Vom Fußabtreter zum Favoriten Die erstaunliche Auferstehung der Jaguars
29.10.2023, 08:40 Uhr
Sie sind zwar im Sunshine State zu Hause, dennoch galten die Jacksonville Jaguars viele Jahre als graue Maus der NFL. Keine Stars, kein Erfolg, kaum Zuschauer. Doch nun gibt es um den jungen Quarterback Trevor Lawrence ein aufregendes und erfolgreiches Team.
Manchmal reden sie in Jacksonville noch darüber. Ja, noch immer. Obwohl fast sechs Jahre vergangen sind, seit dem 21. Januar 2018. An jenem Sonntag spielten die Jacksonville Jaguars im AFC Championship bei den New England Patriots. Und sie spielten grandios, führten bis 2:48 Minuten vor Schluss 20:17. Der Super Bowl war erstmals in der Vereinsgeschichte greifbar nahe - für sie, die Jaguars. Ein Franchise, das als Inbegriff für eine graue Maus gilt. Die man beim Aufzählen der 32 NFL-Vereine schon mal vergessen kann - ähnlich, wie etwa den FC Augsburg in der Fußball-Bundesliga. Doch dann kam Tom Brady - und die Jaguars verloren doch noch 20:24.
Dass sie derzeit in Jacksonville wieder öfter über jene Saison, jene Mannschaft und jenes Spiel reden, liegt daran, dass die derzeitige Defensive mitunter an die überragende Verteidigung von damals erinnert. Doch jetzt haben sie - und das ist der große Unterschied - mit Trevor Lawrence endlich auch mal einen richtig guten Quarterback. Und der dirigiert eine Offensive, die mit den Wide Receivern Calvin Ridley und Christian Kirk, Runningback Travis Etienne (bereits sieben Touchdowns) sowie Tight End Evan Engram mehrere Gefahrenquellen hat. Das Ergebnis: sieben Spiele, fünf Siege. Die Jaguars sind Spitzenreiter der AFC South - deren Fußabtreter sie viele Jahre waren - und sie treten heute als Favorit bei den Pittsburgh Steelers an (18.00 Uhr/RTL+), die auch eine Bilanz von 4:2-Siegen aufweisen.
Trainer Pederson redet sogar vom Meistertitel
Ob er einen solchen Saisonstart erwartet habe, wurde Doug Pederson in dieser Woche gefragt. "Ja", antwortete der Trainer und setzte noch ein "ganz ehrlich" hinten ran. Pederson hatte, im Gegensatz zu den Jaguars, 2018 den Super Bowl erreicht. Mit den Philadelphia Eagles. Und er hat ihn sogar gewonnen, 41:33 gegen die Patriots. Seit anderthalb Jahren ist er nun Trainer in Jacksonville. Pederson übernahm ein komplett verunsichertes Team - und formte es zu einem sicheren Playoff-Kandidaten.
Es ist eine erstaunliche Metamorphose, die sie da im Nordosten Floridas hinter sich haben. Doch der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. "Wir wollen nicht nur ein Team sein, dass als Meisterschaftsanwärter gilt, sondern, wir wollen das Team sein, das Meister wird", hebt Pederson hervor. Solche forschen, frechen, selbstbewussten Töne hat es noch nie aus Jacksonville gegeben. Und derlei Ansagen waren vor zwölf Monaten noch nicht denkbar. Nach acht Spielen lautete die Bilanz 2:6, nach zehn Partien 3:7. Nichts, absolut gar nichts deutete darauf hin, dass diese Jacksonville Jaguars noch die Playoffs erreichen würden. Doch dann gewannen sie sechs der letzten sieben Begegnungen der Regular Season. Und wie.
Verteidigung stellt Ligarekord auf
Die Mannschaft hatte die von Doug Pedersen bevorzugte offensive Spielidee ab Ende November verstanden, setzte sie mehr und mehr um. Und die Jaguars hatten sich zu den Comeback-Königen entwickelt. 17 Punkte Rückstand gegen die Dallas Cowboys, zehn Zähler Defizit gegen die Tennessee Titans, neun gegen die Baltimore Ravens - und trotzdem wurden alle Partien noch gewonnen. Und dann kam das Wild Card Game gegen die L.A. Chargers. Ein Spiel für die NFL-Geschichtsbücher. 0:27 lag Jacksonville zurück - gewann aber noch 31:30. Es war das drittgrößte Comeback der NFL-Playoffs-Historie.
Diesen Schwung nahmen sie mit in die neue Spielzeit - nicht nur offensiv, sondern auch defensiv. 16 Mal hat die Verteidigung in den bisherigen sieben Spielen dem Gegner bereits den Football abgenommen - Ligarekord. Elf dieser Takeaways gelangen in den vergangenen vier Spielen, die alle gewonnen wurden. Jene Takeaways, also Footbälle zu erobern - entweder werden sie dem Gegner aus der Hand gerissen oder aber Pässe des Quarterbacks abgefangen - sind ein Verdienst von Bob Sutton. Der 72-Jährige gehört zum Trainerstab für die Defensive. Und er lässt keine Gelegenheit aus, seinen Spielern täglich an das Mantra der Jaguars-Defensive zu erinnern. "Takeaways" heißt es morgens in seiner SMS an die Spieler. Und "Takeaways" ist auch das letzte Wort, das die Profis von ihm hören, bevor sie auf den Trainingsplatz gehen. "Er wird wahrscheinlich für den Rest meines Lebens in meinem Kopf bleiben", sagt Outside Linebacker Josh Allen mit einem Lächeln.
"Gereiftes Team"
Inklusive der gewonnenen fünf Partien zum Ende der vergangenen Punktrunde hat Jacksonville 27 Mal den Football stibitzt. In zwölf Spielen. In der gesamten Saison 2021 war dies nur neun Mal gelungen. Beim 37:20-Sieg gegen die Indianapolis Colts am 15. Oktober trug die diebische Defensive 17 Punkte zum Erfolg bei. "Das ist riesig, die Zahlen sagen alles", meint Pederson erfreut. Der gerade einmal 24 Jahre alte Lawrence bezeichnet die Jaguars als "gereiftes Team". Er wurde bereits in der achten Klasse als Quarterback-Wunderkind bezeichnet und galt schon bei seiner Ankunft 2018 am College in Clemson als potenzieller Nummer 1 Draft Pick. 2021 kam er dann tatsächlich also solcher nach Jacksonville.
Und wer weiß, wo er - und somit die Jaguars - heute bereits wären, hätte es da nicht die unsägliche Saison 2021 unter Trainer Urban Meyer gegeben. Der war ein erfolgreicher College-Coach, hatte unter anderem dreimal die nationale Meisterschaft gewonnen. Viele hatten ihn deshalb als perfekten Mentor für Lawrence angesehen. Doch Meyers erster Ausflug in die NFL wurde nur ein Intermezzo. Seine Art des Coachings funktionierte bei den Profis nicht. Es gab sogar Vorwürfe, er hätte den Kicker des Vereins getreten. Hinzu kam die sportliche Bilanz von 2:11, so dass Eigner Shahid Khan ihn entließ.
Auf Meyer folgte Pederson - und mit ihm kehrten Konstanz, Erfolg und somit jede Menge Selbstvertrauen ein. "So gut die vergangene Saison für uns auch war, wir können noch so viel mehr", betont Lawrence. Er und seine Mitspieler seien durch die Siege, die Comeback-Erfolge und den mutigen Auftritt beim 20:27-Aus im Playoffs-Viertelfinale gegen den späteren Meister Kansas City auf den Geschmack gekommen, sagt der 24-Jährige. "Du sagst dir plötzlich, 'wir können mithalten, wir können diese Teams sogar besiegen'", meinte Lawrence in der Saisonvorbereitung.
Große Konkurrenz durch Florida Gators
Seit 1995 gibt es die Jacksonville Jaguars. Obwohl die Millionenstadt kein NBA-Team, kein NHL-Franchise und auch keine Mannschaft in der MLB hat, sondern neben dem TPC Sawgrass, einem der bekanntesten Golf-Plätze der Welt, nur die Jaguars, waren diese viele Jahre irrelevant - und die nur 30 Autominuten entfernten Strände in Neptune Beach, Atlantic Beach, Jacksonville Beach oder Ponte Vedra Beach für viele deshalb oft weitaus interessanter als das Football-Team. Das lag am fehlenden sportlichen Erfolg, vor allem aber daran, dass der Großraum Jacksonville schon immer Gators Country gewesen ist. Die Footballer der University of Florida sind das beliebteste Team der Region. Sie gibt es bereits seit 1906 - und somit 89 Jahre länger als die Jaguars. Und sie waren zwischen 1995 und 2008 viermal im prestigeträchtigen College-Finale - und gewannen es drei Mal.
Doch diese Jaguars um Trevor Lawrence haben die Chance, die Kräfteverhältnisse in Nordflorida ins Wanken zu bringen. Das Team ist jung, interessant, aufregend - und es ist erfolgreich. Lawrence ist zwar erst 24 Jahre, aber dennoch bereits der Anführer. Er geht voran, er reißt andere mit. Es klingt immer ein wenig klischeehaft, wenn es heißt, dass ein Spieler morgens der Erste sei, der das Trainingsgelände betrete und abends der Letzte, der es verlasse - aber bei Lawrence ist es tatsächlich so. "Trevor möchte ein großartiger Quarterback sein. Und er denkt, dass er das noch nicht geschafft hat. Das motiviert Spieler wie ihn", sagt Pederson.
Dieser William Trevor Lawrence ist nicht nur die Gegenwart der Jacksonville Jaguars, sondern auch die Zukunft. Und er könnte womöglich dafür sorgen, dass ein knapp verlorenes AFC Championship Game aus dem Januar 2018 bald nicht mehr der Höhepunkt der Vereinsgeschichte sein wird, sondern die Menschen in Jacksonville endlich mal über den Super Bowl reden.
Quelle: ntv.de