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Putin will nicht verhandeln Was die Ukrainer unter einem Sieg verstehen

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Präsident Selenskyj bei einem Truppenbesuch an der Südfront.

Präsident Selenskyj bei einem Truppenbesuch an der Südfront.

(Foto: picture alliance / Presidential Office of Ukraine)

Wer Russland kennt, weiß, dass Hoffnungen auf Verhandlungen mit Putin eine gefährliche Illusion sind. Krieg und Terror sind für ihn längst ein Selbstzweck geworden. Den Ukrainern ist das klar. Sie wissen, dass sie Russland besiegen müssen, wenn sie in Frieden und Freiheit leben wollen.

Die im Ausland heiß debattierte Idee, früher oder später mit dem Kriegsherrn im Kreml Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder gar ein Ende des Krieges führen zu können, wird weder von ukrainischen noch von russischen Politikern und Experten ernsthaft in Betracht gezogen. Wer Russisch versteht und die Macht in Russland aus eigener Anschauung kennt und mit der ukrainischen und der russischen Geschichte vertraut ist, kann zu keinem anderen Schluss kommen: Putin will nicht verhandeln. Auch für russische Beobachter gilt das unabhängig davon, welchem politischen Lager sie angehören, ob sie im Exil sind oder in Russland.

So bezeichnet der in den USA lebende Schachweltmeister Garri Kasparow die Idee, mit Putins Russland substanzielle Verhandlungen führen zu können, als gefährliche Illusion. Denn für Putin existiert die Ukraine als Verhandlungspartner gar nicht, er will ihr nur seine Bedingungen diktieren. Putins nationalistische Unterstützer und Kritiker wie der derzeit inhaftierte Kriegsverbrecher Igor Girkin wollen den Krieg ausweiten und fordern vom Herrscher im Kreml immer brutalere Entscheidungen.

Für die Ukraine hat Präsident Wolodymyr Selenskyj Verhandlungen mit Putin zwar nicht verboten, wie oft in deutschen Medien kolportiert wird. Aber der ukrainische Sicherheitsrat hat im Oktober 2022 offiziell konstatiert, dass Verhandlungen mit Putin unmöglich sind - nachdem dieser vier ukrainische Oblaste für annektiert erklärt hatte, darunter Gebiete, die damals wie heute unter ukrainischer Kontrolle waren und sind.

Mittlerweile glaubt Putin seine eigenen Lügen

Putin will und kann den Krieg nicht beenden, weil er keinen Sieg erringen kann, erklärte kürzlich der russische Journalist Alexander Newzorow, der 2022 die ukrainische Staatsbürgerschaft angenommen hat und Russland verlassen hat. "Denn wenn Putins schizophrenen Träume durch ein Wunder wahr werden sollten, die Besetzung der Ukraine, wird es kein Sieg sein, sondern ein riesiger allgemeiner Krieg wird in tausend kleine heiße Kriege zerfallen, die aufrechterhalten, mit Menschenfleisch gefüttert, mit Menschenblut getränkt und mit Eisen versorgt werden müssen. Putin isst Krieg, er trinkt Krieg, er ist darin gekleidet. Deshalb wird er den Krieg gegen jeden gesunden Menschenverstand fortsetzen."

Newzorow hat recht. Putin wird niemals einsehen, dass der Preis des Krieges zu hoch ist, wie im Westen die Befürworter von Waffenlieferungen hoffen. Die westliche kaufmännische Kosten-Nutzen-Kalkulation verkennt den Charakter dieses Krieges und den des Kriegsherrn im Kreml, der inzwischen selbst ein Getriebener ist und sich in unlösbaren Widersprüchen verfangen hat.

Man kann mit Putin-Russland auch deshalb keine ernsthaften Verhandlungen führen mit dem Ziel, den Krieg zu beenden, weil die russische Politik zur Wahrheit nur ein taktisches Verhältnis hat. Einer von Putins früheren Mitstreitern im KGB, der inzwischen in Frankreich lebende Sergej Schirnow, sagt, dass Putin seit der Krim-Okkupation 2014 gefährlich sei, weil er seitdem an seine eigenen Lügen glaube - womit er den schlimmsten Fehler begeht, den ein Agent machen kann. Lügen und Legenden sollen den Gegner verwirren, nicht die eigenen Leute, schon gar nicht den professionellen Lügner selbst. Aber Putin kann nicht einmal konkrete Kriegsziele nennen, für ihn sind Krieg und Terror längst ein Selbstzweck geworden.

Der Sieg muss politisch gewollt sein

Ausländer ohne Sprach- und Landeskenntnisse machen sich gern hübsche Illusionen über Russland. Ihre Leben sind ja nicht in Gefahr, ihr Himmel ist rein, die Sirenen in ihren Städten heulen nicht. Sie können das Für und Wider von Waffenlieferungen oder strategischen Entscheidungen der ukrainischen Armee ungestört abwägen. Ein paar Mutige kommen mal ein paar Tage in die Ukraine und verfassen dann "Stimmungsberichte".

Zu den größten Seltsamkeiten dieses Krieges gehört das Staunen im Ausland über die militärischen Erfolge und die Siegesgewissheit der Ukrainer. Umgekehrt staunen die Ukrainer, dass man an ihrem Sieg zweifeln kann. Unter Sieg verstehen sie die Befreiung ihres gesamten Territoriums, einschließlich der Krim. Denn ganz abgesehen von politischen oder völkerrechtlichen Erwägungen: Eine russische Militärpräsenz auf der Krim wäre für die Ukraine immer eine massive Bedrohung ihrer Sicherheit. Wann und wie das bewerkstelligt werden wird, das werden die Spezialisten entscheiden, die schon häufig ihre exzellenten Fähigkeiten bewiesen haben. Den Ukrainern bleibt ohnehin keine andere Wahl als der Sieg, weil sie in Frieden und Freiheit leben wollen.

Die Formel für den Sieg ist eigentlich recht simpel. Zusammen sollten die Ukrainer und die sie unterstützenden 50 Länder in einem konventionellen Krieg stärker sein als Russlands Fake-Armee. Es muss nur politisch gewollt sein.

Einige Siege hat die Ukraine bereits erreicht

Immerhin hat die Ukraine den Okkupanten schon fünf Niederlagen zugefügt, wie Außenminister Dmytro Kuleba kürzlich darlegte. Die Ukrainer ließen sich zu Beginn der großen russischen Invasion nicht von Angst lähmen und schockieren, wie ihre Gegner gehofft und ihre westlichen Verbündeten befürchtet hatten. Das war der erste Sieg. Dann haben sie den russischen Plan vereitelt, die Hauptstadt Kiew einzunehmen, wieder ein wichtiger Etappensieg. Sie haben auch an der diplomatischen Front gewonnen, ihre Kultur ist populärer als jemals zuvor. Außerdem haben sie erfolgreich Gegenangriffe durchgeführt und mehr als tausend Dörfer und Siedlungen von russischer Terrorherrschaft befreit. Und sie haben den Raketenterror der Russen besiegt, indem sie den härtesten Winter seit Jahrzehnten einigermaßen glimpflich überstanden.

In meiner Stammkneipe im Zentrum der zentralukrainischen Stadt Poltawa trinkt man jeden Tag auf den Sieg, meistens schon mit dem ersten Toast. Früher war es eine nahezu heilige Tradition, zuerst auf das Glück des Beisammenseins zu trinken, dann auf die Frauen und auf die Männer und auf besondere Ereignisse oder Leistungen. Diese Trinksprüche wurden gern witzig und blumig formuliert und mit Aphorismen geschmückt. Der Toast auf den Sieg aber kommt heutzutage ohne Zierrat aus. Man wünscht sich einen Himmel ohne feindliche Raketen, ruhigen Schlaf, und dass alle Soldaten gesund nach Hause zurückkommen. Utopische Wünsche vorerst, aber an ihre Verwirklichung zu glauben, das verleiht Kraft.

Wenn der Krieg etwas lehrt, dann, mit den Kräften hauszuhalten, sich nicht in sinnlose Diskussionen zu verstricken und vor allem das Prinzip der Arbeitsteilung zu akzeptieren. Jeder gibt an seinem Platz möglichst das Beste. Alle wissen, dass der Krieg auch nach einer Befreiung selbst des gesamten okkupierten Territoriums nicht notwendigerweise beendet sein wird. Dafür müssten sich in Russland die Machtverhältnisse ändern, was allerdings jederzeit möglich ist.

Sogar Putins Propagandisten zweifeln am Sieg

Selbst in den Propagandasendungen des russischen Staatsfernsehens wurden inzwischen wiederholt leise Zweifel an einem Sieg Russlands geäußert. So warnte der Generaldirektor der russischen Filmgesellschaft Mosfilm, Karen Schachnasarow, vor Siegesgewissheit und weiterem Selbstbetrug. "Ich weiß nicht, ob wir gewinnen werden. Wir haben diesen Krieg nicht organisiert, gegen den ganzen Westen. Wir haben die Gesellschaft nicht darauf vorbereitet. Gewinnen werden Disziplin und eiserne Organisation. Das entscheidet alles. Aber in unserer Gesellschaft haben wir das nicht." Auch den ukrainischen Präsidenten habe man unterschätzt, dieser sei voller Energie und wohl doch keine Marionette, wie man immer behauptet habe.

Unerhörte Äußerungen. Bisher wurde Selenskyj im russischen Staatsfernsehen mit übelsten Worten bezeichnet, jetzt wird er plötzlich als starker, gefährlicher, eigenständiger Leader dargestellt. Unerhört war bereits, dass das Saalpublikum bei Putins Rede an die Nation am 21. Februar 2023 nur apathisch und gelangweilt wirkte. Hohe Würdenträger und Abgeordnete kämpften gegen den Schlaf an, einige verloren diesen Kampf.

Nicht einmal das Wetter ist auf Russlands Seite. Die Hoffnung, Europa werde im Winter frieren, habe sich nicht erfüllt, bedauerte der Abgeordnete Alexej Schuralew in einer Fernsehsendung am ersten Frühlingstag. "Europa hat nicht gefroren. General Frost hat seine Aufgabe nicht erfüllt."

Ein Grund für den Optimismus der Ukrainer sind ihre detaillierten Kenntnisse über die Entwicklungen in Russland. Sie brauchen keine Übersetzer, um zu verstehen, was da los ist, wie rasant Russland Richtung Abgrund rast. Wie brutal die Russen selbst mit ihren eigenen Leuten umgehen, das bestärkt die Ukrainer in ihrer Würde und Selbstachtung und so auch im Glauben an ihren Sieg.

Christoph Brumme lebt seit 2016 in der zentralukrainischen Stadt Poltawa. Er berichtet für die "Neue Zürcher Zeitung" und für deutsche Rundfunksender regelmäßig aus der Ukraine.

Quelle: ntv.de

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