafter Martin Jäger bedankte sich in den sozialen Medien ausdrücklich bei Kubrakow für die Zusammenarbeit.
Nun kündigte einen Tag vor der Konferenz der Chef der staatlichen Agentur für Wiederaufbau und Infrastrukturentwicklung seinen Rücktritt an. Mustafa Najem, Ex-Journalist und eins der bekanntesten Gesichter der Maidan-Revolution 2013/2014, war offenbar unzufrieden damit, dass er keine Ausreiseerlaubnis für die Teilnahme in Berlin bekommen hatte. "Ich habe die Entscheidung alleine getroffen, weil systematische Hindernisse es mir nicht erlauben, meine Befugnisse effektiv auszuüben", schrieb er in einem längeren Facebook-Post. So wird die Ukraine in Berlin trotz der Teilnahme Selenskyjs weder vom zuständigen Minister noch vom Leiter der zuständigen Staatsagentur vertreten. Ideal sind diese Voraussetzungen nicht, auch wenn deren praktische Folgen wohl nicht überbewertet werden sollten.
Quelle: ntv.de