Atompriester und Quarzkristalle Wie bewahrt man Informationen für mehr als 500 Jahre?
08.04.2023, 09:06 Uhr Artikel anhören
Castor-Behälter in einem atomaren Zwischenlager. Weltweit gibt es bislang kein betriebsbereites Endlager für hochradioaktive Abfälle.
(Foto: picture alliance/dpa)
Am 15. April gehen die letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland vom Netz. Doch das Kapitel Atomenergie ist damit noch lange nicht zu Ende, der nukleare Abfall muss noch einen langen Zeitraum sicher gelagert werden.
Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) hat den Auftrag, die Informationen über den deutschen Atommüll für mindestens 500 Jahre aufzubewahren, besser für eine noch deutlich längere Zeit. Die Aufgabe ist anspruchsvoll: Die Sprache wird sich verändern, die Gesellschaft wird sich verändern, und es ist völlig unklar, ob es überhaupt noch Staaten geben wird, die in der Lage sind, Archivbestände zu erhalten, sagt Jochen Ahlswede im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Ihr Job beim Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung ist es unter anderem, dafür zu sorgen, dass aktuelles und künftiges Wissen zur Entsorgung radioaktiver Abfälle in Deutschland nicht verlorengeht. Um welche Zeiträume geht es da?
Jochen Ahlswede: Hochradioaktive Abfälle sind in Zeiträumen gefährlich für Menschen, Tiere und Umwelt, die nach menschlichem Ermessen unendlich sind. Das gesetzliche Ziel lautet, für diese hochradioaktiven Abfälle Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jahre herzustellen. Und für mindestens fünfhundert Jahre soll es möglich sein, den radioaktiven Abfall aus dem verschlossenen Endlager zu bergen. Zu den Aufgaben des BASE gehört deshalb auch, möglichst alle Informationen für nachfolgende Generationen aufzubewahren, die mit den Fragen der Sicherheit des Endlagers zusammenhängen.

Jochen Ahlswede leitet die Abteilung Forschung / Internationales im Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE).
(Foto: BASE)
Wie viele Generationen betrifft das?
Die nächsten zwei bis drei Generationen werden damit zu tun haben, ein Endlager zu bauen, zu betreiben und am Ende zu verschließen. Die nächsten zwanzig Generationen sollen die Möglichkeit haben, die Abfälle bergen zu können, falls dies notwendig oder erwünscht sein sollte - solange muss die Informationsweitergabe mindestens organisiert werden. Und wenn man an die eine Million Jahre denkt, die das Endlager sicher sein soll, dann geht es um 30.000 Generationen. Profitiert von der Atomkraft haben aber nur gut zwei Generationen.
Wer über 50 ist, hat vielleicht zuhause noch eine Floppy-Disk, mit der er nichts mehr anfangen kann - soll heißen, es kann schnell gehen, dass Datenspeicher veralten. Auf welchen Speichermedien wollen Sie die Informationen hinterlassen?
Informationen über einen so langen Zeitraum aufzubewahren, ist eine Aufgabe, die es in der Menschheitsgeschichte in dieser Form noch nicht gegeben hat. Die ältesten erhaltenen schriftsprachlichen Informationen der Menschheitsgeschichte sind Tontafeln mit Keilschrift. Die sind rund fünf- bis sechstausend Jahre alt. Wir müssen uns also etwas Neues überlegen. Klar ist, dass man dabei möglichst redundant vorgehen sollte.
Was bedeutet das?
Das heißt, Informationen auf möglichst unterschiedliche Art und Weise zu speichern, um Vor- und Nachteile von unterschiedlichen Speichermedien auszugleichen. Das BASE wird zum einen Papier verwenden, um Informationen für mehrere hundert, vielleicht bis zu tausend Jahre aufzubewahren - kein handelsübliches Papier, sondern eine Kombination aus speziellem Papier und Schreibstoff. Aber natürlich kann Papier beschädigt werden, zum Beispiel durch einen Brand. Wir werden deshalb auch digitale Speichermedien nutzen. Die haben den Vorteil, dass sie große Informationsbestände aufnehmen und leicht kopiert werden können, zugleich aber den Nachteil, dass sie möglicherweise für nachfolgende Generationen nicht mehr lesbar sein werden. Meine BASE-Kolleg:innen werden sich auch anschauen, welche alternativen Medien es gibt. Beispielsweise könnte man Schrift auf Keramik auftragen oder spezielle Quarzkristalle verwenden, um dort Informationen zu speichern. Diese Materialien sind widerstandsfähiger als Papier und haben damit Vorteile, wenn Informationen über einen sehr langen Zeitraum erhalten werden sollen.
Und wo sollen diese Speichermedien aufbewahrt werden?
Unser gesetzlicher Auftrag sieht vor, die Informationen über das Endlager an mindestens zwei voneinander getrennten Orten aufzubewahren. Das BASE wird also Archive an mindestens zwei Orten in Deutschland einrichten - wo, das steht noch nicht fest.
Um was für Informationen geht es da?
Der Auftrag lautet, möglichst alle Informationen, die wichtig sein könnten, für mindestens fünfhundert Jahre zu speichern. Das betrifft etwa das Suchverfahren für ein Endlager und die Zusammensetzung über die radioaktiven Abfälle. Im Laufe der Zeit werden zahlreiche Informationen dazukommen, wenn es an den Bau, den Betrieb und den Verschluss des Endlagers geht. Aber natürlich kann man nicht damit rechnen, dass all diese Informationen für Hunderte oder Tausende von Jahren vollständig verfügbar bleiben. Deshalb werden wir die allerwichtigsten Informationen in einem "key information file" zusammenstellen: Was für Abfälle sind hier gelagert? Wie gefährlich sind sie? In welcher Tiefe lagern die? Diese Schlüsselinformationen werden wir an vielen Orten in der Bundesrepublik deponieren, sodass die Wahrscheinlichkeit maximiert wird, dass nachfolgende Generationen darauf zugreifen können. Eine Garantie dafür gibt es aber bei so langen Zeiträumen nicht. Wir wissen nicht, wie Gesellschaften sich entwickeln, wir wissen nicht, ob es Kriege geben wird, ob Grenzen verschoben werden, ob es überhaupt noch Staaten geben wird, die in der Lage sind, Archivbestände zu erhalten.
Wäre es nicht sinnvoll, solche Informationen auch international zu sammeln, mindestens auf europäischer Ebene?
Die nukleare Entsorgung liegt in der Verantwortung der Nationalstaaten. Aber in der Tat müssen wir, wenn wir ein Endlager in Betrieb nehmen - erst recht, wenn es in Grenznähe zu einem anderen Staat liegt -, darüber nachdenken, dass entscheidende Informationen nicht nur in einem Land gespeichert werden. Die Schlüsselinformationen beispielsweise sollten auch international an verschiedenen Orten aufbewahrt werden.
Bei so langen Zeiträumen ist davon auszugehen, dass sich die Sprache verändert - das achthundert Jahre alte Nibelungenlied etwa ist für ein heutiges Publikum kaum noch verständlich.
Das stimmt. Wir werden daher wichtige Informationen in unterschiedlichen UN-Sprachen archivieren, um dieses Risiko abzumildern. Aber auch diese Sprachen werden sich verändern, und das kann noch schneller gehen als achthundert Jahre: Schon die fünfhundert Jahre alte Lutherbibel ist heute nicht mehr leicht zu verstehen. Wir müssen also unterschiedliche Wege gleichzeitig beschreiten - daher der Rückgriff auf mehrere Sprachen, in der Hoffnung, dass künftige Generationen Teile davon noch verstehen werden. Und wir werden nicht allein auf Schriftsprache setzen, sondern auch mit Symbolen arbeiten, die beispielsweise eine Gefährdung an einem Standort transportieren sollen.
Warum verschließt man die Endlager nicht einfach so, dass niemand mehr drankommt?
Das ist das Ziel der tiefengeologischen Endlagerung: Den gefährlichen Abfall durch Gesteinsbarrieren so einzukapseln, dass er nicht mehr zugänglich und die Biosphäre vor ihm geschützt ist. Die Geologie soll dauerhafte Sicherheit gewährleisten, damit die Lagerstätte nicht auf aktive Nachsorge durch Menschen angewiesen ist, die über so lange Zeiträume extrem unwahrscheinlich wird. Aber natürlich müssen wir mit der Situation rechnen, dass es ein unbeabsichtigtes Eindringen gibt, weil zum Beispiel an einem Standort versehentlich gebohrt wird. Das wollen wir mit der Informationsweitergabe verhindern. Und wir wollen es späteren Generationen ermöglichen, informierte Entscheidungen über den Umgang mit dem Atommüll zu treffen: Vielleicht wollen spätere Gesellschaften die nuklearen Abfälle anders entsorgen.

Ein solches Schild wird nicht reichen, um die nächsten Generationen über den Umgang mit nuklearem Abfall zu informieren.
(Foto: picture alliance / CHROMORANGE)
Warum fünfhundert Jahre, warum nicht vier- oder sechshundert?
Dieser Zeitraum ergibt sich daraus, dass der nukleare Abfall für fünfhundert Jahre bergbar sein soll: Künftige Generationen sollen möglichst noch intakte Behälter vorfinden, wenn mit diesen Abfällen vielleicht etwas anderes geschehen soll, oder weil man bemerkt, dass der Standort entgegen aller Sicherheitsanalysen doch nicht sicher genug ist. Daraus leiten wir ab, dass wir für mindestens diese fünfhundert Jahre die dafür notwendigen Informationen erhalten müssen. Aber wir wollen auch den Generationen danach so viele Informationen wie möglich hinterlassen.
Denken Sie auch darüber nach, dass die Menschheit in ein paar tausend Jahren vielleicht ausgestorben ist, aber Außerirdische kommen und die Endlager aufbohren könnten - also Wesen, die mit menschlicher Sprache und menschlichen Symbolen vermutlich nicht viel anfangen können?
Wir versuchen zwar möglichst viele Eventualitäten vorherzusehen und zu berücksichtigen. Allerdings fehlen uns für dieses Szenario doch die Anhaltspunkte, sodass wir uns auf den Schutz von Mensch und Umwelt in der Umgebung des Endlagers konzentrieren.
Auf Ihrer Webseite findet man diesen kurzen Comicstrip von Jon Lomberg, der einen Mann zeigt, der sich in der Nähe eines radioaktiven Gegenstands aufhält und stirbt. Aber um die Bilder zu verstehen, muss man das Zeichen für Radioaktivität kennen, oder nicht?
Jedes solcher Bilder muss mit Symboliken arbeiten. Bei diesem beispielhaften Comicstrip aus den 1990er Jahren geht es darum, mit einfacher Bildsprache zu zeigen, dass an einem bestimmten Ort Material gelagert ist, das für Menschen gefährlich ist. Diese Bilder sind aber vor allem ein historisches Beispiel dafür, wie man Informationen weitertragen könnte. Heute gibt es international kein finales Konzept, mit dem sich die Staaten auf den Weg machen, um diesen Informationserhalt zu organisieren. Wahrscheinlich wird es auch nie die eine Idee geben, die alle Fragen löst.
Es gibt noch keine beschlossenen Warnschilder?
Nein, weltweit gibt es noch keine Warnschilder für Endlager - es gibt ja auch noch kein betriebsbereites Endlager für hochradioaktive Abfälle. Historisch gibt es ein paar Ideen, die immer wieder in Fachdiskussionen zu finden sind. Das geht zurück in die 1970er und 80er Jahre, als überlegt wurde, wie die Markierung eines Endlagerstandort aussehen könnte. Zum Beispiel gab es den Vorschlag, Endlager mit großen architektonischen Merkmalen zu versehen, etwa mit einem Feld aus riesigen Metalldornen, die man an der Oberfläche über dem Endlager aufstellt, damit sie eine abschreckende Wirkung haben.
Der amerikanische Atomsemiotiker Thomas Sebeok hat Anfang der 1980er-Jahre vorgeschlagen, eine "Atompriesterschaft" zu gründen, deren Aufgabe es wäre, das Wissen über die nukleare Strahlung zu bewahren. Für die Öffentlichkeit sollten die Atompriester eine Legende am Leben halten, der zufolge die Orte der Endlager gefährlich sind. Wird so etwas noch ernsthaft verfolgt?
Die Atompriesterschaft ist ein etwas skurril anmutendes Beispiel dafür, wie man den Informationserhalt organisieren kann. Die grundlegende Idee dahinter ist aber auch heute noch relevant: Sie geht davon aus, dass es nicht ausreicht, schriftliche Zeugnisse oder Symboliken in Archiven aufzubewahren, sondern dass wir für diesen Bewusstseinserhalt auch ein kulturell verankertes Wissen brauchen - ein lebendiges Wissen in der Gesellschaft, dass durch Menschen selbst weitergegeben wird und nicht nur auf Aktenbestände in irgendwelchen Lagern zurückzuführen ist. Darüber, wie man das optimal organisieren kann, wird immer noch diskutiert.

In den USA schlug die "Human Interference Task Force" in den 1980er Jahren vor, Endlager mit einem Monument an der Erdoberfläche zu markieren. An den drei Obelisken in der Mitte sollten Warnungen angebracht sein, sie sollten zudem Informationen über den radioaktiven Abfall enthalten.
(Foto: United States Department of Energy)
Gibt es eine Schätzung, wie teuer die Speicherung der Informationen wird?
Im Moment arbeitet das Bundesumweltministerium mit unserer Unterstützung an einer Verordnung für die Langzeitdokumentation. Deshalb machen wir uns derzeit auch Gedanken darüber, wie groß der Aufwand sein wird. Aber eine finale Schätzung gibt es dazu noch nicht. Fünfhundert Jahre Informationserhalt zu organisieren, ist natürlich eine besondere Aufgabe mit wenig Vorbildern. Dies zeigt: Die Nukleartechnologie ist noch lange, nachdem das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet wurde, mit Risiken und auch mit einem Ressourceneinsatz verbunden. Es dauert deutlich länger, das Atomzeitalter abzuwickeln, als die Kraftwerke selber am Netz waren.
Sie selbst sind Physiker und Politikwissenschaftler. Welche Ausbildung braucht man, um sich mit solchen Themen zu beschäftigen?
Was die Aufgaben der Langzeitdokumentation und der Atomsemiotik angeht, haben wir ein sehr interdisziplinäres Team, was die Arbeit besonders spannend macht: Da sind Geowissenschaftler:innen dabei, Informationswissenschaftler:innen und Archivwissenschaftler:innen. Digitale Informationsspeicherung spielt natürlich auch eine große Rolle, so dass wir auch Kolleg:innen haben, die sich speziell damit gut auskennen. Und ein Historiker leitet das Team.
Den Homo sapiens gibt es überhaupt erst seit 300.000 Jahren. Macht Ihnen die Verantwortung, die Ihre Arbeit mit sich bringt, manchmal etwas Angst?
Angst macht die Verantwortung nicht. Wir haben hier eine ziemlich einmalige Aufgabe, die fachlich hochinteressant ist. Natürlich muss allen bewusst sein, dass man die Ergebnisse der eigenen Arbeit im Zweifelsfall nicht miterleben wird. Das muss man aushalten können. Die Menschen, die hier arbeiten, wissen, dass sie sich auf eine sehr wichtige Aufgabe eingelassen haben, nämlich Sicherheit für kommende Generationen zu schaffen. Wir stehen am Anfang einer Aufgabe, die andere Expertinnen und Experten weiter führen werden. Daran ändert auch der jetzt anstehende Atomausstieg nichts. Für uns beginnt die eigentliche Arbeit erst.
Mit Jochen Ahlswede sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de