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Gipfel startet in Washington Wenn die Ukraine fragt: Hey, NATO, was geht?

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Demonstranten forderten vor dem Weißen Haus in Washington gestern eine Einladung für die Ukraine in die NATO.

Demonstranten forderten vor dem Weißen Haus in Washington gestern eine Einladung für die Ukraine in die NATO.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Rein oder nicht rein? Derzeit macht die NATO der Ukraine keine Hoffnung auf einen raschen Beitritt ins Bündnis, vermutlich wird der Gipfel in Washington nicht mal beschließen, einen Beitrittsprozess zu starten. Aber was kann Kiew sich stattdessen vom NATO-Gipfel erhoffen?

In einem Punkt sind sich offenbar alle einig: Ein PR-Desaster wie beim letzten NATO-Gipfel in Vilnius darf sich in den nächsten zwei Tagen nicht wiederholen. "Beispiellos und absurd" hatte Wolodymyr Selenskyj vor einem Jahr die NATO-Entscheidung genannt, für einen Beitritt der Ukraine keinen Zeitrahmen zu setzen. Da war einiges an guter Zurede hinter den Kulissen notwendig, vor allem aber ein Sicherheitspakt mit den G7, um den ukrainischen Präsidenten wieder zu besänftigen. Als der Gipfel zu Ende ging, war er dann doch bereit, das Ergebnis offiziell als "Sieg" zu feiern.

Einen solchen Eklat wollen und können sich die 32 Mitgliedstaaten in diesem Jahr nicht noch einmal leisten. Zugleich scheint die Ukraine noch weiter von einer NATO-Perspektive entfernt, als sie es 2023 schon war. Im Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren sind die ukrainischen Truppen stark unter Druck. Wegen des Mangels an Flugabwehrwaffen können sie nicht verhindern, dass Russland mit Luftangriffen sukzessive die Netze für Strom, Wärme und Wasser lahmlegt.

Anders gesagt: In den Augen Wladimir Putins läuft es auf dem Schlachtfeld derzeit vielversprechend, obwohl sich die Ukraine mit aller Kraft zur Wehr setzt. Ein mögliches Ende des Krieges deutet sich an keiner Stelle an.

Angesichts dieser Lage ist eine Aufnahme in das Verteidigungsbündnis ausgeschlossen. Die NATO ist nach allem, was im Vorfeld nach außen dringt, nicht einmal dazu bereit, diese Woche in Washington zumindest einen Prozess auf die Schiene zu setzen, an dessen Ende in einigen Jahren die Mitgliedschaft der Ukraine stehen würde. Eine Einladung zum Beitrittsprozess, die den kämpfenden Ukrainern ein Signal geben würde, auf dem Weg in die NATO zu sein - derzeit undenkbar. Zu stark sind in Washington die Expertenstimmen, die befürchten, ein solcher Schritt könnte den Ukrainekrieg einer Eskalation näher bringen.

Nicht mal auf dem Flur, zwischen Sitzungen, Panels und Pressekonferenzen, werde eine mögliche Beitrittsperspektive diskutiert werden, so schätzt es mancher ein, der Erfahrung hat mit den Dynamiken innerhalb des NATO-Betriebs. Da können die Balten, die Polen, die Franzosen und die Briten eine Aufnahme der Ukraine noch so sehr befürworten. Sie sehen darin einen Zuwachs an Sicherheit für Europa. Wenn aber die USA zum Beitrittsprozess weiter Nein sagen, dann sagt die NATO am Donnerstag auch: Nein. Das Kanzleramt in Berlin unterstützt die Position des Weißen Hauses. Aber das ist nicht mehr als eine Fußnote.

Wie der übergewichtige Einfluss Washingtons zustande kommt? Ganz einfach: Die USA leisten mit Abstand den größten Beitrag zu den Fähigkeiten der NATO. Allein für die in Vilnius beschlossenen neuen Verteidigungspläne übernehmen sie die Hälfte der Investitionslast. Die andere Hälfte teilen sich die 31 anderen Partner - europäische Mitgliedsländer und Kanada. Darüber hinaus ist innerhalb der NATO wohl jedem klar: Ein Grundsatzstreit über den Ukraine-Beitritt ist das letzte, was sich US-Präsident Joe Biden fünf Monate vor den Wahlen in den USA noch leisten kann.

Wenn aber die zentrale Forderung der Ukrainer in Washington ziemlich sicher abgeschmettert wird, muss die NATO möglichst alles auf den Weg bringen, was unterhalb dieser Option realisierbar ist. Klingt einfacher, als es ist: Das Bündnis trifft seine Entscheidungen einstimmig.

Wenn in den vergangenen Tagen schon diverse Zugeständnisse an die Ukraine öffentlich wurden, dann hat das auch damit zu tun: Die NATO will an den drei Tagen in Washington möglichst wenig den Dynamiken des Gipfels überlassen. Lieber zurrt man Entscheidungen schon im Vorfeld fest. Blöd für die NATO-Presseabteilung: Was Tage zuvor schon durch die Medien ging, lässt sich am Ende des Gipfels nicht mehr so richtig als Ergebnis verkaufen. Egal. In stürmischen Zeiten wie diesen geht Sicherheit vor Schlagzeile.

Womit kann Stoltenberg noch überraschen?

Was mit Blick auf die Ukraine geplant ist: Das NATO-Bündnis will in Kiew einen erfahrenen Offiziellen dauerhaft als ständigen Vertreter stationieren. In Wiesbaden soll ein neues Kommando eingerichtet werden, das Waffenlieferungen, die Ausbildung ukrainischer Soldaten und andere militärische Unterstützung koordiniert. 700 Posten könnten es werden, mit Logistik-Hub in Polen, so hieß es. Statt den USA soll die NATO die Ukraine-Hilfe koordinieren. Damit die Prozesse weiterlaufen, falls im November der Ukraine-kritische Ex-Präsident Donald Trump die Wahl gewinnt. Im kommenden Jahr sind die NATO-Staaten mit 40 Milliarden Dollar an Militärhilfe für Kiew am Start. Das alles wissen wir schon. Womit könnte Jens Stoltenberg in der Bilanz-Pressekonferenz am Donnerstag noch überraschen?

Die USA deuten an, sie hätten Neuigkeiten mit Blick auf Flugabwehr zu verkünden. Eines der schmerzhaftesten Themen derzeit für Kiew. Der Mangel an Luftverteidigungswaffen ermöglicht Russland so unmenschliche Angriffe wie den vom Montag auf eine Kinderklinik. Allerdings ist der Vorrat an Patriot-Systemen innerhalb der NATO-Staaten sehr auf Kante genäht. Aus den drei Systemen, die Kiews Truppen derzeit zur Verfügung hat, werden bei allem guten Willen auf dem NATO-Gipfel nicht 30 werden.

Die Zahl der Länder, die bilaterale Abkommen mit Kiew geschlossen haben, lässt sich noch etwas erweitern. Diese Sicherheitsabkommen, die etwa Berlin, Paris und London im Februar dieses Jahres unterzeichnet haben, sagen Unterstützung über mehrere Jahre zu. Es sind Beistands-Zusagen, keine Garantien. Garantiert wird der Beistand nur NATO-Mitgliedern. Gleichwohl sind sie wertvoll und ein Pfeiler in der "Brücke", die der Ukraine gebaut werden soll, hin zu einem späteren NATO-Beitritt.

Daneben kann es aus Sicht des Sicherheitsexperten Tobias Fella auch noch darum gehen, der Ukraine zu helfen, sich schon jetzt auf einen noch fern liegenden NATO-Beitritt vorzubereiten. “Finnland und Schweden waren mit Blick auf ihre militärischen Fähigkeiten und ihre Interoperabilität mit NATO-Streitkräften schon vor ihrem Beitritt ins Bündnis so gut aufgestellt, dass der Schritt hinein in die NATO dann keine allzu große Sache war”, sagt Fella, der am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) forscht. Dabei geht es etwa um kompatible oder identische Waffensysteme und Strukturen, die es den Bündnisstaaten erlauben, eng zusammenzuarbeiten. “Man könnte der Ukraine dabei helfen, sich in ähnlicher Weise auszurichten und wird das wohl auch tun, indem die NATO künftig eine koordinierende Rolle bei Waffenlieferungen und Trainings für die ukrainischen Streitkräfte übernimmt", lautet Fellas Einschätzung.

"Irreversibel" - klingt schön unkonkret

Nicht zuletzt wird es bei diesem NATO-Gipfel auch sehr um Textarbeit gehen. Wie kann das Bündnis im Schluss-Kommuniqué die gewünschte starke Brücke in Richtung Kiew schlagen, ohne etwas zu versprechen, das es am Ende nicht halten kann? Da wabert im Vorfeld die mögliche Formulierung, der Beitrittsprozess sei "irreversibel" durch internationale Diplomatenkreise. Für viele klingt das gut - "irreversibel" ließe den Startpunkt für den Beitrittsprozess völlig unkonkret, würde aber dennoch feststellen, dass er kommen muss.

So sind einige Entscheidungen tatsächlich noch offen. Dass man nicht allzu viel Appetit auf kontroverse Debatten und Streit hat, ist letztlich verständlich - angesichts der Weltlage und der Situation im Gastgeberland USA. Ob "irreversibel" sich für die Schlusserklärung durchsetzen kann - am Donnerstag weiß die Weltöffentlichkeit mehr. Und vielleicht hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seiner Bilanz doch noch ein paar Überraschungen parat. Das wäre Grund zur Freude - nicht nur für die Presseabteilung.

Quelle: ntv.de

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