Ökonom über Putins "Deathnomics" "Kein Russe kämpft fürs Vaterland, alle nur fürs Geld"
11.08.2023, 07:47 Uhr Artikel anhören
Wladimir Putin wird widersprechen, aber Wladislaw Inosemzew ist überzeugt: Russische Soldaten sind Söldner.
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Mit seinem Angriff auf die Ukraine hat Kremlchef Wladimir Putin Zehntausende russische Soldaten in den Tod geschickt. Die meisten von ihnen stammen aus den ärmsten Regionen des riesigen Landes und kämpfen oftmals freiwillig, aber nicht für Vaterland oder ihren Präsidenten, sagt der russische Ökonom Wladislaw Inosemzew im Gespräch mit ntv.de. Er hält die gesamte russische Armee für eine Söldnerarmee. Denn der Kreml, das Verteidigungsministerium und neuerdings auch große Konzerne zahlen den Kämpfern so viel Geld, dass in den armen Regionen neue Häuser und hoch bezahlte Jobs entstehen, selbst wenn sie an der Front sterben.

Wladislaw Inosemzew (l.) war früher Professor an der Lomonossow-Universität in Moskau und von 2009 bis 2011 Berater des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew. Zudem entwarf der Ökonom das Programm von Michail Prochorow, mit dem der Geschäftsmann 2012 bei der russischen Präsidentschaftswahl antrat. Seit Herbst 2021 lebt der Ökonom in Washington, D.C. und ist Berater des Middle East Media Research Institute (MEMRI) in Russland-Fragen.
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ntv.de: Sie beschreiben das russische Wirtschaftsystem in einem Artikel als "Deathnomics", also als "Ökonomie des Todes". Warum?
Wladislaw Inosemzew: Seit die Mobilisierung im vergangenen September begonnen hat, wird in Russland breit diskutiert, warum die Menschen bereit sind, in den Krieg ziehen. Fast zeitgleich wurde damals angekündigt, dass neue Soldaten eine Pauschalzahlung zwischen 200.000 und 600.000 Rubel erhalten, wenn sie sich für den Einsatz melden. Das sind ungefähr 1900 bis 5700 Euro sofort bei der Vertragsunterzeichnung. Mit diesen Zahlungen wollten der Kreml und auch die lokalen Regierungen die Auswanderungswelle stoppen, denn als die Mobilmachung angekündigt wurde, haben viele Menschen das Land verlassen. Es war eine Art Panik.
Weil die Leute wütend waren?
Sie waren eher erschrocken und ängstlich, und die Regierung wollte die Bereitschaft zur Mobilisierung erhöhen. Zuckerbrot geben, nicht nur Peitsche. Als die neuen Rekruten an der Front ankamen, waren Soldaten, die bereits monatelang im Einsatz waren, erstaunt, wie viel Geld sie bekommen, denn ihnen wurden nur 40.000 bis 45.000 Rubel gezahlt. Das sind etwa 500 Euro pro Monat. Die Neulinge, die noch nicht gekämpft hatten, bekamen das Fünffache. Dann wurden die Gehälter angeglichen. Jetzt bekommen alle ungefähr 2000 Euro pro Monat. Das ist für viele russische Regionen sehr viel Geld. Und erst vor Kurzem wurde berichtet, dass die Zahlungen nochmal erhöht werden. Dieses Mal kommt das Geld aber nicht von den Behörden, sondern von den großen Unternehmen. Die russische Eisenbahn, Energieversorger und Unternehmen, die eigentlich Öl, Gas und Nickel fördern, haben begonnen, ihre eigenen Mitarbeiter zu rekrutieren und bieten ihnen an, die Summe mindestens zu verdoppeln. Wenn das Verteidigungsministerium also 200.000 Rubel pro Monat zahlt, bieten die Unternehmen weitere 300.000 Rubel an.
Unternehmen wie Gazprom oder Nornickel bezahlen ihre Angestellten dafür, in den Krieg zu gehen?
Ja, das ist eine ganz neue Entwicklung. Das hat vor zwei, drei Monaten begonnen. Das heißt, dass die gesamte russische Armee inzwischen eine Söldnerarmee ist, nicht nur Prigoschins Truppen. Niemand kämpft für sein Vaterland oder für Putin, alle kämpfen für Geld. Das hat sich sehr geändert. Es gibt auch noch Zahlungen für die Angehörigen der gefallenen Soldaten. Das sind ebenfalls riesige Summen. In einigen Fällen sind sie sogar größer als in den Vereinigten Staaten. Viele Menschen in Russland sehen die Löhne und diese Zahlungen und sind bereit, dafür an der Front ihr Leben zu riskieren.
Und was haben die Unternehmen davon?
Es gibt schon eine ganze Weile eine Kooperation zwischen staatlichen Behörden, dem Kreml und großen Unternehmen. Offiziell ist es eine Partnerschaft, aber eigentlich läuft es so, dass große Unternehmen Projekte der Regierungspartei Einiges Russland oder von lokalen Regierungen bezahlen. Wenn zum Beispiel in Nowosibirsk ein Sportplatz gebaut werden soll, werden die Unternehmen einfach gefragt, ob sie die Kosten tragen: Ihr seid wohlhabend, wir sind Partner - bitte spendet ein bisschen Geld. Das hat 2005 oder 2006 in der zweiten Amtszeit von Putin begonnen und ist inzwischen Normalität. Es ist einfach eine weitere Dienstleistung, die die Unternehmen als Zeichen ihrer Loyalität anbieten.
Kann der Staat den Soldaten denn nicht einfach mehr Geld zahlen?
Doch, aber er kann die Unternehmen auch einfach … "zwingen" ist das falsche Wort. Er "verführt" sie. Und die Unternehmen sind riesig. Gazprom hat 400.000 Beschäftigte, die russische Eisenbahn ungefähr 700.000. Die finden problemlos ein paar Hundert Menschen, um sie an die Front zu schicken. Durch die hohen Zahlungen gehen die Mitarbeiter bereitwillig. Aber die Regierung wird ihre Zahlungen vermutlich bald anpassen müssen. Nachdem mein Artikel veröffentlicht wurde, habe ich viele Nachrichten aus unterschiedlichen russischen Regionen bekommen, dass die Bereitschaft, in den Krieg zu gehen, seit März oder April deutlich nachgelassen hat. Denn zu diesem Zeitpunkt sind die ersten Soldaten tot oder verwundet zurückgekommen und die Menschen haben gemerkt, wie gefährlich der Einsatz ist. Die Zahlungen der Unternehmen scheinen ein neuer Mobilisierungsansatz zu sein.
Es gab zuletzt häufiger Berichte, wonach sich Russland weigert, die Leichen russischer Soldaten nach Hause zu bringen. In einigen wurde impliziert, dass Russland die Entschädigungszahlungen nicht leisten will.
Es stimmt, dass viele Soldaten nicht in Russland, sondern zum Beispiel in Belarus begraben werden. Dort sind viele neue Friedhöfe entstanden. Aber das liegt nicht an den Zahlungen, Russland will einfach verschleiern, wie viele Menschen sterben. Wenn man in einer Stadt mit 30.000 Einwohnern lebt und innerhalb eines Jahres 200 von ihnen im Krieg sterben … das beunruhigt die Bevölkerung. Deshalb werden auch Angehörige, die Entschädigungszahlungen erhalten, gebeten, sich bedeckt zu verhalten und andere Anwohner nicht zu verstören.
Reden russische Familien denn offen über die finanziellen Anreize des Krieges? Setzen sie sich hin und sagen, wie Sie es in Ihrem Artikel beschreiben, dass der Tod an der Front lukrativer wäre als 30 Jahre arbeiten zu gehen?
Der "Deathnomics"-Beitrag von Wladislaw Inosemzew ist im Juli auf Riddle erschienen. Die russisch-englischsprachige Plattform wurde im vergangenen November von Russland zur sogenannten "unerwünschten Organisation" erklärt. Wenig später wurde der Beitrag von der Medien- und Wissenschaftsplattform dekoder ins Deutsche übersetzt. Für seine Arbeit ist dekoder mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Grimme-Preis.
So wie es mir erzählt wird, sind solche Gespräche sehr selten. Natürlich sprechen die Menschen darüber, dass sie zu wenig Geld verdienen und überlegen, ob sie sich einen anderen Job in einer anderen Stadt suchen sollten. Sie reden auch darüber, dass man 600.000 Rubel auf die Hand bekommt, wenn man sich bei der Armee meldet, und noch mal eine Million Rubel zusätzlich, wenn man ein halbes Jahr kämpft. Dann können sie ihre Hypothek zurückzahlen oder ihre Tochter zum Studieren nach Moskau schicken. Das ist normal. Aber niemand zieht in den Krieg, nur um für die Entschädigungszahlung von 10 Millionen Rubel zu sterben. Jeder will überleben. Aber diese Zahlungen sind für viele ärmere Russen wirklich gewaltige Summen.
Trotzdem hat Putin eine Volkswirtschaft erschaffen, in der Sterben für viele Menschen lukrativer ist als leben.
Ich bin mir sicher, dass das nicht seine Absicht war. Aber es gibt Untersuchungen, die eine große Korrelation zwischen dem Durchschnittsverdienst einer Region, der Arbeitslosenquote und der Zahl der Rekruten nahelegen. Die meisten Leute, die einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnet haben, stammen aus den zehn oder elf Regionen mit den niedrigsten Einkommen. In gewisser Weise hat Putin die Wirtschaft in diesen Regionen mit den hohen Zahlungen wiederbelebt. Selbst ranghohe Regierungsvertreter sprechen inzwischen darüber, wie viel Geld in die ärmeren Regionen fließt und dass dort neue Häuser und hoch bezahlte Jobs entstehen. Es gibt auch Hinweise, dass das verfügbare Einkommen und die Konsumausgaben in diesen Regionen gestiegen sind.
Eine sehr zynische Art der Strukturhilfe.
Das stimmt. Die Regierung muss aber die Illusion aufrechterhalten, dass die meisten Menschen freiwillig in den Einsatz gehen. Denn als vor knapp einem Jahr die erste Mobilisierung angekündigt wurde, hat das Verteidigungsministerium sehr viel Druck auf die abgelegenen Regionen gemacht. Viele Menschen in Jakutien, Burjatien oder Dagestan haben sich aber gewehrt und gesagt: Das ist ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Das sind zwei slawische Völker. Wir haben damit nichts zu tun. Warum wollt ihr uns in den Krieg schicken? Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Mobilisierten sehr gering. Seitdem setzt man eher auf Freiwilligkeit.
Weil eine Zwangsmobilisierung zu öffentlichen Unruhen führen könnte?
Das würde ich nicht sagen. Eine direkte Mobilisierung würde eine neue Welle von Auswanderungen auslösen. Die Regierung war wirklich überrascht, wie viele Leute vergangenes Jahr das Land verlassen haben. Es sollen zwischen 700.000 und eine Million Menschen gegangen sein. Wenn sie eine neue Mobilisierung ankündigen, werden es mehr. Das würde der Wirtschaft schaden. In einigen Regionen und einzelnen Branchen gibt es aber schon einen Mangel an Arbeitskräften. Die russische Wirtschaft ist nicht so flexibel wie die amerikanische. Russen sind nicht sehr mobil. Die ziehen nicht für einen neuen Job von Jakutien nach Pskow oder von Astrachan nach St. Petersburg. Dieses Problem will die Regierung nicht verschärfen.
Wie lange kann Moskau diese Form der "Deathnomics" noch fortsetzen?
Noch für eine ganze Weile. Es ist einzig und allein eine Frage des Preises. Wenn die Regierung die Zahlungen erhöht, werden sich viele Russen für den Einsatz melden. Bei der Mobilmachung wurden 300.000 Mann rekrutiert. Verglichen mit der Bevölkerung von insgesamt 145 Millionen Menschen ist das wenig. Mit höheren Zahlungen kann der Kreml bestimmt unkompliziert weitere 500.000 oder 600.000 Menschen mobilisieren. Und weil Wladimir Putin will, dass dieser Prozess reibungslos abläuft, ist das gleichzeitig der bequemste Weg.
Bequem und mit sehr wenig Achtung vor dem Leben.
Ja. Wenn man sich die russische Bevölkerungsentwicklung anschaut, haben in den vergangenen beiden Jahren drei Faktoren eine Rolle gespielt. Der erste und größte Faktor ist die Auswanderung. Der zweite ist ein unglaublicher Rückgang der Geburtenraten, weil alle Angst vor der Zukunft haben. Die Aussichten sind düster. Die Zahl der Gefallenen ist der dritte Faktor, der die russische Bevölkerungsgröße nach unten treibt. Aus demografischer Sicht kann man diese Politik vielleicht noch zwei oder drei Jahre fortsetzen, bis das Problem sichtbar wird. Jetzt aber noch nicht.
Mit Wladislaw Inosemzew sprach Christian Herrmann
Quelle: ntv.de