Der Kriegstag im Überblick Ukraine erobert viele Ortschaften in Charkiw - US-Verteidigungsminister: "Schlüsselmoment" erreicht
08.09.2022, 21:13 Uhr
Ukrainische Truppen fahren in einem gepanzerten Fahrzeug durch die Region Charkiw.
(Foto: picture alliance / AA)
Die Ukraine scheint in der Region Charkiw von Erfolg zu Erfolg zu eilen, auch in Cherson geht es voran. Zahlreiche Ortschaften sollen zurückerobert worden sein. Westliche Unterstützer sichern dem Land weitere militärische und humanitäre Hilfe zu. Die Wirtschaft der Ukraine erleidet allerdings Schiffbruch. Der 197. Kriegstag im Überblick:
Ukraine dringt weiter hinter russische Linien vor
Die Streitkräfte der Ukraine sollen im Bezirk Balaklija in der Region Charkiw bis zu 50 Kilometer tief hinter die feindlichen Linien vorgestoßen sein. Infolge der überfallartigen Angriffe seien rund 20 Ortschaften zurückerobert worden. Das berichtete der Vertreter des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte, Oleksiy Hromov. Rund 700 Quadratkilometer Fläche seien bereits zurückerobert worden, hieß es weiter. Um welche Ortschaften es sich dabei handelt, ist unklar. In den letzten Tagen wurde zumindest die Befreiung von Werbiwka und Bairak gemeldet. Es gab auch Behauptungen, die russischen Truppen hätten sich aus der Ortschaft Balaklija zurückgezogen. Letztes scheint mittlerweile bestätigt. Zudem gab es Bericht, die ukrainischen Truppen hätten auch das weiter nördlich gelegene Schewtschenkowe eingenommen haben. Der Ort mit einst 7000 Einwohnern liegt an einer wichtigen Verbindungsstraße in Richtung Kupjansk. Die Stadt wiederum ist wichtig für die Versorgung der russischen Truppen im Donbass.
Russen retten bereits Familienangehörige aus Kupjansk
Nach dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive brachten die russischen Besatzer eigenen Angaben zufolge Frauen und Kinder bereits aus der Stadt Kupjansk. "Die Lage in der Stadt Kupjansk ist heute so, dass wir einfach gezwungen sind, die Evakuierung der Bevölkerung - zumindest der Frauen und Kinder - zu gewährleisten, weil die Stadt Raketenangriffen der ukrainischen Militärverbände ausgesetzt ist", sagt der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge.
Auch in Cherson melden ukrainische Truppen Erfolg
Aber nicht nur im Nordosten des Landes feiern die ukrainischen Truppen Erfolge. Offenbar gelang ihnen auch ein Erfolg in Cherson. Russischen Medienberichten zufolge sollen ukrainische Truppen dort eine russische Verteidigungslinie durchbrochen. Demnach sollen sie in der Ortschaft Possad Pokrowske einen Erfolg erzielt haben. Die Ortschaft sei zuletzt von der 20. Motorbrigade der russischen Streitkräfte gehalten worden sein. Der Erfolg wäre wichtig für die Ukraine, weil die Ortschaft an einer wichtigen Straße liegt, die direkt nach Cherson führt. Von Possad Pokrowske sind es nur noch etwa 30 Kilometer bis zur Regionalhauptstadt Cherson.
Kämpfe nahe Saporischschja flammen wieder auf
Zuvor meldete die Ukraine bereits schwere Gefechte aus der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja. Der Generalstab des Militärs erklärte am Morgen, in den vergangenen 24 Stunden habe es Angriffe auf Dörfer und Ortschaften unter anderem mit Panzern und Granatwerfern gegeben. Der Chef des Regionalrats von Dnipro, Mykola Lukaschuk, schreib auf Telegram, die Stadt Nikopol wurde von russischen Truppen aus der Stadt Enerhodar heraus beschossen. In Enerhodar liegt das AKW Saporischschja, das von russischen Truppen kontrolliert, aber von ukrainischen Technikern betrieben wird. Die russischen Truppen sollen bereits in der Nacht zuvor zahlreiche Ortschaften mit Raketen beschossen haben. In der Region Donezk wurden laut den dortigen Behörden sieben Zivilisten getötet und im Großraum Charkiw fünf Menschen verletzt. In der Region Saporischschja seien mindestens elf Gebäude beschädigt worden, schrieb Gouverneur Walentyn Resnitschenko auf Telegram. Berichte über Verletzte gab es hier nicht.
US-Verteidigungsminister Austin spricht von "Schlüsselmoment"
Auch wenn viele Erfolge der ukrainischen Truppen erst im Laufe des Tages bekannt wurden, sagte der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin bereits in Deutschland vorab: "Der Krieg hat einen Schlüsselmoment erreicht". Daher müsse sich auch die Ukraine-Kontaktgruppe neu positionieren. Austin hatte die Kontaktgruppe in Ramstein im April ins Leben gerufen. Ihr gehören neben den USA auch Deutschland und Großbritannien sowie weitere NATO-Staaten an. Sie soll die militärische Unterstützung der Ukraine koordinieren. An dem Treffen nahm auch der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow teil.
Mehr als eine Million ukrainische Zivilisten verschleppt oder inhaftiert
Eine Facette des Krieges sind auch die zahlreichen Verschleppungen und Inhaftierungen von Zivilisten durch russische Soldaten. Bis zu 1,6 Millionen Ukrainer, darunter 1800 Kinder, seien Berichten zufolge durch Russland unrechtmäßig inhaftiert, verhört und aus ihren Heimatorten verschleppt worden, erklärte die UN-Botschafterin der USA, Linda Thomas-Greenfield, bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Diese Praxis sei eine Vorbereitung für eine Annexion ukrainischer Gebiete. Der Rat habe festgestellt, dass ukrainische Zivilisten in speziellen Lagern einem "Filtrationsverfahren" unterzogen werden, sagte die Leiterin der Abteilung für politische Angelegenheiten der UN, Rosemary DiCarlo. Sie forderte Zugang zu allen inhaftierten Personen.
Kommandeur der Separatisten widerspricht Kreml-Darstellung
Rechtfertigen will Russland nicht nur die Legitimität der Referenden, auch Gründe für die Invasion werden immer wieder genannt. Einer davon lautete, dass es in der Ukraine Vorbereitungen für einen Angriff auf Russland gegeben habe. Dem widerspricht nun aber ein Kommandeur der selbsternannten prorussischen Republik Donezk. In seinem Telegram-Kanal schrieb Alexander Chodakowski, er habe bisher keine Belege dafür gefunden, dass die Ukraine einen Angriff auf Russland geplant habe - Moskau behauptet das immer wieder. "Die Ukraine hat sich auf einen Abwehrkrieg vorbereitet", so Chodakowski. Bei den Dokumenten, die seine Truppen nach der Eroberung ukrainischer Stellungen erbeutet haben, sei ihm kein einziges taktisches Dokument untergekommen, das Angriffshandlungen vorsehe. Vor seiner Unterstützung der Donezker Separatisten war Chodakowski bis 2014 Chef der örtlichen Antiterroreinheit des ukrainischen Geheimdienstes SBU. Dabei war er auch an der versuchten Niederschlagung der prowestlichen Proteste im Winter 2013/2014 in Kiew beteiligt.
USA liefern weitere Waffen für 675 Millionen Dollar
Trotz aller militärischen Erfolge benötigt die Ukraine nach eigenen Angaben weiterhin westliche Waffen. Die USA kommen dieser Bitte nach und sichern dem Land Waffen im Volumen von 675 Millionen US-Dollar zu. Das gab US-Außenminister Austin bekannt. Das neue Hilfspaket umfasse unter anderem die Lieferung weiterer Haubitzen, Artilleriemunition und gepanzerter Fahrzeuge. Seit April habe seine Regierung der Ukraine Waffen im Gesamtvolumen von 6,3 Milliarden Dollar bereitgestellt.
Deutschland will ukrainische Minensucher ausbilden
Auch Deutschland bietet der Ukraine weitere Unterstützung an. Zusammen mit den Niederlanden werde die Bundesregierung ein Anti-Minen-Programm starten, sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht beim Treffen der Kontaktgruppe in Ramstein. Dabei würden 20 ukrainische Soldaten ausgebildet zur Minensuche und -räumung sowie der Beseitigung von Sprengfallen. Auch werde entsprechendes Material zur Verfügung gestellt. Zudem bereiteten Deutschland und die Niederlande ein Winterpaket für die ukrainischen Streitkräfte vor. Dazu gehörten Geräte zur Stromerzeugung und Zelte sowie Ausrüstung der Soldaten.
Ukrainische Wirtschaft bricht massiv ein
Nicht nur militärisch benötigt die Ukraine Hilfe, auch ökonomisch macht der Krieg dem Land massiv zu schaffen. Die ukrainische Wirtschaftsleistung brach kriegsbedingt zuletzt um mehr als ein Drittel ein. Im zweiten Quartal 2022 sei die Wirtschaftsleistung im Jahresvergleich um 37,2 Prozent zurückgegangen, teilte das ukrainische Statistikamt mit. Im ersten Quartal hatte der Einbruch bei 15,1 Prozent gelegen. 2021 war die ukrainische Wirtschaft noch um 3,4 Prozent gewachsen. Große Teile der Süd- und Ostukraine sind infolge der russischen Invasion besetzt und die für den Export wichtigen Häfen des Landes blockiert. Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol mit ihren Stahlwerken ist zu großen Teilen zerstört. Viele Unternehmen haben ihre Produktion komplett eingestellt.
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Quelle: ntv.de, als/dpa/AFP/rts