
Taliban-Patrouille in Farah südwestlich von Kabul.
(Foto: AP)
Seit die NATO-Truppen Afghanistan verlassen, sind die Taliban wieder auf dem Vormarsch. Eine Großstadt nach der anderen nehmen sie ein. Die Eroberung Kabuls scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Kundus, Kandahar und bald wohl auch Kabul - in Afghanistan fallen die großen Städte eine nach der anderen in die Hände der Taliban. Oftmals gibt es keine langen Kämpfe, weil die afghanischen Soldaten den heranrückenden Kämpfern kaum Widerstand leisten. In einer Woche eroberten die Islamisten mehrere Provinzhauptstädte, zuletzt auch Herat, die drittgrößte Stadt des Landes. Mit Pul-i Alam haben die militant-islamistischen Taliban gerade erst eine Provinzhauptstadt eingenommen, die nur rund 70 Kilometer südlich von Kabul entfernt liegt. Sind es noch 30 Tage, bis die Taliban dort sind? Oder 60? Darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Aber dass sie demnächst dort sein werden, bezweifelt kaum jemand. Schon vor den letzten Eroberungen hatte ein ranghoher Vertreter der EU gesagt, 65 Prozent des Landes stünden unter Kontrolle der Taliban.
"Die Regierung kann keine Gegenwehr leisten, die Truppen geben meist kampflos auf", sagt Thomas Ruttig im Gespräch mit ntv.de. Der Afghanistan-Kenner verfügt über mehr als drei Jahrzehnte Erfahrung in dem Land, als Mitarbeiter verschiedener UN-Missionen, Berater der deutschen Botschaft und der afghanischen Regierung sowie in den 80er-Jahren auch als Diplomat der DDR. Er gründete auch das Afghan Analysts Network, ein Thinktank in Kabul.
Dabei verfügt die afghanische Armee über 300.000 Soldaten und Polizisten sowie weitere, mehrere Zehntausend in Milizen organisierte Kämpfer, während die Taliban nur etwa 30.000 Mann haben sollen. "Zahlen sind nicht alles", sagt Ruttig. "Man sieht nun, dass das Ausbildungskonzept der NATO gescheitert ist." Die afghanischen Truppen seien demoralisiert, insbesondere durch den bedingungslosen Abzug der Amerikaner und der anderen NATO-Truppen. "Vielen erscheint die Regierung in Kabul wegen der systemischen Korruption auch nicht verteidigenswert", sagt er.
Soldaten flohen vor Taliban
Ein Beispiel ist die Eroberung der 120.000 Einwohner großen Stadt Aibak in der Provinz Samangan im Norden des Landes. Der Provinzrätin Machboba Rahmat zufolge hatten die Sicherheitskräfte die Stadt einfach verlassen. Davor hätten sie das Verteidigungsministerium um Luftangriffe gebeten, aber dieses habe nicht auf sie gehört, sagte sie. "Sie dachten, wenn die Regierung ihnen keine Aufmerksamkeit schenkt, werden sie ihr Leben nicht für die Regierung riskieren", so Rahmat vergangene Woche gegenüber. Nach der Eroberung von Gasni warfen zwei Provinzräte dem Gouverneur vor, ein geheimes Abkommen mit den Taliban geschlossen und die Stadt ausgeliefert zu haben.
Ellinor Zeino, die das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul leitet, ist dennoch überrascht über das Tempo des Taliban-Vormarsches. "Das kam für alle sehr, sehr überraschend, wie schnell und erfolgreich die Taliban wirklich das gesamte Land, die Provinzen, die Distrikte überrennen konnten und vor allem auch im Norden quasi alle Distrikte einnehmen konnten", erklärt Zeino im ntv Podcast "Wieder was gelernt". Auch weil der Norden nicht dafür bekannt sei, dass die Taliban dort eine große Anhängerschaft hätten.
Was in den eroberten Städten passiert, bestätigt düstere Befürchtungen. Die Binnenflüchtlinge in Afghanistan berichteten vom brutalen Umgang der Islamisten mit der Bevölkerung. "Die Taliban prügeln und plündern", erzählte Rahima, die nach der Flucht aus der Provinz Scheberghan gemeinsam mit Hunderten weiteren Flüchtlingen in einem Park von Kabul campierte. "Wenn es in einer Familie ein junges Mädchen oder eine Witwe gibt, nehmen sie sie mit Gewalt. Wir sind geflohen, um unsere Ehre zu schützen."
"Meine große Sorge ist, dass nun die Taliban-Feldkommandeure einen Rachefeldzug führen und die Leute umbringen, die mit der alten Regierung kooperiert haben", sagt Afghanistan-Experte Ruttig. Es gebe Anzeichen, dass es in manchen Gegenden schon dazu gekommen sei. Insbesondere betrifft das jene, die für die Bundeswehr gearbeitet haben. Von diesen seien viele entsetzt, wie langsam und bürokratisch Deutschland deren Ausreise regele. Auch Ellinor Zeino von der Adenauer-Stiftung fürchtet Gewalt. "Die junge Taliban-Generation ist sehr hasserfüllt, sie ist sehr auf Rache aus."
Viele Einflussmöglichkeiten bleiben nicht
Stefan Recker vom internationalen Caritas-Verband, der ebenfalls in Kabul sitzt, sagte im Deutschlandfunk, es sehe immerhin danach aus, dass Hilfsorganisationen nicht behelligt würden. Hoffnungen darüber, dass die Taliban künftig gemäßigter auftreten könnten, sieht Ruttig aber skeptisch. "Da, wo sie sind, haben sie sich bemüht, nicht auf totale Konfrontation mit der Bevölkerung zu gehen. Es ist aber die Frage, ob das so bleibt, oder ob man wieder in alte Muster zurückfällt." Man könne den Rückhalt in der Bevölkerung nicht messen, aber man könne annehmen, dass die meisten kein Taliban-Regime wollten.
"Geld", sagt Ruttig auf die Frage, welche Mittel Deutschland und dem Westen noch bleiben. Dass Afghanistan keinen Cent mehr bekommen soll, wenn die Taliban übernehmen, wie es Außenminister Heiko Maas angekündigt hat, sieht er kritisch. Bisher bekommt die Regierung in Kabul jedes Jahr 430 Millionen Euro Budgethilfe. "Man sollte differenzieren zwischen Bevölkerung und Regime", sagt Ruttig. 80 Prozent der Menschen lebten unter der Armutsgrenze. Humanitäre Hilfe sollte nicht an Bedingungen geknüpft werden. Aber auch die Taliban sollten ein Interesse an Hilfen für die Infrastruktur haben. "Deutschland sollte in Kooperation mit der EU eine Initiative auch über Pakistan starten", findet Ruttig. Die Taliban sollen zeigen, dass ihre Erklärung, dass sich niemand vor ihnen fürchten müsse, der Wahrheit entspreche.
Den USA hatten die Taliban bei ihren Friedensverhandlungen in Doha im vergangenen Jahr auch zugesagt, das Land nicht wieder zu einem sicheren Hafen für Terroristen werden zu lassen. Das war der ursprüngliche Grund für den Einsatz gewesen, der eine Reaktion auf die Terroranschläge des 11. September 2001 gewesen war. Sollten die Taliban nun aber wieder die Macht übernehmen, ist offen, ob sie sich daran halten. Nach dem Abzug der NATO-Truppen bleibe ein Vakuum zurück, sagte Zeino bei ntv. Füllen werden dies vermutlich China, sagt sie. Aus eigenen Sicherheits-, aber auch aus ökonomischen Interessen.
Quelle: ntv.de