
Bundeskanzler Scholz und seine Koalition weigern sich, den zentralen Hebel zu nutzen, der Putin massiv schaden würde.
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Die Ampel macht weiter, wo Merkel aufgehört hat, nur dass es jetzt um Leben und Tod geht. Wenn es auch nur eine kleine Chance gibt, dass dies Russlands Krieg gegen die Ukraine früher beendet, muss der Importstopp sofort kommen.
Eigentlich hatte die Ampelkoalition sich vorgenommen, nächtliche Marathonsitzungen zu vermeiden. "Nachtsitzungen machen Politik nicht besser", sagte Michael Kellner, damals noch Grünen-Bundesgeschäftsführer, im Oktober, als die Koalitionsverhandlungen anfingen. Nun ist es doch passiert. SPD, Grüne und FDP haben eine ganze Nacht durchverhandelt. Das Ergebnis ist ein Entlastungspaket, das "den Menschen in diesem Land das Vertrauen geben" soll, "dass wir in dieser Krise handlungsfähig sind", sagte FDP-Chef Christian Lindner am Donnerstagmorgen.
Alle drei Parteien feierten sich danach für Spritpreissenkungen, günstigere ÖPNV-Tickets oder Energiepreispauschale. Es wirkte fast, als sei Historisches geleistet worden. Doch die Nachtsitzung und ihre Beschlüsse, das sogenannte Entlastungspaket II, machen nicht den Eindruck, als habe die Bundesregierung die Größe der Herausforderung erfasst.
Historisch ist, was noch immer nicht beschlossen wurde. Dass Europa noch immer Woche für Woche Hunderte Millionen Euro nach Russland überweist, während die russische Armee in der Ukraine Krankenhäuser und Wohnviertel dem Erdboden gleichmacht, ist ein fortgesetzter Skandal. Ein Importstopp "ist das wirksamste wirtschaftliche Druckmittel, um Putins Angriffskrieg zu stoppen und eine humanitäre Katastrophe aufzuhalten, wie sie unser Kontinent seit 1945 nicht erlebt hat", heißt es sehr richtig in einem Aufruf an die Bundesregierung, den auch Wirtschaftswissenschaftler unterzeichnet haben.
Mehr Zumutungen wagen
Es ist ein Déjà-vu: Wie vor dem Krieg weigert die Bundesregierung sich, angemessen auf eine sich verändernde Realität zu reagieren. Sie zaudert, statt zu handeln. Der Grund ist schlicht: Furcht vor den Wählerinnen und Wählern. Das ist nicht neu. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihre ganze Amtszeit hindurch versucht, das Volk möglichst nicht mit Zumutungen zu belästigen. Es war der zentrale Fehler ihrer Amtszeit, es ist der Grund, warum Digitalisierung und Energiewende so verschleppt wurden, dass dieses Land schlechter als möglich durch die Corona-Krise kam und sich jetzt nicht folgenlos aus seiner fossilen Abhängigkeit von Russland befreien kann.
Denn natürlich hätte ein Embargo Folgen. Die Bundesregierung tut derzeit so, als drohe Deutschland dann der Ruin. Das ist wahrscheinlich falsch; zumindest hat eine ganze Reihe von Ökonomen erhebliche Zweifel daran, darunter die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Auch die Leopoldina geht davon aus, dass ein Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft "handhabbar" wäre. Neun Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler haben zudem mögliche Szenarien durchgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass ein Energieembargo einen BIP-Rückgang von schlimmstenfalls drei Prozent zur Folge hätte. Das ist nicht nichts, aber es ist nicht das Ende der Bundesrepublik als Industrienation.
Als die Ampel versprach, sie werde das Land modernisieren und "mehr Fortschritt wagen", hieß das auch: mehr Zumutungen wagen, denn ohne Zumutungen ist Fortschritt nicht möglich. Nun bricht die Bundesregierung ihr implizit gegebenes Versprechen. Sie weigert sich, den zentralen Hebel umzulegen, der Putin massiv schaden würde. Und sie stellt dieses Festhalten als alternativlos dar. "Denn wir müssen ja sehr klar sein", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich: "Es kann sein, dass es sich nicht um eine kurze Angelegenheit handelt, sondern um eine längere Auseinandersetzung. Dann müssen wir alle gemeinsam das durchhalten." Richtig, das müssen wir. Da hilft es allerdings nicht, wenn der Bundeskanzler das Narrativ verbreitet, wir seien russischen Energielieferungen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Zumal es sein kann, dass Putin uns das Gas von sich aus abdreht. Wer dann die alten Zitate von Scholz, Habeck, Baerbock und Lindner raussucht, könnte in Panik geraten.
Gesprächsstoff für Donnerstag
Dazu gibt es keinen Anlass, im Gegenteil. Wenn auch nur die kleinste Chance besteht, dass ein Öl- und Gasembargo den Krieg verkürzen kann, dann muss die Bundesregierung sie ergreifen. Dazu gehört, diese Position zu erklären, für sie zu kämpfen. Das Entlastungspaket, das die Ampel in ihrer Nachtsitzung beschlossen hat, dient einem gänzlich anderen strategischen Ziel: Dem Signal, dass alles bald so normal wird, wie es früher einmal war. Die Bürger sollen beruhigt werden. Am Wochenende sind schließlich Landtagswahlen im Saarland. Bis die Zeiten wieder "normal" werden, wird es noch eine ganze Weile dauern, und ja, ohne Opfer wird es nicht gehen. Deshalb wäre zu diesem Zeitpunkt eine Rede, in der Scholz das Land auf Härten vorbereitet, sinnvoller gewesen als finanzielle Entlastungen.
In ihrer hysterischen Rhetorik sehen Putin und seine Minister den Westen in einem "totalen Krieg" gegen Russland, und natürlich ist das nur die übliche spiegelbildliche Verdrehung der Putin-Propaganda. Den realen Krieg, der in Putins Reich nicht so genannt werden darf, hat Russland begonnen, und es führt ihn so unmenschlich, dass allein deshalb schon jedes Geschäft mit ihm unterbleiben sollte. Der Einwand liegt nahe: Das gilt auch für andere Weltregionen, für Katar beispielsweise. Doch der Satz von Präsident Selenskyj, dass die Ukraine Europa verteidigt, ist mehr als eine hohle Phrase.
Putins Russland ist zuzutrauen, dass es den Krieg in weitere Länder trägt, nach Moldau, Georgien, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Und dann? Wer sich einreden möchte, dass dieses Regime sich mit guten Worten und Nachgiebigkeit besänftigen ließe, ist auf einem gigantischen Holzweg. Ob die Ukraine kämpft, ist allein die Entscheidung der Ukraine. Aber solange sie es tut, kämpft sie in der Tat auch für uns. Wir schulden es ihr, sie mit ordentlichen Sanktionen zu unterstützen. Das ist ganz wörtlich gemeint: Wir schulden es der Ukraine. Denn es ist unser Geld, mit dem Putin seine Macht so lange kaufen konnte.
Deutschland ist nicht das einzige, aber das größte Land, das bei diesem Thema in der EU auf der Bremse steht. Am kommenden Donnerstag empfängt Scholz den österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer, der erst am Donnerstag sehr deutlich gemacht hat, dass sein Land einem Embargo nicht zustimmen werde. Scholz sollte versuchen, den Kollegen umzustimmen. Der erste Schritt wäre, endlich einzusehen, dass er selbst eine Position verteidigt, für die er sich im Rückblick schämen wird.
Quelle: ntv.de