Politischer Illusionskünstler Sebastian Kurz ist auf ganzer Linie gescheitert
02.12.2021, 17:27 UhrEin Rückzug aus freien Stücken, so verkauft Sebastian Kurz das Ende seiner politischen Laufbahn. In Wahrheit sieht er nur mit Verspätung ein, dass er seinen Nimbus endgültig zerstört hat. Er tritt als uneingelöstes Versprechen ab - mit einer denkwürdig schlechten Bilanz.
Sebastian Kurz hat es als Letzter gemerkt. Vor 54 Tagen schon war seine politische Karriere faktisch vorbei, beendet von den Korruptionsjägern der Republik Österreich, die an die Tür des Bundeskanzleramts am Wiener Ballhausplatz klopften. Bestechlichkeit und Bestechung, so lautet der Vorwurf, einige Beweismittel sind schon durchgesickert, und auch wenn am Ende Gerichte das letzte Wort sprechen: All das hätte gleich für mehrere Rücktritte ausgereicht.
Kurz aber machte Anfang Oktober nur einen "Schritt zur Seite", wollte starker Mann in seiner ÖVP und eine Art Schattenkanzler bleiben - eine letzte politische Instinktlosigkeit des Mannes, der seinen Nimbus im Eiltempo ruiniert hat. Als "Wunderwuzzi" gestartet, als jüngster Regierungschef der Welt und smarter rechtskonservativer Gegenspieler zu Angela Merkel bewundert, zieht er sich nun doch komplett aus der Politik zurück - als Gescheiterter.
Alles Berechnung
In seiner Abschiedsrede malte Kurz das Selbstporträt eines Staatsmannes, der sich zehn Jahre für sein Land aufgeopfert hat, dem haltlose Vorwürfe Energie geraubt haben und dem die Geburt seines Sohnes gezeigt hat, dass es Wichtigeres gibt als die Politik. Man muss ihm das erst mal so glauben, nur fällt es unheimlich schwer, wenn man Sebastian Kurz kennt.
Der 35-Jährige war ein Politiker, wie von einem Algorithmus ausgespuckt: jung, slim-fit, Schwiegersohn-tauglicher Auftritt, die Positionen immer haargenau auf die Stimmung in der Bevölkerung abgestimmt. Nicht zufällig bestand sein Team aus Menschen, die in Beratungsfirmen wie Boston Consulting gelernt hatten, wie man nüchtern kalkuliert. Excel-Tabellen statt Überzeugungen, PR statt Substanz, so wurde Österreich in den Jahren unter Kurz regiert. Genauso berechnend erscheint auch sein Rücktritt: Erst als Kurz registrierte, dass niemand mehr auf ihn wartet, nicht einmal in der eigenen Partei, gab er seine Comeback-Pläne auf.
"Message Control", sonst nichts
In Wahrheit brachten die Korruptionsermittlungen Kurz nicht um die "Leidenschaft" für die Politik, wie er behauptet, sondern vor allem um seinen entscheidenden Trumpf: die enorme Popularität unter Mitte-Rechts-Wählern. Zuletzt erklärten in Umfragen nur noch 20 Prozent der Befragten, dass sie Kurz vertrauen. Ein dramatischer Einbruch, nachdem Kurz jahrelang in der Kanzlerfrage uneinholbar vorn gelegen hatte. Seine Beliebtheit führte die ausgelaugte Volkspartei 2017 zum Wahlsieg, den Kurz 2019 nach der Ibiza-Affäre wiederholte - mit einem Traumergebnis von 37,5 Prozent. Der Höhepunkt seiner Karriere, und der Höhepunkt der Kurz-Verehrung im Ausland. "Warum haben wir nicht so einen?", fragte die "Bild"-Zeitung. Junge-Union-Chef Tilman Kuban wollte sich noch kurz nach der Bundestagswahl 2021 ein Vorbild an der Wiener Schwesterpartei nehmen.
Was in den Lobeshymnen gern übersehen wurde: Kurz war ein erfolgreicher Wahlkämpfer, aber kein guter Politiker. Alles, was er anfasste, war auf PR ausgelegt, "Message Control" nannte sich diese Strategie, die kein einziges Problem löste, aber zuverlässig knackige Überschriften und schöne Fotos lieferte.
Trafen die Versprechen des Kanzlers auf die Realität, wurde Kurz immer wieder als politischer Illusionskünstler enttarnt: Zweimal etwa vom Verfassungsgerichtshof, der ein Überwachungspaket und eine Sozialhilfereform kassierte. In Brüssel machte sich Österreichs Kanzler mit ständigen Scheingefechten unbeliebt, mit denen er vom eigenen Versagen ablenken wollte. Als seine Regierung den Impf-Start versemmelte, zettelte er einen Kleinkrieg um die Verteilung der Dosen innerhalb der EU an. Ein klassischer Kurz auch seine vollmundige Ankündigung, bis Juni eine Million Dosen Sputnik einzukaufen - der Vertrag wurde nie geschlossen. Als die Opposition im Juni nachfragte, erklärte er sich für nicht zuständig. Überhaupt, die Pandemie: Schon im Sommer 2020 (sic!) erklärte er sie das erste Mal für beendet, in diesem Sommer dann noch einmal, wenn auch nur für Geimpfte. Das Ergebnis seiner Schönwetterpolitik: desaströse Zahlen und Lockdown Nummer vier.
Eine dünne Bilanz
In seiner Abschiedsrede fielen Kurz selbst ganze drei Meilensteine aus vier Jahren an der Macht ein: eine Steuersenkung für Familien, die vor allem Besserverdienern nützt. Die 60-Stunden-Woche, die vor allem Kurz' Großspendern aus der Industrie nützt. Und die CO2-Bepreisung, ein Herzensprojekt des grünen Koalitionspartners. Die Bilanz einer Ära sieht anders aus.
Ganz zu schweigen von den ganz harten Fakten: den zwei gescheiterten Regierungen und den zwei drohenden Anklagen. Die Große Koalition mit der SPÖ hat der Außenminister Kurz 2017 mit voller Absicht torpediert, um Bundeskanzler zu werden. Die folgende Koalition mit der FPÖ war zwar aus der Not geboren, aber eine Katastrophe mit Ansage. Und auch wenn sich Kurz nun aus der Politik zurückzieht, wird ihn die Zeit noch jahrelang verfolgen - bis die Gerichte über die Korruptionsvorwürfe und den Verdacht auf Falschaussage unter Eid entschieden haben.
Und auch Österreichs politische Landschaft wird die Nachwirkungen der Ära Kurz noch lange spüren. Bei seiner ersten Kandidatur diente er als Projektionsfläche für viele Menschen, die sich einen Neuanfang wünschten. Diese Hoffnungen hat er zerstört - genauso wie das Vertrauen in die Institutionen. In einer Art Vorwärtsverteidigung griff er sowohl die Korruptionsstaatsanwaltschaft und den parlamentarischen Ibiza-Untersuchungsausschuss an, ohne jede Rücksicht, und beschädigte damit wichtige Pfeiler der Demokratie. "Es geht nicht um mich, es geht um Österreich", sagte Kurz im Oktober bei seinem Rücktritt als Kanzler. Den Beweis, dass dieser Satz stimmt, hat er Zeit seiner Karriere nie erbracht.
Weil Sebastian Kurz immer mehr ein Versprechen war als ein echter Staatsmann, hinterlässt er keine große Lücke in Österreich. Die Geschichte und die Wähler gehen schnell über Verlierer hinweg, auch seine ÖVP scheint in den letzten Wochen wie aus einem schlechten Traum erwacht. Die Konservativen werden sich neu erfinden müssen, nachdem sie sich Kurz wie einem Messias ausgeliefert hatten. Gut möglich, dass sie Sehnsucht verspüren nach dem einstigen Wunderwuzzi, wenn sie in den nächsten Wahlen zweistellige Verluste einfahren. Umso wichtiger, dass sie sich daran erinnern, wie Kurz gescheitert ist: auf ganzer Linie.
Quelle: ntv.de