Schick crasht hinein ins Glück 50-Meter-Tor zerstört schottische EM-Party

Schottland ist zum ersten Mal seit 1998 wieder bei einem Fußball-Turnier dabei. Der Auftakt gegen Tschechien in Glasgow beginn als große Feier - und endet dank des Leverkuseners Patrik Schick in Trauer. Das Comeback der Schotten könnte schnell wieder vorbei sein.

Der Laufsteg des kleinen Mannes war ein Bürgersteig. Genauer gesagt: der Bürgersteig vor dem Café "Honey & Salt" auf der Carmunnock Road im Glasgower Stadtteil Mount Florida, in Sichtweite des Hampden Park. Drinnen, im Café, saß die Kundschaft bei Kaffee und veganen Brownies, draußen stimmte sich das schottische Fußballvolk auf die EM-Partie gegen Tschechien ein, den ersten Aufritt der Schotten bei einem großen Turnier seit 23 Jahren. Ein mittelalter, mittelsportlicher Schotte, im Kilt und mit einer Flasche Wein in der Hand, ging betont langsam vor dem Fenster des Cafés lang, verrenkte die Arme, blieb kurz stehen - ganz so, als wäre er ein Supermodel, kein mittelalter, mittelsportlicher Schotte mit Kilt und Weinflasche. Die Menschen an den Tischen am Fenster registrierten seinen Auftritt mit einem Blick, der sagte: Äh? Was?

Vor dem Anpfiff ist die Stimmung bestens.

Vor dem Anpfiff ist die Stimmung bestens.

(Foto: imago images/PA Images)

Schottland bei einer fußballerischen Großveranstaltung - das ist ja wirklich etwas Unglaubliches. Während der südliche Nachbar England die Jahre seit dem letzten und bekanntlich einzigen Triumph zählt (es sind mittlerweile 55 seit dem WM-Titel 1966), haben die Schotten seit der WM 1998 warten müssen, um endlich mal wieder auf großer Bühne dabei zu sein. Torwart David Marshall versetzte das Land in Ekstase, als er im November im Qualifikations-Playoff gegen Serbien im Elfmeterschießen den entscheidenden Versuch von Aleksandar Mitrović abwehrte und damit Schottlands "23 years of hurt" beendete.

Eine echte Chance auf die K.o.-Runde - oder doch nicht

Noch unglaublicher als die schlichte Präsenz der Schotten bei der EM ist der Umstand, dass sie nicht einfach nur dabei sind, um das Feld aufzufüllen. Dank Premier-League-Profis wie Andrew Robertson vom FC Liverpool, Scott McTominay von Manchester United, Kieran Tierney vom FC Arsenal (fehlte gegen Tschechien verletzt) oder John McGinn von Aston Villa haben sie die aufrichtige Hoffnung, die Vorrunde zu überstehen, zum ersten Mal überhaupt in der schottischen Turnier-Geschichte. Diese Hoffnung hat allerdings einen brutalen Schlag erhalten zum EM-Auftakt. Patrik Schick von Bayer Leverkusen spielte den Party-Crasher mit seinen beiden Toren zum 2:0-Erfolg der Tschechen. Sein zweiter Treffer war ein Kunstwerk, wie man es nur selten sieht. Aus fast 50 Metern hob er den Ball über Marshall ins Netz und schaffte damit etwas, das eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist - er brachte den Hampden Park zum Schweigen.

Eindeutig schottische Fans.

Eindeutig schottische Fans.

(Foto: imago images/Focus Images)

Schottlands Fans waren eigentlich gekommen, um zu feiern: sich selbst, ihre Mannschaft, die Rückkehr in den Kreis ernst zu nehmender Fußball-Nationen, möglicherweise ein bisschen auch die Rückkehr des Lebens. Zum ersten Mal seit November 2019 fand wieder ein Schottland-Heimspiel vor Zuschauern statt, vor 9847 von ihnen, um genau zu sein. Sie machten so viel Lärm, dass man denken konnte, die zehnfache Zahl an Besuchern sei anwesend. Die herrlichste Szene gab es eine Viertelstunde vor Anpfiff, als der Stadion-DJ das Lied "Yes Sir, I Can Boogie" des spanischen Pop-Duos Baccara spielte. Das ganze Publikum tanzte und sang dazu. Der Song ist so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne Schottlands, seitdem die Mannschaft im November nach dem Sieg über Serbien dazu in der Kabine die EM-Qualifikation feierte. Auch Regierungschefin Nicola Sturgeon hat sich als Fan des Lieds geoutet, wenn auch in der Version der Fratellis.

Viele Männer mit verschränkten Armen

Die erste Halbzeit gegen Tschechien verlief noch einigermaßen nach dem Geschmack der Schotten. Die Mannschaft näherte sich dem Tor des Gegners mehrmals passabel an. Nicht wirklich zwingend, aber immerhin. Als Schottland kann man nicht erwarten, einen Gegner an die Wand zu spielen. Schicks ersten Treffer kurz vor der Pause per Kopf konnte das Publikum noch einigermaßen verwinden, doch mit seinem Wunderwerk aus fast 50 Metern kurz nach Wiederanpfiff fiel die Atmosphäre im Hampden Park in sich zusammen. Zu hören war nur noch wenig. Hier ein "Come on, Scotland!", dort eine Beleidigung in Richtung des deutschen Schiedsrichters Daniel Siebert - viel mehr kam nicht mehr vom schottischen Publikum. Wenn man sich umsah auf den Rängen, sah man viele Männer mit verschränkten Armen. Sie sahen aus, als würden sie auf etwas warten. Auf den Abpfiff vermutlich. Der graue Himmel war plötzlich noch etwas grauer, der kühle Wind wehte noch kühler.

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Die Schotten hatten über 90 Minuten mehr Ballbesitz und mehr Schüsse als Tschechien, aber sie verloren verdient und erlebten bei ihrer Turnier-Rückkehr eine Ernüchterung, einen Anti-Klimax. Trainer Steve Clarke, einst Assistent von José Mourinho beim FC Chelsea, sprach hinterher davon, dass die Mannschaften spielerisch nicht weit auseinander gelegen hätten, nur seien die Tschechen eben effizient bei der Chancenverwertung gewesen. "Wir sind nicht bei diesem Turnier, um zu lernen. Aber manchmal lernt man trotzdem seine Lektion. Das kommt vor", sagte Clarke.

Die Niederlage tut weh, denn Tschechien war vom Namen her Schottlands einfachster Gegner in der Vorrundengruppe D. Am Freitag geht es im Wembley-Stadion gegen den großen, zur Überheblichkeit neigenden Nachbarn England, den "Auld Enemy", dann wird Vizeweltmeister Kroatien im Hampden Park vorstellig. Gut möglich, dass das Turnier-Comeback der Schotten nur drei Spiele dauert. Auch die Fans scheinen zu ahnen, dass Schottlands EM eine triste Angelegenheit werden könnte. Nach dem Ende der Partie gegen Tschechien gab es Pfiffe. Keine fünf Minuten später hatte sich das Stadion fast komplett geleert. Nur ein paar tschechische Anhänger waren noch da und feierten mit ihrer Mannschaft. Sie hatten den Gastgeber von dessen eigener Party vertrieben. Und, tatsächlich: über ihnen schien die Sonne.

Quelle: ntv.de

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