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Hält der Flüchtlingspakt? Erdogan spielt mit leeren Drohungen

Recep Tayyip Erdogan: "Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das."

Recep Tayyip Erdogan: "Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das."

(Foto: dpa)

Auch der türkische Präsident will den Flüchtlingsdeal nicht scheitern lassen. Erdogan braucht die EU. Die ungeschickte Resolution des EU-Parlaments zum Einfrieren der Beitrittsgespräche hilft ihm aber dabei, so zu tun, als hätte er die EU in der Hand.

Die Reaktion Recep Tayyip Erdogans folgt so prompt wie erwartbar. Am Tag nachdem das EU-Parlament sich für einen Stopp der Beitrittsgespräche mit seinem Land ausgesprochen hat, poltert der türkische Präsident: "Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das." Erdogan empfiehlt den Europa-Abgeordneten, sich ihre "leeren Drohungen" zu sparen und droht, den Flüchtlingspakt scheitern zu lassen.

Und jetzt? Zunächst einmal gilt: Es gibt keinen Grund zur Panik. Auch Erdogans Drohung mit einem Bruch des Deals ist leer. Es gilt aber auch: Der Schritt des EU-Parlaments ist zwar ehrlich, strategisch aber ungeschickt.

Ein Scheitern des Flüchtlingsdeals hätte in der Theorie erhebliche Folgen. Erdogan wird es dazu aber nicht kommen lassen – schon gar nicht wegen der Entscheidung des EU-Parlaments.

Balkanroute wäre langfristig kaum zu blockieren

Der türkische Präsident hat gewaltige Ambitionen, für deren Umsetzung er die EU braucht. Erdogan und seine AKP wollen voraussichtlich im Frühjahr eine Verfassungsreform anstoßen: Künftig soll der Präsident umfangreiche exekutive Macht bekommen. Ein alter Plan. Doch in den Wirren nach dem Putschversuch gelang es Erdogan, die nationalistische MHP auf seine Seite zu ziehen. Damit verfügt der Präsident jetzt über die notwendige Mehrheit, um ein Referendum anzuberaumen.

Der Schock, den der Aufstand vom 15. Juli in der Bevölkerung auslöste, der Kampf gegen oppositionelle Medien, der darauf folgte, und Erdogans Gebaren als starker Mann, halfen ihm zudem dabei, die Türken auf diesen Kurs einzustimmen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts MKA Consulting von Anfang des Monats sprechen sich mittlerweile 65 Prozent der Türken für das geplante Präsidialsystem aus.

Gelingt Erdogan die Transformation, erhält der künftige Präsident des Landes nicht nur eine nie zuvor dagewesene Machtfülle. Erdogan schafft zugleich die juristischen Rahmenbedingungen, um selbst für zwei weitere Amtszeiten an der Spitze des Staates zu stehen, also bis zum Jahr 2029. Erdogan wäre dann mit 75 Jahren in bestem Rentenalter – nach beinahe drei Jahrzehnten an der Macht. Er würde so alle Führer der Republik, Gründer Atatürk inklusive, mit Leichtigkeit überbieten. Eine große Vision.

Erdogan braucht die EU

V oraussetzung für ihre Verwirklichung dieser Vision ist aber auch in einer zusehends autokratischeren Türkei der Rückhalt in der Bevölkerung. Den hatte Erdogan in seiner bisherigen Karriere zum einen, weil er sich um die lange vernachlässigten konservativen Muslime im Land kümmerte, vor allem aber, weil er breiten Teilen der Gesellschaft einen wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichte. Langfristig ist Erdogan die Gunst der Massen nur garantiert, wenn er das Erreichte zumindest verteidigt. Ohne die EU wird ihm das nicht gelingen. Zwei Drittel der Auslandsinvestitionen in die Türkei kommen aus Europa. Selbst mit Russlands oder Chinas Hilfe vermag Erdogan diese nicht ohne Weiteres zu ersetzen.

Ganz abgesehen davon kann es Erdogan bei einem Bruch des Flüchtlingsdeals kaum Recht sein, dass sein Reich zu einem Transitstaat für Notleidende aus Syrien, dem Irak und den vielen anderen Krisenländern der Region wird. Erdogan braucht die EU genauso sehr, wie die EU Erdogan braucht.

Leere Drohungen

Die Drohgebärden des Präsidenten sind deshalb vor allem strategischer Natur. Erdogan nutzt sie, um ein Signal der Stärke nach innen zu senden. Dass er es nicht zum Bruch kommen lässt, zeigte sich bereits mehrere Male. Weil der Prozess der Visaliberalisierung für Türken nicht vorankommt, sprach er schon von einem Aus des Flüchtlingspakts. Aber weder im Juni, als eine seiner ersten Fristen ablief, noch im Oktober, als eine zweite verstrich, ließ er den Worten Taten folgen. Solange die EU an dem Flüchtlingsdeal festhält, ist sie gezwungen, dieses Spiel in gewissem Maße mitzuspielen. Europa kann es Erdogan dabei aber leicht und schwer machen.

Die Abgeordneten des Europaparlaments haben ihm eine weitere Vorlage dafür gegeben, Europa vorzuführen, die EU als feindselig, aber im Vergleich zu ihm machtlos, darzustellen. Auch die Drohungen der Parlamentarier sind schließlich tatsächlich "leer". Allen Beteiligten war von vornherein klar: Die meisten Mitgliedsstaaten der EU werden den Antrag des Parlaments nicht mittragen.

Das Ergebnis: Erdogan kann vor seinen Anhängern den starken Mann markieren, seine Chancen, sein Präsidialsystem einzuführen, steigen. Die Demütigung, die Erdogan durch das ideologisch verständliche, pragmatisch aber kontraproduktive Votum der Abgeordneten empfunden haben dürfte, kann er deshalb für sich und seinen Kurs, der europäischen Werten spottet, ausschlachten – und so doppelt und dreifach zurückzahlen. Hinzu kommt: Türken und die EU entfremden sich zusehends.

Geschickter wäre es, wenn die EU-Parlamentarier den Beitrittsprozess als das begriffen hätten, was er seit jeher ist: Der Versuch, die Türkei zu leiten. An einen Beitritt glaub derzeit sowieso niemand. Was heißt das konkret? Klare Kritik einerseits. Aber keine Drohungen, die Gesprächskanäle verstopfen könnten. Und schon gar keine leeren.

Quelle: ntv.de

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