Wirtschaft

Putins Ökonomie des Todes Für viele arme Russen ist sterben lukrativer als leben

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Kaum ein Russe kämpft für Putin oder Vaterland, sagt Wladislaw Inosemzew.

Kaum ein Russe kämpft für Putin oder Vaterland, sagt Wladislaw Inosemzew.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

In den ärmsten russischen Regionen liegt das Gehalt bei wenigen Hundert Euro im Monat. Deutlich lukrativer ist es, für Wladimir Putin in den Krieg zu ziehen - oder sogar für den Kremlchef zu sterben: Eine Ökonomie des Todes, an der sich neuerdings auch Konzerne wie Gazprom beteiligen.

Wer für Wladimir Putin kämpft, riskiert sein Leben. Daher scheint es nur fair, wenn der russische Präsident seinen Soldaten auch die Lebensversicherung spendiert: Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Kremlchef einen entsprechenden Erlass unterzeichnet hat. Familien von Kämpfern, die mobilisiert wurden oder sich freiwillig an dem Überfall auf die Ukraine beteiligt haben, erhalten im Todesfall gut 30.000 Euro.

Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die der russische Ökonom Wladislaw Inosemzew als die "Ökonomie des Todes" bezeichnet: In Russland ist sterben inzwischen in vielen Fällen lukrativer als leben. Das gilt vor allem für Menschen, die aus den ärmeren Regionen des riesigen Landes stammen, also aus Jakutien im Fernen Osten oder aus Burjatien an der Grenze zur Mongolei. Denn dort liegt das Durchschnittsgehalt bei weniger als 400 Euro im Monat.

Wladislaw Inosemzew (l.) war früher Professor an der Lomonossow-Universität in Moskau und von 2009 bis 2011 Berater des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew. Zudem entwarf der Ökonom das Programm von Michail Prochorow, mit dem der Geschäftsmann 2012 bei der russischen Präsidentschaftswahl antrat. Seit Herbst 2021 lebt der Ökonom in Washington, D.C. und ist Berater des Middle East Media Research Institute (MEMRI) in Russland-Fragen.

Wladislaw Inosemzew (l.) war früher Professor an der Lomonossow-Universität in Moskau und von 2009 bis 2011 Berater des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew. Zudem entwarf der Ökonom das Programm von Michail Prochorow, mit dem der Geschäftsmann 2012 bei der russischen Präsidentschaftswahl antrat. Seit Herbst 2021 lebt der Ökonom in Washington, D.C. und ist Berater des Middle East Media Research Institute (MEMRI) in Russland-Fragen.

(Foto: picture alliance / dpa)

In diesen Regionen werde oft darüber nachgedacht, aus finanziellen Gründen in den Krieg zu ziehen, sagt Inosemzew im "Wieder was gelernt"-Podcast von ntv.de. "Denn wenn sie sich bei der Armee melden, gibt es 600.000 Rubel auf die Hand und nochmal eine Million Rubel zusätzlich, wenn sie ein halbes Jahr kämpfen. Mit dem Geld können sie ihre Hypothek zurückzahlen oder ihre Tochter zum Studieren nach Moskau schicken."

Zynisches Strukturprogramm

Seinen Beitrag hat Wladislaw Inosemzew im Juli im russisch-englischsprachigen Onlineportal Riddle veröffentlicht. Wenig später wurde der Text des früheren Professors der Moskauer Lomonossow-Universität von der deutschen Medien- und Wissenschaftsplattform dekoder übersetzt.

Darin zeichnet der russische Ökonom ein Bild von Russland, das an Zynismus kaum zu überbieten ist: Mit seinem Einmarsch in die Ukraine hat Putin ungewollt ein riesiges Strukturprogramm für die ärmsten russischen Regionen gestartet. Denn von dort stammen die meisten Männer, die einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium in Moskau unterzeichnen und in der Ukraine die Drecksarbeit machen - und ihren Einsatz vielfach mit dem Leben bezahlen.

"Menschen, die Geld brauchen, ziehen bereitwillig in den Krieg", sagt Inosemzew. "Die meisten Kämpfer stammen aus den zehn oder elf Regionen mit den niedrigsten Einkommen. Putin wollte die dortige Wirtschaft natürlich nicht mit den Zahlungen wiederbeleben, aber inzwischen sprechen selbst wichtige Regierungsvertreter darüber, dass sehr viel Geld in die ärmeren Regionen fließt und dass dort neue Häuser und hoch bezahlte Jobs entstehen."

Sold verfünffacht sich

Konkret sieht der Verdienst als Putins Kriegswerkzeug so aus: Wer sich freiwillig für den Einsatz in der Ukraine meldet, bekommt je nach Region 200.000 bis 600.000 Rubel auf die Hand. Das sind ungefähr 1900 bis 5700 Euro. Zusätzlich erhält jeder Soldat einen monatlichen Sold von mindestens 2000 Euro. Das ist dreimal mehr als das russische Durchschnittsgehalt und fast fünfmal so viel, wie russische Vertragssoldaten noch 2019 verdient haben.

Wer also sechs Monate an der Front überlebt, fährt mit fast 18.000 Euro in der Tasche wieder nach Hause. Für dieselbe Summe müssen die Menschen in Jakutien und Burjatien bei einem monatlichen Einkommen von 400 Euro fast vier Jahre lang arbeiten.

Für Putin sterben oder 30 Jahre arbeiten?

Finanziell noch einmal deutlich lukrativer wird der Einsatz, wenn ein Soldat stirbt - jedenfalls für seine Familie. Denn zusätzlich zur neuen Lebensversicherung von 30.000 Euro erhalten die Angehörigen im Todesfall auch eine "Einmalzahlung des Präsidenten", die Putin im März 2022 kurz nach Kriegsbeginn eingeführt hatte. Diese Zahlung liegt bei fünf Millionen Rubel, umgerechnet noch einmal knapp 50.000 Euro.

"Deathnomics"

Der "Deathnomics"-Beitrag von Wladislaw Inosemzew ist im Juli auf Riddle erschienen. Die russisch-englischsprachige Plattform wurde im vergangenen November von Russland zur sogenannten "unerwünschten Organisation" erklärt. Wenig später wurde der Beitrag von der Medien- und Wissenschaftsplattform dekoder ins Deutsche übersetzt. Für seine Arbeit ist dekoder mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Grimme-Preis.

Zudem zahlt das Verteidigungsministerium eine reguläre Entschädigung, falls ein Soldat im Einsatz stirbt. Diese beträgt seit dem 1. Januar 2023 4,7 Millionen Rubel, die Angehörigen erhalten also weitere 47.000 Euro. Schließlich zahlen auch die regionalen Behörden eine Million Rubel, was knapp 10.000 Euro entspricht.

Für die Angehörigen eines Soldaten, der sechs Monate dient und dann stirbt, summieren sich alle Zahlungen von Sold, Versicherungen und Entschädigungen somit auf etwa 14,8 Millionen Rubel oder knapp 155.000 Euro. In den ärmsten Regionen muss man mehr als 30 Jahre lang arbeiten, um auf eine ähnliche Summe zu kommen.

"Die Entschädigungszahlungen an die Familien der Gefallenen sind wirklich riesig, in einigen Fällen sogar größer als in den Vereinigten Staaten", sagt Ökonom Inosemzew. "Viele Menschen in Russland sehen diese Zahlungen und sind bereit, dafür an der Front ihr Leben zu riskieren."

Doch der lukrative Kriegsdienst hat Konsequenzen: Die gesamte russische Armee sei inzwischen eine Söldner-Armee, führt Inosemzew aus. "Niemand kämpft für sein Vaterland oder für Putin, alle kämpfen für Geld. Nicht mehr nur Prigoschins Truppen."

Das überraschte Moskau

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Aber warum überschüttet Wladimir Putin seine Kämpfer mit so viel Geld? Weil seit Kriegsbeginn zwei Dinge passiert sind, mit denen Moskau nicht gerechnet habe, sagt Inosemzew: Erstens, etwa 700.000 bis eine Million russische Männer haben das Land verlassen. Diese Flüchtlingswelle habe die Regierung überrascht. Eine zweite müsse unbedingt verhindert werden, denn das würde der russischen Wirtschaft enorm schaden, erklärt der Ökonom.

Und zweitens, Putin und seine Komplizen versuchen nach wie vor, den Krieg von der wohlhabenden Bevölkerung in Moskau und St. Petersburg fernzuhalten. Aus diesem Grund werden neue Kämpfer noch immer vor allem in abgelegenen Regionen rekrutiert, die man offensichtlich als weniger wichtig erachtet.

Aber viele Menschen in Jakutien, Burjatien oder Dagestan hätten sich vor allem nach Beginn der Teil-Mobilisierung im September gegen den Einsatz gewehrt, sagt Inosemzew: "Das ist ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, zwei slawische Völker. Warum wollt ihr uns in den Krieg schicken?"

Russische Konzerne rekrutieren mit

Also lockt Moskau die Menschen mit - nicht nur für ihre Verhältnisse - großen Summen, die bald noch einmal deutlichen steigen: Einem Bericht zufolge rekrutieren ab sofort auch große russische Unternehmen wie Gazprom, Nornickel oder die russische Eisenbahn unter ihren eigenen Mitarbeitern Kämpfer für die Front - und bezahlen mindestens doppelt so viel wie das russische Verteidigungsministerium.

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Denn zuletzt sei die Mobilisierungsbereitschaft wieder gesunken, sagt Inosemzew. Im März und April seien die ersten Soldaten zurückgekommen, die im September mobilisiert wurden, erklärt der Ökonom. Tot oder verwundet. Dadurch hätten die Menschen gemerkt, wie gefährlich es ist, für Putin zu kämpfen.

Wie lange kann Putin dieses Söldnertum noch aufrechterhalten? Eine ganze Weile, sagt Wladislaw Inosemzew. Denn bei einer Bevölkerung von 145 Millionen Menschen fallen 300.000 Tote kaum ins Gewicht. Der Kreml könne bequem und unkompliziert weitere 600.000 Menschen aus den ärmeren Regionen mobilisieren, bis der Verlust sichtbar wird. Für Putin zu kämpfen, ist einzig und allein eine Frage des Preises.

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Quelle: ntv.de

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