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Legitime Sicherheitsinteressen? In diesem Konflikt ist Putin der Aggressor

Am Montag teilte Putin - hier bei einer Sitzung seines Sicherheitsrats - mit, er wolle noch heute entscheiden, ob er die "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk anerkennt. Danach hielt er eine lange Rede im Fernsehen und tat genau das. Es war eine neue Eskalationsstufe.

Am Montag teilte Putin - hier bei einer Sitzung seines Sicherheitsrats - mit, er wolle noch heute entscheiden, ob er die "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk anerkennt. Danach hielt er eine lange Rede im Fernsehen und tat genau das. Es war eine neue Eskalationsstufe.

(Foto: imago images/ITAR-TASS)

Der aktuelle Konflikt des Westens mit Russland ist keine Folge westlicher Provokationen, sondern geht allein auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin zurück. Welche Motive er dafür hat, seine Truppen an den Grenzen zur Ukraine aufmarschieren zu lassen, ist zweifellos eine interessante Frage. Wichtiger jedoch sind die Fakten: Putin bedroht ein Nachbarland militärisch und versucht, den Westen zu spalten. Im aktuellen Konflikt ist er der Aggressor.

Gegen diese Ansicht gibt es eine ganze Reihe von Einwänden - zum Beispiel die, dass Putins Russland legitime Sicherheitsinteressen habe, dass der Westen das Land in die Enge getrieben habe und die Ukraine historisch zu Russland gehöre. Zehn Einwände und Entgegnungen.

"Putin hat legitime Sicherheitsinteressen, die er jetzt durchsetzen will."

Was Putin will, hat Russland in zwei Vertragsentwürfen klargemacht, die der stellvertretenden US-Außenministerin Karen Donfried am 15. Dezember bei ihrem Besuch in Moskau übergeben wurden. Russland fordert darin einen Verzicht auf eine Ausdehnung der NATO in Richtung Osten (was Schweden und Finnland einschließt), einen Verzicht auf die Aufnahme von Staaten, die der vor drei Jahrzehnten untergegangenen Sowjetunion angehört hatten (das meint vor allem die Ukraine) und einen "Rückzug der militärisch-technischen Infrastruktur der NATO auf den Stand von 1997". Letztlich geht es darum, Europa in "eine russische und eine amerikanische Einflusszone" aufzuteilen. Diese Forderungen beschreiben keine legitimen Sicherheitsinteressen, das Ziel ist ein Zurückdrehen der Geschichte auf die Zeit vor der ersten NATO-Osterweiterung.

Die legitimen Sicherheitsinteressen, die Russland für sich reklamiert, gesteht es den osteuropäischen Staaten nicht zu. Keines der osteuropäischen NATO-Mitglieder wurde von den USA oder wem auch immer gezwungen, dem Bündnis beizutreten. Sie traten bei, weil sie sich von Russland bedroht fühlten und weil sich ihre demokratisch gewählten Regierungen Vorteile für ihre Länder versprachen. Ob sie tatsächlich von Russland bedroht wurden, mag Ansichtssache sein, aber die militärischen Interventionen in Georgien, auf der ukrainischen Halbinsel Krim sowie seit acht Jahren in der Ostukraine zeigen doch, dass Putin keine Probleme darin sieht, in ein Nachbarland einzudringen und Grenzen zu verschieben.

"Aber auf der Krim gab es eine Volksabstimmung."

Ja, aber sie fand nach der Besetzung durch russische Soldaten statt, über deren Existenz Putin vorher gelogen hatte. Die Volksabstimmung war nicht frei. Die Option, dass alles so bleiben sollte wie bisher, stand nicht einmal zur Wahl.

"Russland hat einen historischen Anspruch auf die Krim."

Zu historischen Ansprüchen hat Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine kluge Anmerkung gemacht. Er wies darauf hin, dass Putin "sich ja als Historiker betätigt" habe, was auch bei seinem Treffen mit ihm in der vergangenen Woche "eine große Rolle" gespielt habe. Soll heißen: Aus Putins Sicht sind die Ukrainer und die Russen ein und dasselbe Volk. Scholz betonte dazu: "Wenn wir in den Geschichtsbüchern lange genug zurückgehen, dann haben wir Grund für Kriege, die ein paar hundert Jahre dauern können und unseren ganzen Kontinent zerstören." Der Frieden in Europa könne nur gewahrt werden, wenn Grenzen akzeptiert werden. Die Souveränität und Integrität der Staaten zu akzeptieren, sei "das einzige Prinzip, das Sicherheit in Europa gewährleistet".

"Aber Russland sagt, es bedrohe die Ukraine nicht."

Putins historische Ausführungen über die angebliche "Einheit der Russen und der Ukrainer" sind nicht nur der Spleen eines in die Jahre gekommenen Staatschefs. Sie sind offizielle russische Politik: "Das ukrainische Volk ist für uns ein Brudervolk, es ist praktisch dasselbe Volk", sagt der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew. Ganz unverhohlen stellt die russische Regierung damit die Existenzberechtigung der Ukraine als Staat infrage. Putin macht auch gar kein Geheimnis daraus, dass er Grenzen verschieben will: "Wenn ihr gehen wollt, dann geht, wie ihr gekommen seid", schreibt er an die Adresse der Ukraine, die 1922 bei der Gründung der Sowjetunion kleiner war als 1991, als die UdSSR zerfiel.

"Die NATO muss nur versprechen, dass sie die Ukraine nicht aufnimmt, dann gibt Putin nach."

Die russischen Forderungen gehen weit über diese Forderung hinaus. Und natürlich widerspricht es dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, würden die USA oder die NATO die Ukraine zur russischen Einflusssphäre erklären.

Österreichs früherer Bundeskanzler Sebastian Kurz hat in seiner Zeit als Außenminister mal vorgeschlagen, die Ukraine solle ein neutraler Staat werden, das könne den Konflikt mit Russland lösen. "Wir sind in Österreich mit unserer Neutralität stets sehr gut gefahren", sagte er 2015, dem Jahr nach der Krim-Annexion und nach dem Beginn des Kriegs im Donbass. Doch der Vergleich ist absurd: Die heutige Neutralität Österreichs beruht auf Freiwilligkeit. Ursprünglich war sie erzwungen: Sie war eine Voraussetzung für den Abzug der sowjetischen Truppen aus Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch anders als Österreich damals ist die Ukraine kein Staat, der sich an einem Angriffskrieg beteiligt hat. Zudem ist Österreich als EU-Mitglied fest in das westliche Bündnissystem integriert.

Und grundsätzlich würde ein Nachgeben des Westens Putin wohl kaum zufriedenstellen, sondern ihn eher ermuntern, immer neue Forderungen mit Zwang und Erpressung durchzusetzen. Für Putin geht es auch gar nicht nur um die NATO. Eine demokratische und prosperierende Ukraine wäre auch dann eine Bedrohung für ihn, wenn sie neutral wäre, denn sie würde allein durch ihre Existenz die Defizite des Systems Putin aufzeigen.

"Der Westen hat Gorbatschow nach dem Fall der Mauer versprochen, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen."

Ein Bericht des "Spiegel" scheint diese Annahme zu stützen. In einer Notiz des Auswärtigen Amts vom März 1991 heißt es: "Wir haben in den Zwei-plus-vier Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten." Allerdings wurden solche Absprachen nie in Verträge aufgenommen. Der "Spiegel" formuliert es so: "Vielmehr handelten 1990 viele beteiligte Politiker und Beamte auf beiden Seiten in gutem Glauben."

Sie handelten vermutlich nicht nur in gutem Glauben, sondern auch auf der Basis einer Außenpolitik, die sie in den Jahrzehnten zuvor gelernt hatten - einer Politik, die davon ausgeht, dass Staaten Hinterhöfe haben, dass es Einflusssphären gibt, dass die Welt in Ost und West geteilt ist. In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 wurden zudem Russland Zugeständnisse angesichts der Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarns in die NATO gemacht.

"Trotzdem hätte der Westen Russland nicht durch die Osterweiterung der NATO provozieren müssen."

Dieses Argument bedeutet, dass der Westen hätte hinnehmen sollen, dass Osteuropa russisches Einflussgebiet bleibt. Es unterstellt zugleich, dass es Russland wirklich in erster Linie um seine Sicherheitsinteressen geht. Das mag so sein. Es könnte aber auch sein, dass Putin in erster Linie innenpolitische Gründe für seine außenpolitischen Eskalationen hat. Seine Umfragewerte in Russland gehen seit Beginn der Eskalation jedenfalls wieder leicht nach oben.

"Putin schützt die Russinnen und Russen, die in Nachbarländern leben."

So hat Gregor Gysi neulich im Bundestag argumentiert (pdf). Dieses Argument ist verwandt mit Putins historischem Ansatz. Dass Russland sich als Schutzmacht aller Russinnen und Russen im Ausland versteht, ist nachvollziehbar, auch - zum Beispiel - Irland versteht sich als Heimstatt der irischstämmigen Menschen weltweit. Russland jedoch geht sehr viel weiter: Die seit 2014 gültige Militärdoktrin schließt den Einsatz der russischen "Streitkräfte, anderer Truppen und Organe" zum Schutz von russischen Staatsbürgern außerhalb Russlands nicht mehr aus. Dass Russland fleißig Pässe in den Rebellengebieten in Donezk und Luhansk verteilt hat und dass Putin der Ukraine vorwirft, dort einen "Genozid" zu verüben, könnte die Grundlage für einen weiteren Angriff Russlands auf die Ukraine bilden.

Zugleich verhindert der Kreml eine unabhängige Überprüfung der vermeintlichen Bedrohung der russischsprachigen Bevölkerungen: Weder während der Krim-Krise noch im Donbass durften unabhängige Journalisten oder internationale Organisationen wie die OSZE die Vorwürfe überprüfen. Beweise für einen angeblichen Genozid bleibt Russland schuldig.

"Aber die USA würden doch auch keine Stationierung von russischen Raketen oder Soldaten in ihrer Nachbarschaft akzeptieren."

Auch dieses Argument brachte Gysi im Bundestag: "Niemals würden die USA schwerbewaffnete russische Soldaten auf Kuba und in Mexiko zulassen. Warum billigen Sie Putin keinen Sicherheitsabstand zu?" Das ist klassischer Whataboutism, Gysi lenkt damit vom Thema ab. Erstens steht diese Situation nicht an, zweitens wäre das ein US-Problem, keines der NATO und der Europäer, die sich dazu dann verhalten müssten. Im akuten Konflikt aber muss Deutschland sich mit seinen EU-Partnern zur russischen Politik positionieren, und die ist eine ernsthafte Gefahr für Frieden und Sicherheit und Europa.

"Und was ist mit Nord Stream 2?"

Die Gaspipeline basiert auf der alten sozialdemokratischen Idee von Wandel durch Annäherung. Das meint: Je stärker zwei Staaten oder Blöcke wirtschaftlich verflochten sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es zwischen ihnen zum Krieg kommt. Soweit die Theorie. Wenn allerdings eine Seite anfängt, die Verflechtung auszunutzen, um die andere Seite unter Druck zu setzen, dann funktioniert vielleicht noch die Vermeidung von Krieg. Der angestrebte Wandel findet dann allerdings auf der falschen Seite statt, nämlich im Westen.

Aus heutiger Sicht ist klar: Deutschland und die EU sollten möglichst weniger statt mehr Gas aus Russland importieren. Zumindest, so lange Putins Russland nicht den Grundsatz akzeptiert, dass Frieden auf stabilen Grenzen beruht. Und das kann noch eine Weile dauern: Putin wird im Oktober 70, nach der 2020 geänderten russischen Verfassung kann er noch bis 2036 im Amt bleiben.

Quelle: ntv.de

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