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Ons Jabeur - die letzte Löwin Historische Beutejagd für einen ganzen Kontinent

Ons Jabeur hat in Wimbledon noch viel vor.

Ons Jabeur hat in Wimbledon noch viel vor.

(Foto: IMAGO/Xinhua)

Welch eine Demontage: Ons Jabeur frühstückt beim Tennisturnier in Wimbledon Altmeisterin Petra Kvitova in 63 Minuten ab und geht dabei auf eine historische Beutejagd. Die Tunesierin schultert einen gesamten Kontinent - und klaut Boris Becker das Wohnzimmer.

Berberlöwen in freier Wildbahn sind ausgestorben. Es gibt sie nur noch im Exil in Zoos. Die mächtigen Tiere, die größte Unterart der Löwen, herrschten einst über weite Regionen Nordafrikas. Von Ägypten und Libyen über Algerien und Marokko - bis nach Tunesien. Doch eine Löwin überlebte. Aber auch sie ist längst nicht mehr in Tunesien zu Hause, sondern in Arenen auf der ganzen Welt. Und ihre Beute könnte kaum größer sein: Die Tunesierin Ons Jabeur will Tenniskönigin werden und jagt in Wimbledon einen historischen Erfolg. Einen Triumph, für den die 28-Jährige einen gesamten Kontinent huckepack nimmt.

Akrobatisch: Jabeur kann's auch mit dem Fuß.

Akrobatisch: Jabeur kann's auch mit dem Fuß.

(Foto: IMAGO/Shutterstock)

27 Minuten. Mehr muss man über den ersten Satz an sich nicht schreiben. In derselben Zeit, in der andere Tennispartien manches Mal noch beim dritten Aufschlagspiel hängen, weist Ons Jabeur ihre Gegnerin Petra Kvitova derart dominant in die Schranken, dass selbst die stärksten Berberlöwen von der Sinai-Halbinsel bis Rabat nicht schlecht gestaunt hätten. Von Anfang an wissen alle Fans auf den Rängen des Centre Courts: Heute gibt es nur eine Siegerin. Sie kommt aus Tunesien. Und sie hat eine Mission: Endlich den großen Schritt machen und ein Grand-Slam-Turnier gewinnen. Für sich. Für ihr Land. Für ihren Kontinent. Für die arabische Welt.

Am Ende ist es eine Demontage. Zu Beginn allerdings genauso. 6:0, 6:3 gewinnt Jabeur und zieht in die Runde der letzten acht beim Rasenklassiker ein. Nicht gegen irgendwen, sondern gegen Kvitova, eine zweifache Grand-Slam-Siegerin, die an Platz neun gesetzt ist bei dem Turnier in London und zuletzt das Turnier in Berlin und Anfang April die Miami Open gewonnen hatte. Die Tschechin hatte außerdem vier der fünf bisherigen direkten Begegnungen für sich entschieden. Nun aber setzt Jabeur ein Zeichen wie ein Löwengebrüll.

Gefühlvoll wie Zidane

27 Minuten, in denen Jabeur in allen Bereichen besser ist. Kvitova findet überhaupt kein Mittel. Die Zuschauer beim wichtigsten und größten Tennisturnier der Welt staunen nicht schlecht. Immer wieder geht ein Raunen durchs Publikum. "Wenn man gegen jemanden wie Petra 6:0 gewinnt, muss man damit rechnen, im nächsten Satz 6:0 geschlagen zu werden, also habe ich versucht, mir zu sagen, dass das Match im zweiten Satz beginnt", sagt die Tunesierin im Anschluss. "Ich habe einfach weitergemacht, habe versucht, Punkt für Punkt zu spielen. Ehrlich gesagt, lief es sehr gut für mich."

Der letzte Satz bringt es auf den Punkt: Erschöpft und verärgert verlässt die tschechische Altmeisterin den Platz nach dem Debakel im ersten Satz. Jabeur sitzt in der Pause hoch fokussiert und in sich gekehrt auf ihrer Bank, den Blick eisern nach vorn gerichtet. Aufs Ziel, auf die Beute. Plötzlich, ganz die Löwin, springt sie abrupt auf, ihre Gegnerin ist noch längst nicht zurück auf dem Platz. Aber die 28-Jährige zimmert dafür mit ihrem Schläger auf die Luft ein. Ihre gesamte Körpersprache zeigt, dass sie hier nichts anbrennen lassen wird. Dass sie regiert wie einst ihre tierischen Namensvetter, von denen 1922 die letzten in Tunesien geschossen wurden.

Kvitova aber hat die Pause gutgetan. Schnell stellt sie auf 1:0, der Ansatz eines Urschreis folgt. Aber Jabeur kann nicht nur Dominanz. Die Löwin kann natürlich auch kratzen, beißen und kämpfen. Sie joggt zur Bank, nimmt einen Schluck, schnappt sich die Bälle für den Aufschlag - und innerhalb von einer Minute stellt sie auf 1:1. Es folgt ein Weltklasse-Return mit der Rückhand, dazu ein Fehler von Kvitova - Jabeur gelingt das erste Break im zweiten Satz zum 2:1.

Immer wieder ballt sie die Faust bei wichtigen Punkten, will das hier schnell nach Hause bringen und der Gegnerin gar nicht die Chance zum Aufbäumen bieten. Kvitova dagegen lässt die Schultern hängen, weil sie einfach kein Mittel findet gegen die aggressiven Rückhandschläge und die mächtigen Aufschläge der Tunesierin - gegen die Übermacht des Gesamtpakets, das es in der Art selten gibt im Damentennis. Jabeur hat in ihrer so typischen Manier sogar noch Zeit, um für Lacher und Applaus zu sorgen, als sie einen ins Aus getrudelten Ball volley mit dem Fuß kickt, wie es Zinédine Zidane kaum gefühlvoller auf den Fußballplatz hätte zaubern können. Die Fans lieben sie dafür, immer wieder hallen Rufe auf Arabisch und Französisch durchs Rund.

Jabeur - Inspiration und Vorbild

Als Nächstes kracht das 167 Zentimeter große Kraftpaket eine Vorhand Marke Rafael Nadal aufs Grün, die für ungläubiges Kopfschütteln sorgt. 4:1, wieder ein Break. Knapp 50 Minuten sind gespielt und das Ding ist durch. Daran kann auch das einzige Break Kvitovas zum 2:4 nichts ändern. Jabeur antwortet mit einem Return, der Novak Djokovic, bekannt als Rückspiel-König, neidisch machen würde - und verwandelt im Eilschritt nach 1:03 Stunden den Matchball zum Sieg. Damit ist sie die erste Tennisspielerin seit neun Jahren, die dreimal in Folge das Viertelfinale in Wimbledon erreicht. Zuletzt war dies ausgerechnet Kvitova gelungen (fünf Jahre in Folge, 2010 bis 2014) sowie Sabine Lisicki (2011 bis 2014).

Jabeur ist nach Wimbledon gekommen, um zu beenden, was sie im vergangenen Jahr begonnen hat. Damals wurde sie zweite, diesmal soll ein Sieg mehr hinzukommen. Doch für die Tunesierin ist es auch viel mehr als nur ein weiteres Turnier. Viel mehr als der Versuch einer Tennisspielerin, einen Grand-Slam-Titel zu gewinnen. Sie ist auf einer Mission für die arabische Welt und für ganz Afrika. Immer wieder betont sie das. Denn noch nie hat eine Tennisspielerin aus diesen Regionen eines der vier großen Tennisturniere gewinnen können.

Jabeur ist sich auch bewusst, dass sie eine Inspiration für viele talentierte junge Spielerinnen aus ihrem Land und ihrem Kontinent ist. "Ich glaube, wir haben viele talentierte Spieler", sagte sie dieser Tage. "Es ist schade, dass wir sie nicht hier bei den Grand Slams, in Wimbledon, sehen. Ich weiß, dass sie davon träumen. Ich hoffe, dass ich meine Erfahrungen weitergeben und ihnen Ratschläge geben kann, wenn sie professionelle Tennisspieler werden wollen."

Längst ist die Tennisspielerin auch Vorbild für Afrikanerinnen und Afrikaner, für jegliche Art von Menschen aus arabischen Ländern, die allesamt nichts mit dem Sport zu tun haben. Anfang März schlug sie sich auf die Seite von Migranten aus Subsahara-Afrika, gegen die zuvor der Präsident Tunesiens geätzt hatte. "Heute ist der Tag der Null-Diskriminierung", schrieb Jabeur auf Twitter. "Als stolze Tunesierin, Araberin und Afrikanerin feiere ich das Recht eines jeden Menschen, in Würde zu leben."

Beckers Wohnzimmer wird Jabeurs Jagdgebiet

So viel Druck. So hohe Erwartungen. Kann ein Mensch einen ganzen Kontinent schultern? Jabeur hat kein einfaches Jahr. Im Januar flog sie in Melbourne in der zweiten Runde aus den Australian Open und kämpfte danach über weite Strecken der Saison mit Verletzungen. Bei den French Open kehrte sie auf ein gutes Niveau zurück, scheiterte aber im Viertelfinale. In Berlin konnte sie ihren Titel nicht verteidigen, sondern flog in der ersten Runde gegen Jule Niemeier raus.

Der Heilige Rasen aber, er liegt ihr. Was einst Boris Beckers Wohnzimmer war, wird mehr und mehr Jabeurs Spielzimmer. Ihr Jagdgebiet. Die Chinesin Bai Zhouxuan frühstückt sie in der zweiten Runde noch schneller als Kvitova ab, benötigt nur 45 Minuten. Nun der Coup gegen die Tschechin, auf den drei weitere Folgen sollen.

Die 28-Jährige ist schon länger auf der Tour und hat sich beständig gesteigert. Ihr Weg nach oben war hart und steinig, Tunesien ist wahrlich kein Tennis-Land. Als sie aufwuchs, gab es weit und breit keine Tennisakademien oder gar öffentliche Plätze. Jabeur ging in Hotels, um zu trainieren.

"Sie ist ein Vorbild und egal, ob man Tennisspieler oder Tennisfan ist, man wird von Ons Jabeur inspiriert." Diesen Satz sprach während Wimbledon 2022 der siebenfache Grand-Slam-Champion Mats Wilander. Ein Jahr später will Jabeur mehr. Die letzte Löwin will mit dem historischen Sieg inspirieren.

Quelle: ntv.de

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