
Am Ende landen die Aktivisten in Gewahrsam.
(Foto: REUTERS)
Tag für Tag blockieren Klimaaktivisten die Stadtautobahn in Berlin. Für die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft kleben sie sich selbst auf den Asphalt und nehmen Nächte in Gewahrsam in Kauf. Etwas haben sie mit dieser Aktion bereits erreicht.
"Verhaltet euch unauffällig", mahnt die Klimaaktivistin Carla Hinrichs per SMS, kurz bevor es losgeht. "Sonst gefährdet ihr die Aktion." Rund ein Dutzend Aktivisten stehen an einem Mittwochmorgen möglichst weit verteilt auf dem Bahnsteig einer S-Bahn-Station im Berliner Westen. Wie bereits die Tage zuvor wollen sie gleich eine Autobahnabfahrt besetzen, um gegen die Klimapolitik zu protestieren. Per Blickkontakt geben sie sich zu verstehen: Hier nicht, denn die Polizei hat sich bereits stationiert. Nun heißt es warten, ohne die Aufmerksamkeit der Beamten auf sich zu ziehen. Die Situation erinnert an einen Spionagefilm - nur mit bunten Rucksäcken, Wanderstiefeln und Wollsocken. Als andere Gruppenmitglieder schließlich einen freien Zugang zur A100 gefunden haben, muss es schnell gehen: Innerhalb von Minuten sitzen acht junge Männer und Frauen auf dem Asphalt der Stadtautobahn - und die ersten Autos rollen auf sie zu.
Den Fahrern halten sie ein Banner mit der Aufschrift "Essen retten, Leben retten" entgegen. Als ersten Schritt zur Einsparung von CO2 und zur Bekämpfung von Hungersnot fordern die Aktivisten ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung. Supermärkte sollen verpflichtet werden, unverdorbenes Essen zu spenden. Die Gruppe bezeichnet sich als "Aufstand der letzten Generation", rund 50 Mitglieder hat sie nach eigenen Angaben in der Hauptstadt - von Studenten über Kirchenmusiker, Bankangestellte und Rentner. Ihr Ziel ist es, die Klimakatastrophe abzuwenden. Dafür wollen sie "so lange stören, bis die Regierung ihren Job macht". Seit zweieinhalb Wochen ist die A100 in Berlin als meistbefahrene Autobahn Deutschlands ihr zentraler Ort dafür.
"Warum die Autobahn? Ganz einfach, weil wir die größtmögliche Störung wollen", sagt Carla Hinrichs, die als Sprecherin der Gruppe am Straßenrand steht. Eigentlich studiert die 25-Jährige Jura in Bremen. Seit zwei Jahren wohnt sie nun schon aber in Berlin, weil "ich mir nicht vorstellen kann, das System weiterzustudieren, das uns in den Kollaps drängt". Aktionen wie die Straßenblockaden seien notwendig, um an die Regierung zu appellieren. "Wir saßen schon vor den Ministerien, wir waren bei Fridays for Future und haben Lebensmittel aus Mülleimern gerettet", sagt Carla, während sich ihre Augenbrauen zusammenziehen. "Aber es hat alles nichts gebracht." Die Autofahrer, die nun unfreiwillig Teil der Aktion werden, täten ihr zwar leid, sagt sie. Trotzdem fühle es sich richtig an. "Wir müssen einfach so massiv stören, dass wir nicht mehr ignoriert werden können."
"Mir zittern jedes Mal die Knie"
Dass sie stören, lassen die Autofahrer, die auf der A100 weder vor- noch zurückkommen, sie spüren. Ein Hupkonzert beschallt die Abfahrt, einige rufen den Aktivisten "Verpisst euch" zu. Der Fahrer eines silbernen Citroën ist einer der wenigen, der nicht wütend ist. Er hofft sogar, "dass die Aktion etwas bringt". Trotzdem habe er einen Termin "hier um die Ecke". Den könne er "jetzt vergessen". Ein anderer Fahrer ist weniger geduldig. Er rollt seinen weißen Van mit Mannheimer Kennzeichen noch ein wenig näher an die Aktivisten - gerade mal einen halben Meter vor ihnen kommt er zum Stehen.
"Das ist schon beängstigend", sagt Raúl Semmler. Der 37-Jährige ist Schauspieler und Drehbuchautor in Mannheim, hat schon in einigen ZDF-Serien und Theaterstücken mitgespielt. Statt auf der Bühne zu stehen, sitzt er nun im Schneidersitz auf der A100. In dem Hupkonzert geht seine Stimme beinah unter. "Mir zittern jedes Mal die Knie, wenn ich auf die Straße gehe." Ein paar Mal hat ihn die Polizei schon in Gewahrsam genommen. "Es ist schlimm. Du bist eingesperrt, musst immer fragen, wenn du auf Toilette oder etwas zu essen willst", beschreibt er die Situation. Gerade deswegen habe er viel Verständnis für die Wut der Autofahrer, die "nun auch ein bis zwei Stunden an diesen Ort gebunden sind".
Allerdings gebe es keinen anderen Weg. Raúls bisher ruhige Art ändert sich, er lehnt sich nach vorne, reißt die Augen auf: "Wir haben noch ein bis zwei Jahre", zitiert der Aktivist den Chemiker und Berater der britischen Regierung, Sir David King. "Dann steuern wir auf eine 1,5 bis 2 oder 3 Grad heiße Welt mit Klimakipppunkten und Hungersnöten zu." Als radikal würde er die Straßenblockade nicht bezeichnen, obwohl er seine Hände auf den Asphalt geklebt hat - "mit ganz normalem Sekundenkleber". Schilder mit der Aufschrift "Stopp, geklebt" verraten, dass sich mehrere der Aktivisten so auf der Straße "befestigt" haben.
Zwischenziel erreicht?
Seit dem 24. Januar gab es laut der Polizei rund 30 Blockaden in der Hauptstadt, über 150 Mal habe sie Menschen von Autobahnausfahrten gezerrt, über 200 Anzeigen wurden aufgenommen. Trotzdem will "der Aufstand der letzten Generation" wiederkommen. Tag für Tag "solange bis die Regierung das Essen-retten-Gesetz auf den Weg bringt oder bis wir alle in Gewahrsam sind oder für eine längere Zeit weggesperrt werden", sagt Sprecherin Carla.
Etwas hat die Gruppe bereits jetzt erreicht: Sie bekommt Aufmerksamkeit - sowohl von der Presse als auch von den Politikern. So äußerte Bundesumweltministerin Steffi Lemke auf der Europakonferenz von "Handelsblatt", "Tagesspiegel", "Wirtschaftswoche" und "Zeit" zunächst Verständnis für die Vorgehensweise der Aktivisten. Einige Tage später zieht sie dies nun aber zurück: "Um es klar zu sagen: Ich halte diese Autobahnblockaden für falsch", sagte sie der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft. Auch Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang äußerte im "Tagesspiegel" erst Verständnis für die Gruppe, revidierte ihre Haltung bei "Markus Lanz" jedoch wieder.

Mit einem Lösemittel, Pinsel und Spachtel löst ein Polizist die Hände des Aktivisten.
(Foto: Sarah Platz)
Deutliche Kritik ernten die Blockierer von Bundesjustizminister Marco Buschmann. Dem pflichtet Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir bei: "Ich glaube, dass Straßenblockaden unserem gemeinsamen Ziel schaden."
Routine auf dem Asphalt
Wie geht es in Berlin weiter, nachdem sich die Aktivisten festgeklebt haben? "Die Polizei wird meine Hand vom Asphalt lösen, dann werde ich in Gewahrsam kommen, voraussichtlich bis morgen 22.30 Uhr." Dem Aktivisten auf der A100 huscht ein Grinsen über die Lippen. Es wirkt, als hätte sich selbst in dieser Situation so etwas wie Routine eingestellt.
Das gilt ebenso für die Berliner Polizei. Es dauert keine zehn Minuten, bis die sieben Einsatzwagen an der Autobahnabfahrt stehen. Per Lautsprecher verkündet ein Beamter die Räumung der Versammlung wegen Nötigung im Straßenverkehr und Verstoßes gegen das Versammlungsrecht. Reine Formsache, denn von den festgeklebten Aktivisten hat keiner vor, sich zu bewegen. Eine Beamtin steht bereits mit Spachtel, Pinsel und Lösungsmittel bereit.
"Die kennen wir schon von den letzten Tagen", grinst ein Aktivist. Während zwei Polizisten auf Wolldecken vor einem jungen Mann mit bunter Zipfelmütze knien und versuchen, dessen Hände freizuspachteln, herrscht eine ungewöhnliche Ruhe. Es scheint, als seien es die versammelten Pressevertreter, die den Beamten die meiste Mühe bereiten, weil sie immer wieder von der Autobahn auf den Bürgersteig verfrachtet werden müssen.
Schließlich sind die Hände des Blockierenden freigelegt, geräuschlos tragen die Beamten den jungen Mann in den Einsatzwagen, wo wenige Minuten später - wie bereits angekündigt - auch Raúl landet. Nach gut einer Stunde rast der weiße Van aus Mannheim als erster über die freigewordene Abfahrt der A100. Ein junger Aktivist resümiert das Geschehene: "Das klappt immer besser." Was das heißt? "Die Hände bluten nicht und es gab keine Schmerzgriffe."
Quelle: ntv.de