Reisners Blick auf die Front "Es könnte jetzt zu einem Dominoeffekt kommen"
04.09.2023, 19:02 Uhr Artikel anhören
Die Ukraine durchbricht nach eigener Aussage bei Robotyne die erste Verteidigungslinie. Trotzdem könne man noch nicht von einem "operativen Durchbruch" sprechen, sagt Oberst Markus Reisner im wöchentlichen Interview mit ntv.de. Dennoch sei die Situation für die Russen im Raum Saporischschja ernst: Gelingt es den Ukrainern, die nächsten Verteidigungslinien ebenfalls zu durchbrechen, könnten es zu einem Dominoeffekt kommen.
ntv.de: Am Sonntag hat ein Interview im britischen "Guardian" Schlagzeilen gemacht, in dem der ukrainische General Oleksander Tarnawskyj von einem Durchbruch der ersten Verteidigungslinie gesprochen hat. Ist das der lang ersehnte Durchbruch?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Nein. In den letzten Monaten wurde von den Russen die sogenannte Surowikin-Linie gebaut. Diese Linie besteht aus mehreren Unterlinien. Die sogenannte Gefechtsvorpostenlinie, wo in den letzten Wochen intensive Kämpfe stattgefunden haben, die erste, zweite und dritte Verteidigungslinie. Die Gefechtsvorpostenlinie ist durchbrochen worden. Das bedeutet aber nicht, dass die Surowikin-Linie als Gesamtes durchbrochen ist, sondern man hat einen Einbruch erzielt. Die Ukrainer stehen jetzt an der tatsächlichen Hauptlinie, also der ersten Verteidigungslinie, und haben auch diese - zumindest in Teilen - ebenfalls durchdrungen. Aber nicht im Sinne eines operativen Durchbruchs.
Wo ist der genaue Unterschied zwischen einem Einbruch und einem operativen Durchbruch? Darüber scheint es immer wieder Verwirrung zu geben.
Man muss sich das wie den Zugang zu einem Haus vorstellen. Die Ukrainer haben es geschafft, durch den Vorgarten zu kommen, sind jetzt bei der Eingangstür und haben dort einen Fuß durchbekommen. Sie müssen aber noch durch das Haus durch und in den hinteren Garten und man weiß nicht, ob im Haus nicht noch Türen geschlossen sind. Ein operativer Durchbruch wäre wie ein Damm, der bricht und nicht mehr aufzuhalten ist. Man spricht deswegen hier von einem Einbruch.
Die zweite und dritte Verteidigungslinie soll dem ukrainischen General zufolge viel leichter zu durchdringen sein, da Russland nicht so viele Ressourcen und Truppenstärken dort eingesetzt hat. Heißt das, dass die Offensive jetzt in Fahrt kommt?
Dazu gibt es keine eindeutige Expertenmeinung. General Tarnawskyj hat gesagt, dass circa 60 Prozent der Ressourcen in die erste Linie gesteckt worden sind und nur circa 20 Prozent in die folgenden Linien. Satellitenbilder und Auswertungen in Expertenkreisen zeigen aber, dass auch die hinteren Linien zu einem gewissen Maße ausgebaut sind. Die Frage ist: Mit welchen Kräften sind sie besetzt? Hier sind zwei Dinge interessant, die Russland in den letzten Wochen unternommen hat.
Und zwar?
Sie haben zum einen die 76. Garde-Luftsturm-Division in den Raum Saporischschja verlegt, um diese Linien zu besetzen. Zum anderen haben sie Teile der 41. Armee auch aus dem Nordosten in Richtung Süden verlegt, vermutlich ebenfalls, um Kräfte bereitzustellen. Das Argument, dass die Linien wenig besetzt sind, kann sich deshalb möglicherweise in den nächsten Wochen zu Ungunsten der Ukraine verändern. Aber momentan kann man davon ausgehen, dass die russische Seite beim Kampf um die Gefechtsvorpostenlinie signifikant Kräfte verbraucht hat.
Der Durchbruch bis zur ersten Verteidigungslinie hat auch deshalb so lange gedauert, weil sich die Ukraine erst mühsam durch große Minenfelder kämpfen musste. Kann man deshalb sagen, dass die ukrainischen Streitkräfte das Schwerste hinter sich haben?
Die Auswertung von Videos in den sozialen Medien zeigt, dass Russland während der Kämpfe in der Gefechtsvorpostenlinie bereits damit begonnen hat, weitere Minenfelder in der Tiefe anzulegen. Ob sie dieselbe Qualität wie die vorderen Minenfelder haben, wird man erst in den nächsten Tagen und Wochen sehen. Was man sehr gut erkennen kann, ist, dass die Ukraine vor allem in der Nacht versucht, mit kleineren Kräften vorzudringen, um Minenfelder zu erkunden und mit entsprechendem Gerät zu räumen. Sie haben mittlerweile eine gewisse Routine entwickelt und arbeiten sich Stück für Stück vor.
Spielen wir einmal ein Szenario durch, in dem die zweite und dritte Verteidigungslinie wirklich nicht so stark besetzt sind wie die erste und den Ukrainern dort ein Durchbruch gelingt. Wie ginge es dann weiter?
Ein mögliches Szenario wäre zum Beispiel der Blick auf die vergangene Offensive bei Charkiw. Da hat man gesehen, dass die Ukrainer es geschafft haben, in sehr kurzer Zeit durch die dünn besetzten Stellungen der Russen durchzubrechen. Danach gab es einen Dominoeffekt. Wie bei einem Dammbruch war der ukrainische Vorstoß nicht mehr aufzuhalten und die russischen Kräfte haben sich zum Teil in Panik zurückgezogen. Theoretisch könnte das jetzt ähnlich passieren, wenn den ukrainischen Kräften nördlich von Tokmak der Durchbruch gelingen sollte.
Was spricht gegen dieses Szenario?
Dieses Mal sind die Verteidigungslinien der Russen deutlich besser ausgebaut als bei Charkiw und sie haben zusätzlich Kräfte herangeholt. Trotzdem könnte so ein Dominoeffekt wieder funktionieren. Die Ukraine versucht jetzt, den Einbruchsraum und den Einbruch in die nächste Verteidigungslinie auszuweiten, auch zu den Seiten, um nicht der großen Bedrohung durch Flankenangriffe der Russen ausgesetzt zu sein. Hier begünstigt sogar der Umstand, dass die umfangreichen Minenfelder es auch den Russen fast unmöglich machen, Flankenangriffe durchzuführen.
Warum ist Tokmak so ein großes Ziel für die Ukrainer?
Es ist ein wichtiger Logistikpunkt. Den Ort Tokmak einzunehmen oder zum Asowschen Meer durchzustoßen ist aber gar nicht unbedingt das übergeordnete Ziel. Würden es die Ukrainer schaffen, bis nach Tokmak vorzustoßen, dann wäre es unter Umständen möglich, mit amerikanischen HIMARS-Raketen wichtige Straßen, russische Munitionsdepots und Kommandostrukturen unter Beschuss zu nehmen, während sie gleichzeitig die Krimbrücken weiter attackieren, um die Ressourcen für die Russen komplett abzuschneiden. So müsste man unter Umständen gar nicht alles physisch in Besitz nehmen.
Trotzdem hätte man die Gebiete südlich von Tokmak damit noch nicht befreit.
Man hätte zumindest die Kontrolle über diese Bereiche und könnte herangeführte Versorgungskonvois der Russen effektiv unterbrechen. Es wäre eine Kompromisslösung hinsichtlich des Erfolgs der Offensive.
Wenn es der Ukraine gelingen sollte, bis nach Tokmak vorzustoßen und von dort aus erfolgreiche Angriffe zu starten, muss Russland den Süden dann aufgeben?
Das hängt davon ab, wie weit und wie tief diese Einbruchstelle tatsächlich ist. Inzwischen führen sie die Offensive auf einer Breite von 10 bis 15 Kilometern durch. Man braucht einen entsprechenden Raum für mögliche Feuerstellungsräume. Wenn sich alles auf sehr engem Raum abspielt, ist es für die russische Seite etwas leichter, diese Feuerstellungsräume aufzuklären und Gegenmaßnahmen zu treffen. Wenn es der Ukraine aber gelingt, die russische Versorgung mit Angriffen zu unterbinden, würde es zu einem massiven Druck auf der Krim kommen. Das ist das strategische Kalkül auf der ukrainischen Seite.
Nach britischer Einschätzung riskiert Russland eine Aufteilung seiner Truppen, indem es versucht, die ukrainische Gegenoffensive im Süden abzuwehren und gleichzeitig im Osten bei Kupjansk selbst anzugreifen. Gerät Russland durch die Aufspaltung seiner Truppen in Schwierigkeiten?
Dieses Spiel sehen wir von beiden Seiten. Beide versuchen sich gegenseitig abzulenken und Kräfte zu binden. Als Beispiel versucht die Ukraine im Südwesten bei Cherson laufende Anlandungen durchzuführen, mit dem Ziel, die Russen abzulenken und vor allem russische Kräfte zu binden, vor allem russische Luftstreitkräfte. Russland macht das Gleiche im Raum Kupjansk. Durch starken Druck versucht man, die Ukraine zu zwingen, Reserven in diesen Raum zu schicken, damit sie diese Kräfte nicht im Zentralraum zur Verfügung hat. Obwohl es räumlich nur geringe ukrainische Vorstöße gibt, ist die Situation im Zentralraum für die Russen zunehmend ernster geworden, aber noch nicht kritisch. Die Verlegung der 41. Armee führt aber dazu, dass es im Nordosten zu einer Ausdünnung kommt.
Die Situation hört sich für die Ukraine viel positiver an als in den Wochen zuvor. Gibt es daher Grund, euphorisch zu werden?
Den gibt es leider nicht. Wir müssen die Situation weiter mit militärischer Objektivität und Nüchternheit betrachten. Es gibt, wie bereits gesagt, vier Faktoren, die immer entscheidend sind für eine derartige Offensivführung: Kraft, Raum, Zeit und Information. Beim Faktor Kraft muss man feststellen, dass die Ukraine alle verfügbaren Offensivkräfte bereits im Einsatz hat. Es gibt kaum mehr Reserven, vor allem keine gut ausgestatteten mechanisierten Verbände, die man noch zusätzlich heranführen kann. Die Ukraine hat hier alles auf eine Karte gesetzt. Beim Faktor Raum sieht man, dass es der Ukraine tatsächlich gelungen ist, den Fuß in die Türe der ersten Verteidigungslinie zu stecken. Ob aber ein Durchbruch gelingt, weiß man noch nicht. Der Faktor Zeit hat sich dahingehend verändert, dass es jetzt schnell gehen muss, weil die nächsten Regenfälle vor der Türe stehen, die die Schlammperiode einleiten.
Damit würde die Offensive automatisch enden, sagten Sie letzte Woche.
Genau. Die Offensive friert dann dort ein, wo sie ist, umfangreiche Bewegungen sind dann nur schwer möglich. Der letzte Faktor ist Information. Hier stellt man sich die Frage: Haben die Russen jetzt noch genug Kräfte in diesen weiteren Verteidigungslinien? Ist das Heranführen der 76. Garde-Luftsturm-Division und Teil der 41. Armee möglicherweise bereits ein Anzeichen, dass es für die Russen von einer ernsten in eine kritische Situation kommt? Deswegen ist es wichtig für die ukrainische Seite, durch entsprechende Aufklärung ein gutes Lagebild für den weiteren Angriff zu bekommen.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de