
Ein Mob in Schlüttsiel hat den Bundeswirtschaftsminister bei der Rückkehr aus dem Urlaub bedrängt, protestierende Bauern zeigen Galgen und bitten Russland um Hilfe. Ich habe Fragen.
2024 beginnt als Jahr der Wut, vorläufigen Höhepunkt bilden Bauernproteste, die Robert Habeck in die Flucht schlagen. Parteiübergreifend herrscht Empörung. Max Frisch und Marcel Proust haben sich die Realität mit einem Fragebogen vorgenommen. Vielleicht klappt das ja auch hier.
- Ist die Politik von Robert Habeck eine derartige Bedrohung, dass es nun nicht mehr ausreicht, friedlich zu demonstrieren?
- Haben Politiker ab einem bestimmten Zeitpunkt das Recht auf private Rückzugsräume verwirkt und ist es da ein noch zu berücksichtigendes Problem, wenn sie Angst verspüren?
- Inwiefern unterscheidet sich der Mob in Schlüttsiel vom Fackelaufmarsch der Corona-Schwurbler am Haus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping vor zwei Jahren?
Seit Jahren braut sich etwas zusammen in Deutschland: Aus dem Gebrodel in den geschlossenen Töpfen bei Whatsapp, Facebook und Telegram wird schaumige, übertretende Gewalt. Viel wurde über die aktuellen Ursachen debattiert: Die CDU unter Friedrich Merz sei schuld, weil sie rechtsextreme Erzählungen vertiefe. Die Ampel sei schuld, weil sie Politik gegen das eigene Volk betreibe. Die globalen Multikrisen seien schuld, weil sie die Menschen überforderten. Nur die Menschen selbst tragen offenbar keinerlei Verantwortung für ihr Handeln.
- Inwiefern fühlen Sie sich bedroht, wenn in den Nachrichten jemand einen Gendergap spricht?
- Halten Sie es für Hetze, wenn der Mainstream die AfD kritisiert?
- Sind Sie der Meinung, dass Medien ihre Anleitungen von der Regierung bekommen oder den Rothschilds?
Es wird ein Wandel der Wut erkennbar. Die "Werteunion" kündigt unter dem leicht irritierbaren früheren Geheimdienstchef Hans-Georg Maaßen an, eine Partei zu gründen. Bündnisgrenzen soll sie keine kennen, von AfD bis Wagenknecht gehe da alles, sagt Maaßen. Es geht nicht mehr um Links oder Rechts, es geht um Ablehnung: Wut schweißt offenbar zusammen. Bei Beobachtern schleichen sich Zweifel in die Köpfe ein, mit jeder Eskalation, jedem Abbröseln im etablierten Parteiensystem: Ist unsere Demokratie womöglich kaputt?
- Glauben Sie, dass Deutschland bald untergeht, und wie viel Schuld trägt daran die Ampel?
- Ist es jetzt soweit, dass eine Partei wie die Grünen samt ihrer Ideen nicht nur etwa schrullig, abseitig, schädlich, falsch und dumm ist, womöglich ideologisch, hysterisch, naiv und verbohrt, sondern ein Angriff auf das deutsche Gemeinwesen?
- Gibt es überhaupt noch Politiker in irgendeiner Partei, denen Sie vertrauen und wenn ja, warum?
Aus dem Gepöbel am Rand ist ein neuer, kompromissloser Hauptstrom geworden. Das zeigt sich auch daran, wie sich Schwurbler und Rechtsextreme bei den Bauern unterhaken. Die üblichen sozialen Netzwerke sind kaum noch benutzbar, sobald man Kritik an der AfD und ihren Satelliten übt. Wer Verschwörungsmystiker in der Pandemie kritisiert, landet auf einer Art Feindesliste - Ihr Kolumnist steht da übrigens auch drauf.
- Wäre es unter Umständen in Ordnung, einen Politiker oder einen Journalisten gewaltsam von seiner Arbeit abzuhalten, wenn er falsche Ideen hat?
- Haben Sie in den letzten 90 Tagen schon einmal konkret darüber nachgedacht, einen Politiker körperlich anzugreifen?
- Denken Sie manchmal, dass ein Politiker den Tod verdient?
Immerhin gibt es wütende Verzweiflung und verzweifelte Wut in praktisch allen Parteien. Mit Fabio De Masi hat sich ein parteiübergreifend sehr respektierter Finanzpolitiker der Linken und emsiger Scholz-Gegner der "Bewegung Sahra Wagenknecht" angeschlossen - und damit bei Wegbegleitern und Beobachtern für komplette Fassungslosigkeit gesorgt. Ähnliches gilt für den früheren Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel: Der Sozialdemokrat hat sich mit einem dramatischen Schreiben ins BSW verabschiedet: Das "Modell Deutschland" sei ein Sanierungsfall geworden, schreibt er, er stört sich an Waffenlieferungen, an der Migrationspolitik, an "sozialen Wohltaten".
- Reichen Wahlen nicht mehr aus, um die eigenen Ziele zu verwirklichen und ist es deshalb Zeit für Widerstand im Sinne des Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz?
- Wenn das, was wir erleben, "nur der Anfang" ist, wie man oft in Erwiderungen von Wutbürgern liest, was ist dann eigentlich das Ende?
- Wofür haben Sie eher Verständnis: Wenn man einen Tankstellenangestellten erschießt, der an die Maskenpflicht erinnert, oder einen CDU-Politiker, der seinen fremdenfeindlichen Mitbürgern nahelegt, das Land zu verlassen?
Die Politik- und Sozialwissenschaften debattieren nicht erst seit gestern die "Krise der Demokratie". Sie stellen Bezüge her zur Globalisierung, zur Logik internationaler Finanzmärkte, zu Legitimationsdefiziten der Europäischen Union. Die Folgen einer vermeintlich alternativlosen Politik sind seit knapp zehn Jahren bekannt und dennoch scheint sich die Alternativlosigkeit in politischen Debatten auszuweiten.
- Welche Menschen sollten am besten an die Stelle der Politiker treten, die gerade das Volk für dumm verkaufen - und aus welchen Gründen sollten diese Menschen alles anders machen als die heutigen Politiker?
- Wäre es für Sie im Notfall denkbar, dass man die demokratischen Regeln komplett beiseitelässt und den Reichstag mit Gewalt erstürmt?
- Glauben Sie, es ist Zeit für eine Revolution?
Man mag einwenden, dass Demokratieindizes, etwa derjenige der Weltbank, für Deutschland eher eine Verbesserung der Teilhabe angeben als eine Verschlechterung. Das gilt für die meisten Länder des Westens: Die Demokratie steht recht gut da, jedenfalls nicht wesentlich schlechter.
Aber was ist schon die Wirklichkeit! In der Politik gilt stets: Realität ist das, was kommunizierbar ist. Und gefühlt geht es bergab, mit Demokratie und Wirtschaft. Ökonomisch ist das nicht völlig falsch, je nach Referenzpunkt: Das gänzlich undemokratische China ist dem demokratischen Westen wirtschaftlich davongaloppiert.
Womöglich erleben wir gar keine Krise der Demokratie - vielleicht bekommen die Wutbürger ja die Krise, weil sie in einer leben.
Quelle: ntv.de