Der Kriegstag im Überblick Scholz lässt Kiew-Besuch weiter offen - Bundestag billigt 100 Milliarden für Bundeswehr
03.06.2022, 20:55 Uhr
Von den ukrainischen Streitkräften im Krieg erbeutete russische Waffen stehen auf dem Michaelplatz nahe dem Michaelskloster in Kiew.
(Foto: picture alliance/dpa)
Bundeskanzler Scholz erhält erneut eine Einladung zu einem Besuch in Kiew, die er vorerst nicht annimmt. Eine Reise in die Ukraine plant hingegen Bundesfinanzminister Lindner. Derweil bewilligt der Bundestag den neuen Haushalt mit Krediten von 138,9 Milliarden Euro - und das Sondervermögen für die Streitkräfte. Der 100. Kriegstag im Überblick.
Scholz nimmt Einladung nach Kiew "freundlich zur Kenntnis"
Hundert Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine empfing Bundeskanzler Olaf Scholz den ukrainischen Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk am Morgen im Kanzleramt. Es sei "ein sehr angenehmes Gespräch" gewesen, sagte anschließend Vize-Regierungssprecher Wolfgang Büchner. Stefantschuk habe Scholz nach Kiew eingeladen - diese Einladung habe der Kanzler "freundlich zur Kenntnis genommen", berichtete Büchner. Von konkreten Reiseplänen sagte er jedoch nichts.
In dem Gespräch habe sich Stefantschuk "erfreut" darüber gezeigt, dass Scholz "die Lieferung weiterer starker Waffen für die Ukraine" angekündigt habe, sagte Büchner in Bezug auf die Rede des Kanzlers im Bundestag am Mittwoch. Im Gegensatz zu Scholz bereitet Bundesfinanzminister Christian Lindner nach eigenen Angaben eine Reise nach Kiew vor. "Ich habe eine Einladung erhalten - und die werde ich annehmen", sagte Lindner dem TV-Sender Welt. "Mein ukrainischer Finanzminister-Kollege hat bei einem Gespräch jetzt diese Tage gesagt, es wäre für sie eine Hilfe, wenn ich als Finanzminister und gegenwärtiger G7-Vorsitzender der Finanzminister bei einer Gelegenheit in Kiew sei. Und deshalb gehen wir das jetzt an."
Bund will Verteidigung mit neuem Haushalt stärken
Der Bund darf in diesem Jahr fast eine halbe Billion Euro ausgeben und erneut hohe Schulden machen. Der Bundestag beschloss mit großer Mehrheit den Haushalt von Finanzminister Christian Lindner. Geprägt vom Ukraine-Krieg und der Corona-Pandemie sind darin noch einmal Kredite von 138,9 Milliarden Euro vorgesehen. Dafür zogen die Abgeordneten am Nachmittag erneut die Ausnahmeregelung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse.
Zugleich steigt der Etat von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht auf mehr als 50 Milliarden Euro - zusätzlich zum geplanten Sondertopf, aus dem in den kommenden Jahren 100 Milliarden in die Streitkräfte gesteckt werden sollen. Für dieses Sondervermögen ebnete der Bundestag mit einer Änderung des Grundgesetzes den Weg. Die Abgeordneten stimmten mit breiter Mehrheit dafür, einen neuen Absatz 87a in die deutsche Verfassung aufzunehmen
Russland kritisiert Sondervermögen mit Nazi-Anspielung
Russland reagierte pikiert auf das bewilligte Sondervermögen. Es warf Deutschland unter Anspielung auf die Nazi-Zeit eine "Wiederbewaffnung" vor. Die Pläne der Bundesregierung für die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr "werten wir als eine weitere Bestätigung, dass Berlin auf dem Weg zu einer erneuten Wiederbewaffnung ist", sagte Außenamtssprecherin Maria Sacharowa. "Wir wissen nur zu gut, wie das enden kann." Die Äußerungen lassen sich als Anspielung auf das Wiederaufrüstungsprogramm Nazi-Deutschlands in den 1930er Jahren unter Adolf Hitler deuten.
Ukraine meldet Erfolge bei Rückeroberung von Sjewjerodonezk
Die Ukraine hat nach eigener Darstellung etwa ein Fünftel des an die russische Armee verlorenen Gebietes in der umkämpften Stadt Sjewjerodonezk zurückerobert. Dies erklärte der Chef der Region Luhansk, Serhij Gaidai, im Fernsehen.
Putin könnte Getreide nach Afrika schicken
Russlands Präsident Wladimir Putin ist nach Angaben der Afrikanischen Union bereit, den Export von Getreide aus der Ukraine nach Afrika zu ermöglichen. Dies teilte der Präsident der Afrikanischen Union (AU), Macky Sall, nach einem Treffen mit Putin in Sotschi mit. Russland sei weiterhin bereit, den Export von Weizen und Düngemitteln auf den afrikanischen Kontinent zu gewährleisten. Putin und der senegalesische Präsident Mack hatten sich getroffen, um über eine Freigabe aller Lebensmittelprodukte und eine Aufhebung der russische Ausfuhrblockade von Getreide zu sprechen.
Der ukrainische Botschafter in Ankara, Vasyl Bodnar, beschuldigte derweil die Türkei, zu den Ländern zu gehören, die von Russland aus der Ukraine gestohlenes Getreide kaufen. Bodnar erklärte demnach gegenüber Reportern, er habe die türkischen Behörden und Interpol um Hilfe gebeten, um herauszufinden, wer an den Getreidelieferungen durch türkische Gewässer beteiligt ist.
Neue EU-Sanktionen gegen Russland in Kraft
Das sechste EU-Sanktionspaket samt weitreichendem Öl-Embargo gegen Russland ist in Kraft. Die Rechtstexte wurden am Nachmittag im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Das Paket umfasst neben dem wirtschaftlich besonders relevanten Öl-Boykott unter anderem den Ausschluss der größten russischen Bank, der Sberbank, aus dem Finanzkommunikationsnetzwerk Swift sowie das Verbot mehrerer russischer Nachrichtensender in der EU. Zudem landen Dutzende Personen und Organisationen wegen Unterstützung des russischen Kriegs gegen die Ukraine auf der Sanktionsliste. Unter ihnen ist etwa die frühere rhythmische Sportgymnastin Alina Kabajewa. Sie soll Gerüchten zufolge Putins Lebensgefährtin sein.
Russischer Ex-Regierungschef verlässt Russland
Der ehemalige russische Regierungschef Michail Kassjanow verließ das Land. "Er ist derzeit im Ausland, ich kenne weder seinen Aufenthaltsort noch das Datum seiner Rückkehr", sagte sein Parteikollege Konstantin Merslikin der staatlichen Nachrichtenagentur Tass. Über den Grund der Ausreise machte Merslikin keine Angaben. Kassjanow war während der ersten Amtsperiode von Präsident Wladimir Putin von 2000 bis 2004 Regierungschef in Russland. Kurz vor den Präsidentenwahlen 2004 wurde er entlassen, nachdem er zuvor die Verhaftung des Oligarchen und Yukos-Chefs Michail Chodorkowski kritisiert hatte.
Bürgermeister von Mariupol beklagt Geiselnahme von Bürgern
Der aus der Hafenstadt Mariupol vertriebene Bürgermeister Wadym Boitschenko warf Moskau eine Geiselnahme der dort verbliebenen Menschen vor. Es seien noch etwa 100.000 Einwohner in Mariupol. "Sie werden dort festgehalten von den russischen Truppen und praktisch als menschliche Schutzschilde benutzt", sagte Boitschenko in Kiew. Die Einwohner könnten nicht auf von der Ukraine kontrolliertes Gebiet fliehen. Vielmehr wollen die Russen die Zivilisten in der Stadt behalten, um der Ukraine eine Befreiungsoffensive zu erschweren.
Kreml sieht "bestimmte" Kriegsziele erreicht
100 Tage nach Beginn der russischen Offensive in der Ukraine sieht der Kreml "bestimmte" Ziele als erreicht an. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte vor Journalisten, "zahlreiche Orte" seien durch Russland von "bewaffneten, pro-nazistischen ukrainischen Kräften" und "nationalistischen Elementen" "befreit" worden. Dies habe der Bevölkerung eine Rückkehr zu einem "Leben in Frieden" ermöglicht. Peskow ergänzte: "Diese Anstrengung wird weitergehen, bis alle Ziele der militärischen Spezialoperation erfüllt sind."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, dass Russland sich nicht durchsetzen werde: "Unser Team ist viel größer. Die ukrainischen Streitkräfte sind hier. Das Allerwichtigste - die Menschen, unsere Staatsbürger - sind hier. Verteidigen die Ukraine schon seit 100 Tagen"
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Quelle: ntv.de, lve/rts/dpa/AFP