Politik

Sechs Experten zu sechs Fragen Nach 100 Tagen Krieg: Wie lange hält die Ukraine noch stand?

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Fußballfans beim WM-Qualifikationsspiel Schottland-Ukraine zeigen ihre Solidarität.

(Foto: picture alliance / Action Plus)

Tag 100 des Kriegs um die Ukraine. Wer hätte am 24. Februar gedacht, dass das militärisch schwächere Land dem russischen Angriff so lange trotzen könnte? Mit sechs Fragen an sechs Expertinnen und Experten blickt ntv.de auf die Perspektiven der Ukraine.

100 Tage sind geschafft, aber wie lange kann die Ukraine in diesem Krieg noch durchhalten?

Markus Kaim: Das wird sich innerhalb der nächsten sechs bis acht Wochen entscheiden. Die westlichen Geheimdienste gehen davon aus, dass in diesem Zeitraum die Waffen russischer und sowjetischer Herkunft, über die die Ukraine derzeit noch verfügt, verbraucht, kaputt - also nicht mehr benutzbar - sein werden. Dann wird sich die Debatte verschärfen, die wir im Ansatz jetzt bereits haben: Sind wir bereit, westliche Waffen zu liefern? Gemessen an dieser westlichen Reaktion wird sich der Krieg entwickeln. Zucken wir zurück, so kann er schnell zuende sein. Liefert der Westen umfangreich, kann das länger dauern.

Julia Friedrich: Im Vergleich zur Anfangsphase gibt es weniger Frontlinien und die Gebiete im Donbass wechseln nur sehr langsam die Kontrolle. Einfach gesagt fehlt es der Ukraine vor allem an Munition, Waffen und Treibstoff; und Russland hauptsächlich an Soldatinnen und Soldaten. Das heißt aber nicht, dass eine Niederlage für eine der beiden Seiten immanent ist: Dieser Krieg verläuft dynamisch. Gleichzeitig ist klar, dass die ukrainischen Truppen ohne Waffenlieferungen aus dem Westen nicht für unbegrenzte Zeit ihr Territorium verteidigen - geschweige denn rückerobern - können.

Christian Mölling: So lange, wie der Westen die Ukraine militärisch unterstützt, und die Ukraine sich politisch entscheidet weiter zu kämpfen.

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Christian Mölling ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Sein Fachgebiet sind Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, NATO und Deutschlands.

Stefan Meister: Die Ukraine wird den Krieg noch lange durchhalten müssen, da er auf absehbare Zeit nicht enden wird. Selbst wenn es einen Waffenstillstand nach der Eroberung des Donbass durch Russland gibt, wird die Ukraine in einen "low intensive war" hineingezogen, den sie weiter bestehen muss. Sie kann das nur, wenn sie dauerhaft Waffen und Finanzierung von westlichen Staaten bekommt. Da aber im Prinzip die gesamte Bevölkerung gegen Russland kämpft, wird es für Russland schwer werden, diesen Krieg tatsächlich zu gewinnen.

Susann Worschech: Aktuell scheint mir die Strategie der Ukraine, die Schwachstellen der russischen Invasion gezielt anzugreifen, sehr vernünftig. Was es braucht, damit die Ukraine gewinnt, sind viele schwere Luftabwehrwaffen, damit die Ukraine die Flugverbotszone über ihrem Territorium selbst durchsetzen kann, Unterstützung bei der Aufklärung durch den Westen, natürlich gepanzerte Fahrzeuge und anderes Material, aber insbesondere auch eine konsequente Politik gegenüber Russland.

Johannes Varwick: Die Frage ist: Was meint Durchhalten? Die Antwort hängt stark von den russischen Kriegszielen ab, die wir nicht eindeutig beurteilen können. Der Donbass scheint nicht zu halten zu sein, und wenn Russland danach mit aller militärischen Macht auch Odessa und weitere Teile bis nach Moldawien einnehmen will, dann dürfte auch das gelingen. Die Frage ist eher, zu welchen Verlusten die Ukraine bereit ist, und welche Waffen der Westen liefert, um der russischen Aggression etwas entgegenzusetzen.

Muss der Westen im eigenen Interesse Putin einen "gesichtswahrenden Ausweg" offen halten?

Johannes Varwick: Ja. Diese Frage wird allerdings im westlichen Diskurs weitgehend tabuisiert. Das ist aber ein schwerer Fehler, denn es gilt nach wie vor den Versuch zu machen, einen Waffenstillstand zu verhandeln: Und das geht nur, wenn Russland einen Teil seiner Kriegsziele erreicht. Das ist bitter für die Ukraine und auch sehr unpopulär, aber eine weitere Eskalation wäre noch bitterer.

Susann Worschech: Nein, im Gegenteil. Der Westen hat bei Putins Kriegen in Tschetschenien und Georgien weggeschaut und Putin seit der Krim-Annexion eine "gesichtswahrende Lösung" nach der anderen auf dem Silbertablett angeboten - vergebens. Diese Art der Diplomatie versteht Putin als direkte Aufforderung, seine imperialistische Politik zu intensivieren. Jede Art des "Sieges", den Putin seiner Gesellschaft präsentieren könnte, würde eine umso größere Gefahr für ganz Europa darstellen, denn auf dieser Basis würde das russische Militär neu aufgestellt und für nächste Einsätze in zwei oder fünf Jahren ausgerüstet werden.

Christian Mölling: Nein, der Westen kann dies auch nicht. Putin will weiterhin die Ukraine vernichten. Ihm ist egal, wie lange das dauert, und welchen Blutzoll sein Land dafür zahlt. Zögern und Telefonate werden als Angst des Westens interpretiert und in Russland medial ausgeschlachtet. Der Westen wird am Ring durch die Arena geführt.

Stefan Meister: Es gibt keinen gesichtswahrenden Ausweg aus diesem Krieg. Wenn Putin ihn gewinnen sollte, dann sind andere Staaten in Europa in Gefahr. Wir werden uns dauerhaft darauf einstellen müssen, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, sie robust gegen russische Angriffe auszustatten und sie zu finanzieren. Russland werden irgendwann die Ressourcen für diesen Krieg ausgehen, es ist militärisch bereits so geschwächt, dass es sich auf den Donbass konzentriert und nicht mehr auf die gesamte Ukraine.

Markus Kaim: Der Begriff führt aufs Abstellgleis. Wir müssen uns eine schmerzliche Perspektive vor Augen führen: Gerade weil Putin den Krieg begonnen hat, brauchen wir ihn, um ihn zu beenden. Wann und in welcher Form das geschehen wird, weiß niemand. Aber momentan führt an einer Einbindung Russlands kein Weg vorbei. Das sagt nichts über die Frage, wer gewinnt oder verliert aus, sondern es geht um das Fakt, dass wir nicht umhin kommen werden, Präsident Putin für eine Beendigung des Krieges zu gewinnen.

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Markus Kaim ist Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu seinen Schwerpunkten gehören etwa die euroatlantische Sicherheitsordnung und die NATO.

(Foto: SWP)

Julia Friedrich: Ich sehe keinen Grund dafür, dass sich der Westen die Sorgen von Wladimir Putin aneignen sollte. Derzeit gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass der russische Präsident irgendeine Lösung außer einer militärischen für den Konflikt mit der Ukraine sucht. Wenn er bereit ist, eine diplomatische Lösung zu suchen, die sein Gesicht wahrt, wird er das schon deutlich machen. Das ist der Zeitpunkt darüber nachzudenken, vorher nicht. Eine Bereitschaft Putins, seinen Angriffskrieg zu stoppen, kann derzeit offensichtlich nur von den Ukrainerinnen und Ukrainern auf militärische Weise hergestellt werden.

Für wie wahrscheinlich halten Sie das Szenario eines Dritten Weltkriegs?

Julia Friedrich: Derzeit halte ich es für nicht sehr wahrscheinlich, da Russland substantielle Teile seine militärischen Kräfte in der Ukraine gebunden hat. Ganz auszuschließen ist es natürlich nicht. Daher ist es wichtig, militärisch wie politisch dem Baltikum und Polen, die als erste von einer Ausweitung des Krieges betroffen wären, den Rücken zu stärken. Das Bedrohungsgefühl und der Blick auf den Ukraine-Krieg stellen sich in diesen Ländern anders dar - das sollte Deutschland respektieren.

Christian Mölling: Extrem unwahrscheinlich. Diese Vision hat Moskau geschickt in die deutsche Debatte eingepflanzt, und nun arbeiten sich Politik und Gesellschaft daran ab. Es ist aber eine Nebelkerze. Viel wahrscheinlicher ist doch ein sehr langer Krieg, der nicht nur 100 sondern 200, 300 oder 600 Tage dauert - darauf muss Berlin Antworten finden: Wie werden wir die Ukraine rechtzeitig und auf Dauer unterstützen?

Johannes Varwick: Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Jedenfalls bleibt es ein Ritt auf der Rasierklinge, einerseits zu sagen, man wolle nicht Kriegspartei werden, andererseits aber Russland massiv schwächen zu wollen und ihm in der Ukraine massive Verluste zuzufügen. Die Frage ist: Lässt Russland sich das dauerhaft gefallen oder kann das nicht doch im Krieg mit Russland enden? Das wäre dann der Dritte Weltkrieg.

Susann Worschech: Aktuell wenig wahrscheinlich, denn das russische Militär ist schon in der aktuellen Kriegssituation an der Grenze seiner Fähigkeiten. Was ich für denkbar halte, wäre entweder der Einsatz kleiner Nuklearwaffen, sogenannter Mini-Nukes, in der Ukraine, falls der Westen nicht schneller hilft. Oder eine Art "erweiterter Suizid" Putins, also ein atomarer Schlag, bevor er oder die russische Numenklatura sich selbst umbringt. Ich gehe davon aus, dass man dieses Szenario in den Strategiebüros im Westen auf dem Schirm hat.

Susann Worschech forscht an der Europa-Universität Viadrina u.a. zu politischer Resilienz und Demokratie mit Schwerpunkt Osteuropa.

Susann Worschech forscht an der Europa-Universität Viadrina u.a. zu politischer Resilienz und Demokratie mit Schwerpunkt Osteuropa.

Markus Kaim: Wenn wir eines gesehen haben in den letzten 100 Tagen Krieg, dann, wie beide Seiten darauf bedacht sind, die Dimension des Stellvertreterkonfliktes zu begrenzen. Beide sind bereit, auf dem Boden der Ukraine einen Konflikt zwischen USA, NATO, dem Westen einerseits und Russland andererseits auszutragen. Dabei aber sind sie peinlich darauf bedacht, eine direkte Konfrontation mit der Gefahr einer Eskalation zu verhindern.

Stefan Meister: Für sehr unwahrscheinlich. Sollte Russland eine taktische Nuklearwaffe benutzen, würde sich die gesamte Welt gegen das Land stellen. Es wäre ein "game changer" und ein gefährlicher Präzedenzfall, der inakzeptabel ist, auch für Länder wie China. Russland hat kein Interesse an einem größeren Krieg mit der NATO, da es ihn nicht gewinnen kann. Es spielt rhetorisch mit dem Thema, um in unseren Gesellschaften Angst zu schüren.

In den USA könnte sich das politische Kräfteverhältnis bei den Midterm Wahlen verändern. Welche Folgen hätte ein Wahlsieg der Republikaner für die westliche Position gegenüber Russland?

Susann Worschech: Ein Wahlsieg der Republikaner würde Präsident Biden natürlich sehr schwächen, sowohl ganz praktisch bei relevanten Entscheidungen als auch hinsichtlich der Legitimation. Solange die Republikaner weiterhin von einem Trump-freundlichen Lager geprägt sind, stellen sie ein erhebliches Hindernis der internationalen Zusammenarbeit dar.

Stefan Meister: Keine große Auswirkung, da es einen Konsens zwischen Demokraten und Republikanern in der Unterstützung der Ukraine gibt. Die Republikaner haben sogar das Budget für die Ukraine und für Waffenlieferungen erhöht und verfolgen auch das Ziel, Russland soweit wie möglich zu schwächen.

Johannes Varwick: Das ist heute unklar. Joe Biden wird seine Position voraussichtlich nicht grundlegend ändern, aber womöglich wird es einen gewissen Druck geben, zu Kompromissen mit Russland zu finden. Was dann 2024 ein neuer Präsident machen wird, steht auf einem anderen Blatt.

Julia Friedrich: Derzeit stellen die Midterms die Unterstützung der Ukraine meinem Eindruck nach nicht zwangsläufig in Frage, da die bisherigen Beschlüsse zur Ukraine auch Unterstützung von republikanischer Seite bekommen haben. Ein eingeschränkterer Handlungsspielraum des amerikanischen Präsidenten wäre trotzdem keine gute Nachricht.

Julia Friedrich forscht am Global Public Policy Institute Berlin und derzeit auch am Razumkov Centre in Kiew zu bewaffneten Konflikten und Sicherheitspolitik.

Julia Friedrich forscht am Global Public Policy Institute Berlin und derzeit auch am Razumkov Centre in Kiew zu bewaffneten Konflikten und Sicherheitspolitik.

Markus Kaim: Ich sehe vor allem deshalb da kein Problem, weil wir in den letzten Monaten in den USA etwas Ungewöhnliches sehen: Der Kongress hat sich hinter den Präsidenten geschart, und das trotz der Polarisierung des politischen Systems der USA. Das ist sehr ungewöhnlich. Auswirkungen durch eine veränderte Kongressmehrheit sehe ich in dieser Frage darum nicht.

Unternimmt die Bundesregierung genug, um der Ukraine militärisch zu helfen?

Christian Mölling: Nein. Es stimmt, die Parteien, die die Bundesregierung tragen, haben sich enorm bewegt. Doch die wichtigere Frage ist: Hilft das der Ukraine in ihrem Kampf für sich und für europäische Werte? Diese Hilfe ist, nach einer ersten Welle von Panzerfäusten etc., zum Erliegen gekommen. Entweder, weil man sich keinen Plan gemacht hat, wie man der Ukraine helfen will, oder weil die politischen Kräfteverhältnisse fragil sind.

Susann Worschech: Mit der Ankündigung, das Flugabwehrsystem IRIS zu liefern, ist eine ganz wichtige Bitte der Ukraine endlich aufgenommen worden. Bisher bleibt die Bundesregierung aber bei ihren Ankündigungen, die auch alle viel zu spät kamen. Wenn IRIS gleich im März zugesagt worden wäre, könnte es jetzt schon entsprechende Trainings daran geben. So liefert Deutschland einfach viel zu spät.

Markus Kaim: Misst man die Hilfsleistungen am Bruttoinlandsprodukt, dann stehen sechs Staaten heraus: Die drei baltischen Staaten, Polen, Großbritannien und die USA. Deutschland liegt im hinteren Mittelfeld. Da kann man sagen, Deutschland muss sich nicht hinter anderen verstecken - stimmt. Andere leisten aber mehr - stimmt auch. Mir fehlt etwas die Zielsetzung: Was wollen wir mit unserer Hilfe erreichen? Das wird so weggeschwurbelt. Derzeit ist die Position für die Bundesregierung halbwegs bequem, weil die Ukraine nicht zu gewinnen droht. Unangenehmer würde es, wenn sie die militärische Oberhand gewinnt und an der Schwelle zur Krim steht oder zum Donbass. Dann müsste man mal sagen, ob man die Ukraine dabei noch unterstützt.

Johannes Varwick: Die Regierung versucht, im Geleitzug der Partner mitzuschwimmen und tut eine ganze Menge, auch im Bereich von Waffenlieferungen. Zugleich hat man den Eindruck, man müsse sie eher zum Jagen tragen, und es lässt sich spekulieren, woran das liegt. Ich vermute: Die Sorge vor Eskalation der Lage ist hier präsenter als etwa in den USA oder anderen Staaten.

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Johannes Varwick hat einen Lehrstuhl für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

(Foto: ntv)

Stefan Meister: Nein, das tut sie nicht. Sie muss langfristig helfen, die Ukraine in westliche Waffensysteme einzuführen und es der deutschen Industrie ermöglichen, mehr Panzer und moderne Waffen zu liefern. Sie ist noch zu reaktiv und braucht eine Strategie der langfristigen militärischen Unterstützung der Ukraine.

Julia Friedrich: Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil derzeit große Unklarheit darüber besteht, was Deutschland eigentlich tut bzw. darüber hinaus tun könnte. Insofern wäre es wünschenswert, dass die Bundesregierung klarer kommuniziert, was getan wird, was nicht, und aus welchen Beweggründen. Auch sollte sichergestellt werden, dass die Ukraine langfristig militärisch unterstützt werden kann. Daher wird eine Umstellung auf westliche Waffensysteme über kurz oder lang kommen müssen. Je früher das Training dafür beginnt, desto besser. Generell gelingt es der Bundesregierung bisher nur schwer, aktiv zu werden anstatt zu reagieren. Einiges an Frustration rührt nicht nur daher, dass die richtigen Waffensysteme nicht schnell genug an Ort und Stelle sind, sondern liegt auch an dem Eindruck der Richtungslosigkeit, der beispielsweise durch die bisherige Weigerung entsteht, eindeutige politische Ziele in diesem Krieg zu formulieren.

(Wie rasch) sollte die Ukraine nach dem Krieg EU-Mitglied werden?

Stefan Meister: Die Ukraine sollte einen Kandidatenstatus ohne einen Fast Track bekommen. Es sollte nach den Regeln laufen, es wird Jahre dauern, aber es sollte jetzt das Signal geben, dass sie kein Teil der Nachbarschaftspolitik der EU mehr ist, sondern ein Teil der Erweiterungspolitik.

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Stefan Meister leitet das Programm Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Für die OSZE war er mehrfach Wahlbeobachter in postsowjetischen Ländern.

Markus Kaim: Auch wenn ich mich freue, wenn die Ukraine den politischen Weg nach Westen einschlagen würde: Der EU-Mitgliedstatus wäre das zehnte unserer Probleme gelöst vor dem ersten. Mir leuchtet nicht ein, wie ein EU-Beitritt nützen sollte in diesem großen ordnungspolitischen Konflikt, in dem wir derzeit mit Russland stehen, und dessen Bruchlinie genau in der Ukraine verläuft. Die tektonischen Platten zwischen Osten und Westen treffen gerade in der Ukraine aufeinander, darum bricht dort ein Vulkan aus. Mir erschließt sich nicht, welches dieser Probleme wir aus dem Weg schaffen, wenn wir der Ukraine einen EU-Mitgliedstatus verleihen.

Julia Friedrich: Normativ gesehen sollte die Ukraine EU-Mitglied werden, und zwar bald. Praktisch gesehen stehen einige Hindernisse im Weg - der Krieg ist das eine, unvollendete Reformen, insbesondere bei der Rechtsstaatlichkeit, sind das andere. In Bezug auf Reformen ist die gemeinsame Arbeit an einer Mitgliedschaft der Ukraine ein wichtiges Instrument für die EU, um dort demokratische und reformwillige Kräfte zu stärken. Um sich diesen Einfluss zu erhalten und mit der Ukraine eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, sollte sie den Kandidatenstatus bekommen.

Johannes Varwick: Das steht heute überhaupt nicht an, auch wenn sich viele anders äußern. Wenn die EU an einer kriteriengestützten Erweiterungspolitik festhält, dann wird es Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine und auch die EU reif für eine Mitgliedschaft sind. Anders sähe es aus, wenn man die Ukraine enger anbindet, ohne Vollmitgliedschaft. Eine solche Lösung schwebt auch Macron vor: Die alte EU um Deutschland und Frankreich vertieft sich radikal zu einem Kerneuropa und baut Drumherum eine neue Union, die dann eher locker politisch zusammenarbeitet. Dabei könnte auch die Ukraine mitmachen.

Christian Mölling: Für die Ukraine und andere Staaten sollte ein Modell "Mitgliedschaft ohne Stimmrecht" entwickelt werden. So kommen wir aus dem negativ konnotierten Bild des Beitrittskanditatenstatus heraus und können wichtige Staaten, die durch russische Einflussnahme gefährdet sind, schützen und unterstützen.

Susann Worschech: Für die Ukraine wäre ein schneller Beitritt überlebenswichtig, daher wäre zu prüfen, ob sie selbst dann beitreten kann, wenn ihre territoriale Integrität noch nicht wieder hergestellt ist, wenn also der Donbass, die Südukraine und die Krim noch immer von Russland besetzt sind. Das wäre bisher ein Ausschlusskriterium. Aufgrund des Krieges wird die Ukraine auch wichtige ökonomische Kennziffern so schnell nicht erreichen. Eine anfällige, für Russland immer wieder leicht angreifbare Ukraine kostet die EU aber letztlich mehr als eine wirtschaftlich schwache, aber befriedete Ukraine. Deshalb muss der Beitrittsprozess jetzt schnell angegangen werden.

Mit den Expertinnen und Experten sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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