Reisners Blick auf die Front "Ukraine bereitet sich auf nächste Phase vor"
18.09.2023, 18:20 Uhr Artikel anhörenDie ukrainischen Erfolge der vergangenen Tage gehen mit großen Verlusten einher. Die befreiten Ortschaften liegen in Schutt und Asche und bieten daher kaum Schutz vor Luftangriffen, erklärt Oberst Markus Reisner. Durch den anhaltenden Beschuss der Russen hätten sie deshalb Schwierigkeiten, ihre Kräfte zu rotieren, sagt der Militärexperte im wöchentlichen Interview. Zur Debatte über eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern sagt Reisner, dass die Stückzahl gar nicht so wesentlich sei. "Sondern die Zahl der Plattformen, die diese Systeme tragen können."
ntv.de: Am Wochenende gab es widersprüchliche Aussagen zur Einnahme des Ortes Andrijiwka, südlich von Bachmut. Die Ukraine behauptet, das Dorf sei vollständig umzingelt und eingenommen worden, die 72. motorisierte Schützenbrigade der russischen Armee sei komplett "vernichtet" worden. Russland dementiert das. Was stimmt denn nun?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Ja, die Ukraine hat an diesem Wochenende nach langen schwierigen Kämpfen zwei Ortschaften eingenommen, Andrijiwka und Klischtschijiwka. Es gibt Bilder, die eindeutig zeigen, dass sich ukrainische Soldaten in den Ortskernen befinden. Die beiden Dörfer grenzen an eine östlich verlaufende Eisenbahnlinie, die aber noch in russischem Besitz sein dürfte. Die 72. motorisierte Schützenbrigade wurde aber nicht komplett zerschlagen, wie von den Ukrainern behauptet. Wäre das der Fall gewesen, hätten wir mehr Bilder von gefangenen und getöteten russischen Soldaten sehen müssen. Eine ganze Brigade hat eine Stärke von mehreren Tausend Soldaten, durch die starke Abnutzung sind es wahrscheinlich nur noch mehrere Hundert, aber auch das hätte man auf Fotos und Videos sehen müssen. Viele Angehörige der Brigade konnten sich also zur Eisenbahnlinie absetzen. Das nächste Ziel der Ukraine ist es, diese Eisenbahnlinie zu erobern.
Warum ist die von Bedeutung?
Von dort aus kann man das Gelände in Richtung Osten einsehen und beherrschen. Interessant ist auch der Norden von Bachmut: Dort versucht die Ukraine den Erfolg im Süden zu wiederholen. Es gibt hier einen Frontvorsprung, an dem in den letzten Wochen sehr starke und heftige Kämpfe stattgefunden haben. Man kann davon ausgehen, dass die Ukraine bis zum Einbruch der Schlammperiode versuchen wird, weitere Fortschritte zu machen. Anhand der Eroberungen hat sie wieder gezeigt, dass sie mit ihrer Taktik Erfolg haben kann: mit kleinen Stoßtrupps vorzurücken und den Russen in harten Kämpfen Stück für Stück die Ortschaften abzuringen.
Trotz der Erfolge ist die Situation für die 3. "Asow"-Sturmbrigade bei Andrijiwka weiterhin dramatisch. Sie haben zwar den Ort eingenommen, sagen aber auch, dass sie nach wie vor unter massivem Artilleriebeschuss stehen und hohe Verluste zu beklagen haben. Die Taktik mag funktionieren, aber die Streitkräfte müssen dafür einen hohen Preis zahlen.
Genau das ist das Dilemma. Das sehen wir nicht nur bei Andrijiwka und Klischtschijiwka, sondern auch im Süden bei den Kämpfen um Robotyne. Die Ukraine schafft es zwar mit dieser Taktik, in sehr mühevollen Kämpfen jeden Tag einige Hundert Meter Gelände in Besitz zu nehmen. Wenn sie die dann aber eingenommen sind, sind die Ortschaften meistens zerstört. Das heißt, sie bieten wenig Schutz. Dabei stehen die Ukrainer unter permanentem Beschuss, nicht nur durch russische Artillerie, sondern auch durch den Einsatz von Kamikaze- und First-Person-View-Drohnen. Vor allem haben sie Schwierigkeiten, ihre Kräfte zu rotieren, weil die Versorgungslinien von den Russen beschossen werden. Genau darunter leidet derzeit die 3. "Asow"-Sturmbrigade in Andrijiwka.
Kann die Ukraine sich gegen den Dauerbeschuss schützen?
Sie versucht dagegen vorzugehen, indem sie die Artillerie-Stellungen der Russen unter Beschuss nimmt. Die Ukraine hat hier den Vorteil, dass sie sich mit den vom Westen gelieferten Geschützen zum Teil außerhalb der Reichweite der russischen Systeme befindet. Ihr ist es deshalb in den letzten Wochen gelungen, ihr Gegenfeuer effektiver einzusetzen als es die Russen können. Trotzdem ist die Geschwindigkeit des ukrainischen Vormarsches so langsam, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich sein wird, vor dem Eintreten der Schlammperiode Rasputiza signifikante Ergebnisse zu erzielen. Die Ukraine versucht jetzt, das gewonnene Gelände zu halten und sich dort zu konsolidieren, um sich auf die nächste Phase vorzubereiten.
Am Dienstag wird in Ramstein voraussichtlich die Entscheidung über eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an Kiew fallen. Vor wenigen Wochen haben Sie hier im Interview gesagt, dass die Ukraine mit den Taurus-Marschflugkörpern die Brücken zur Krim angreifen will, was mit den bunkerbrechenden Raketen Scalp und Storm Shadow nicht richtig funktioniert. Wie viele Taurus müsste Deutschland Kiew denn liefern, um dieses Vorhaben umzusetzen?
Die Stückzahl ist gar nicht so wesentlich, sondern die Zahl der Plattformen, die diese Systeme tragen können. Das sehen wir sehr gut beim Einsatz von Scalp und Storm Shadow: Es geht nicht um die Quantität der verfügbaren Flugkörper oder die Qualität der Wirkung, sondern dass es einfach nur eine begrenzte Anzahl von Fliegern gibt, die sie abfeuern können.
Scalp und Storm Shadow werden mit sowjetischen Flugzeugen vom Typ SU-24 M abgefeuert, wie viele sind davon noch im Einsatz?
Zu Beginn des Krieges hatte die Ukraine zwölf Stück. Jetzt sind ungefähr noch sechs bis acht im Einsatz. Die müssen permanent verlegt werden, damit sie nicht von der russischen Aufklärung identifiziert und beschossen werden. Die SU-24 M kann nur zwei Stück Storm Shadow oder Scalp tragen. Oft sind nur ein oder zwei Angriffe pro Woche möglich. Das Problem bei Taurus besteht also darin, dass es wahrscheinlich spektakuläre Erfolge geben wird, aber eben nur begrenzt, weil nicht genug Plattformen zur Verfügung stehen.
Taurus kann nicht von SU-24-M-Jets getragen werden, sondern bräuchte F-16-Jets, richtig?
Ich denke man könnte auch die SU-24 M für den Einsatz der Taurus modifizieren. Für Scalp und Storm Shadow verwendete man Waffenhalterungen von britischen Tornado-Kampfflugzeugen. Die notwendige Modifikation benötigt aber wieder Zeit, da es sehr aufwendig wäre.
Geht der Bestand von Scalp um Storm Shadow schon langsam zur Neige?
Ja, das wird in Expertenkreisen intensiv diskutiert, auch im Zusammenhang mit Taurus. Wie viele sind tatsächlich noch verfügbar, wie viele wurden bereits eingesetzt und wie viele können in Zukunft noch eingesetzt werden? Von ukrainischer Seite gibt es eine große Hoffnung auf die US-Boden-Boden-Rakete ATACMS. Die steht auch zur Diskussion, weil das amerikanische Arsenal wesentlich höher ist als das europäische von Scalp, Storm Shadow oder auch Taurus.
Sind die ATACMS den Marschflugkörpern aus Europa im Prinzip ähnlich?
Sie sind keine Marschflugkörper, sondern ballistische Raketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern. Eine Rakete hat im Gegensatz zu Marschflugkörpern ein anderes Verhalten in der Flugbahn. Beide haben Vor- und Nachteile.
Nehmen wir mal an, Deutschland und die USA liefern Taurus und ATACMS. Wären sie dann nicht erst frühestens im nächsten Frühjahr im Einsatz?
Wenn diese Lieferungen tatsächlich stattfinden, dann kann man aber damit rechnen, dass der Einsatz dieser Waffensysteme bereits vor der nächsten Offensive passiert. Wie wir es jetzt auch bei dieser Offensive gesehen haben, kann man davon ausgehen, dass es auch nächstes Jahr, bevor wieder am Boden angegriffen wird, zu einer Vorbereitungsphase kommt, in der weitreichende Waffensysteme wie Storm Shadow, Scalp oder eben auch Taurus und ATACMS zum Einsatz kommen. Zum Beispiel könnten Logistikknotenpunkte, Gefechtsstände oder zentrale Bewegungslinien angegriffen werden, um den Angriff der Bodenstreitkräfte vorzubereiten.
Was braucht es, um ATACMS abzufeuern?
Da es Boden-Boden-Raketen sind, brauchen sie keine Flugzeuge, sondern das bereits gelieferte HIMARS-System, von dem die Ukraine zumindest 20 Stücke im Einsatz hat und 18 weitere zugesagt worden. Die müssen nur umgerüstet werden.
Die Ukraine hat in letzter Zeit viele russische Luftverteidigungsbasen angegriffen. Der letzte Angriff zielte auf das S-300/S-400 "Triumf" Luftabwehrsystem der Russen auf der Krim. Ist das die Vorbereitung auf den Einsatz von F-16?
Es gab zwei spektakuläre Angriffe auf ein S-400-Fliegerabwehr-System auf der Krim. Die Ukraine hat das sehr schlau gemacht, indem sie zuerst mit Drohnen das russische Luftverteidigungsdispositiv erkundeten, aber auch zum Teil übersättigten. Dann hat sie gezielt dessen Batterien angegriffen und teilweise zerstört. Das ist sicher eine vorbereitende Maßnahme, um noch gezielter und effektiver Ziele auf der Krim angreifen zu können. Ein weiterer spektakulärer Angriff galt einem Schwimmdock, in dem sich ein Landungsschiff und ein U-Boot befanden. Die Ukraine schafft es mittlerweile, vor allem durch den Einsatz von unbemannten Drohnen und Spezialkräften die nach wie vor vorherrschende russische Flotte im Schwarzen Meer, zurückzudrängen. Fast jeden zweiten Tag greifen unbemannte Drohnen russische Schiffe an. Die Russen ziehen mittlerweile ihre Schiffe sogar in das Asowschen Meer zurück, weil ihnen das Schwarze Meer zu unsicher geworden ist.
Wie kommt es, dass die Russen diese unbemannten Drohnen nicht abfangen können?
Es ist sehr schwer, diese Drohnen zu orten. Sie haben einen sehr kleinen Radarquerschnitt, unabhängig davon, ob die Drohnen in der Luft eingesetzt werden oder auf See. Dadurch werden sie oft von den Angriffen überrascht. Dazu hängt es davon ab, ob die Schiffsbesatzung in der Lage ist, eine Abwehr durchzuführen.
Was bezwecken die Ukrainer mit den Angriffen auf die Schiffe?
Diese Schiffe feuern Marschflugkörper auf Ziele in der Ukraine ab. Das heißt, diese Schiffe laufen aus und setzen die Marschflugkörper südlich von Odessa von offener See aus ein. Das versucht die Ukraine zu verhindern, indem sie diese Schiffe zwingt, in den Häfen zu bleiben. Es gibt klare Indizien dafür, dass die Russen im Moment zunehmend weniger Marschflugkörper einsetzen. Experten glauben, dass sie die Marschflugkörper zurückhalten, um im beginnenden Winter die kritische Infrastruktur der Ukrainer anzugreifen. Dazu muss die russische Luftwaffe nicht in den Luftraum der Ukraine einfliegen, sondern sie kann das leider bequem mit den Schiffen aus dem Schwarzen Meer heraus tun.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de