
Die Europameister von 1996.
(Foto: imago/Buzzi)
Bei der EM 1996 ließ sich die deutsche Nationalmannschaft auch von einem dramatischen Verletzungspech, tretenden Kroaten oder kräftezehrenden Spielen von ihrem Weg nicht abbringen. Der letzte Europameister-Titel der DFB-Elf war ein Triumph des Mannschaftsgeistes und des unbändigen Willens!
"Balletttänzer proben vor ihren Auftritten wochenlang. Aber von mir erwartet man trotz kurzer Vorbereitung den Titel." Bundestrainer Berti Vogts hatte direkt vor dem Start der Europameisterschaft 1996 in England wohl selbst nicht erwartet, dass es am Ende zum Triumph von Wembley kommen sollte. Doch die deutsche Mannschaft und ihr Coach entwickelten während der Tage und Wochen auf der Insel eine bemerkenswerte Team-Mentalität, die sie schlussendlich zum Gewinn der Europameisterschaft tragen sollte.
Dem Bundestrainer war trotz der kurzen Zeit der Vorbereitung etwas gelungen, auf das eigentlich stets alle Titel-Triumphe fußen. Mehmet Scholl hat während des laufenden Turniers damals bereits erzählt, was das Besondere an dem Team der 96er gewesen ist: "Unser System funktioniert nur, wenn jeder bereit ist, für die Mannschaft zu arbeiten. Alle 22 Spieler hier sind in ihren Vereinen die Stars. Das muss reichen. Bei Berti Vogts muss jeder einen Teil von sich abgeben. Das tut jeder." Und Scholl ahnte damals schon, dass trotz der begrenzten gemeinsamen Zeit daraus etwas ganz Großes erwachsen könnte: "Dafür, dass wir uns nur fünfmal im Jahr treffen, hat Vogts etwas Sensationelles geschaffen."
"Müssen mit Erfolg kritisch umgehen"
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Ähnlich wie heute startete die deutsche Nationalmannschaft im Sommer 1996 sehr vielsprechend in das Turnier. Man schlug die Tschechen mit 2:0 - doch die aufkeimende Euphorie unter den deutschen Fans erstickte Matthias Sammer sofort im Keim, als er meinte: "Wir müssen mit diesem Erfolg sehr kritisch umgehen." Doch nach dem 3:0-Sieg über Russland wuchs das Vertrauen in die DFB-Elf in der Heimat zusehends. Denn Deutschland hatte sich bereits vorzeitig für das Viertelfinale qualifiziert.
Im dritten Gruppenspiel kam das deutsche Team allerdings nicht über ein 0:0-Unentschieden gegen Italien hinaus, das damit aus dem Turnier ausschied. Leise Zweifel, ob die Nationalmannschaft tatsächlich bereits so weit sei, wie man nach den zwei Auftaktsiegen angenommen hatte, machten sich breit. Doch im Viertelfinale sollte sich zeigen, dass Deutschland bei dieser EM den festen Willen hatte, möglichst weit zu kommen.
Denn gegen die Kroaten bedurfte es eines echten Kraftaktes, in einer Partie, die Bayerns Christian Ziege nachher als das "schmutzigste Spiel, das ich je erlebt habe" bezeichnete. Zieges Aussage war allerdings auch kein Wunder, nachdem ihm der kroatische Nationalspieler Slaven Bilic, als er bereits am Boden lag, auf die Schulter trat. Der medial damals groß vertretende Pfarrer Eugen Drewermann verstieg sich nach dieser Aktion zu einem legendären Spruch: "Kein Pferd würde auf den Körper eines Menschen treten, der am Boden liegt. Kroatische Spieler schon."
"Ein Krieg auf Leben und Tod"
Angestachelt von ihrem Trainer Miroslav Blazevic ("Uns steht ein Krieg auf Leben und Tod bevor. Gegen die deutschen Stukas und Messerschmidts werden wir mit Kamikaze-Fliegern antreten") agierten die Kroaten häufig weit über die sonst übliche "internationale Härte" hinaus. Da war es letztendlich kein Wunder, dass mit Igor Stimac in der 57. Minute einer der ihren den Platz vorzeitig mit einer Gelb-Roten Karte verlassen musste. Anschließend schlug die Stunde von Matthias Sammer, der in einem seiner besten Spiele im Dress der deutschen Nationalmannschaft sein Team zum 2:1-Sieg antrieb.
Im Halbfinale wartete schließlich England, doch die deutsche Truppe beschäftigten damals in den Tagen vor der Partie ganz andere Sorgen, als sich Gedanken über den kommenden Gegner zu machen. Denn Bundestrainer Berti Vogts gingen mittlerweile die Spieler aus. Nachdem Jürgen Kohler bereits im Eröffnungsspiel gegen die Tschechen verletzt das Feld hatte verlassen müssen, fielen nun auch Mario Basler, Jürgen Klinsmann und Fredi Bobic aus. Später, vor dem Finale, sollte Berti Vogts schließlich sagen: "Wer aufrecht aus dem Mannschaftsbus aussteigen kann, wird am Sonntag gegen Tschechien spielen." Aber erst einmal musste die deutsche Elf mit dem Gastgeber einen ambitionierten und äußerst engagierten Gegner aus dem Weg räumen.
Am Ende sollte es der erwartet bittere Kampf werden, der schlussendlich bis zum Elfmeterschießen ging. Und da hatte der Bundestrainer plötzlich noch ein ganz besonderes Problem: Berti Vogts musste erst einmal schauen, genug Schützen zusammen zu bekommen, die noch antreten konnten bzw. wollten. Denn der Leader des Teams, Matthias Sammer, lehnte durchaus originell ab: "Ich habe mit dem Elfmeterschießen keine Probleme, solange ich nicht schießen muss. Ich kann das einfach nicht, denn mir gefallen immer beide Ecken." Dafür trat zum entscheidenden Elfer jemand an, den viele zuvor als "Weichei" und "Heulsuse" verschrien hatten.
Eine Partie "selten wie die blaue Mauritius"
Doch Andreas Möller verwandelte sicher und brachte Deutschland so ins Endspiel. Legendär sind die Bilder von ihm nach dem entscheidenden Strafstoß, als sich Möller in Torero-Pose zeigte: "Ich habe das intuitiv gemacht. Das war eine Pose der Stärke und als Zeichen von einer gewissen Dominanz." Andreas Möller war damals in das Spiel als Kapitän gegangen und hatte seine Verantwortung nicht nur in dieser entscheidenden Szene wahrgenommen. Es war mit Sicherheit eine seiner besten, wenn nicht gar die beste Partie im Dress der Nationalmannschaft. Doch nicht nur Möller spielte eine herausragende Begegnung - das ganze Spiel sollte wegen seiner Intensität und Dramatik in Erinnerung bleiben. Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb nach dieser magischen Nacht: "Es gibt in der Geschichte des Balles nur wenige solcher Perlen, selten wie die blaue Mauritius."
Im Endspiel fehlten dem tapferen deutschen Team dann auch noch die gelbgesperrten Andreas Möller und Stefan Reuter. Und so mussten sich nicht wenige Spieler wie Thomas Helmer weit über die normalen Grenzen hinweg in den Dienst der Mannschaft stellen: "Am Samstag habe ich acht Spritzen vorn und hinten ins Knie und noch einige in den Rücken bekommen. Ohne den Doktor wäre mit mir nichts geworden." Doch alle hielten nicht zuletzt wegen der "einzigartigen Kameradschaft" (Stefan Kuntz) durch. Und deshalb konstatierte Helmer hinterher zufrieden: "Wenn es heißt: der Deutsche liegt am Boden - dann gibt er alles!"
"Nimm den Oliver mit. Er wird es dir danken"
Zum großen Helden des Endspiels wurde schließlich Oliver Bierhoff. Seine Nominierung zur EM hatte er - der Sage nach - vor allem der damaligen Frau des Bundestrainers, Monika Vogts, zu verdanken. Die hatte vor dem Turnier in England zu ihrem Mann gemeint: "Nimm den Oliver mit. Er wird es dir danken!" Die weibliche Intuition sollte sich auszahlen. Denn Bierhoff schoss nach seiner Einwechslung nicht nur den wichtigen 1:1-Ausgleich, sondern sorgte in der Nachspielzeit mit dem ersten "Golden Goal" der Fußballgeschichte auch für den Gewinn der Europameisterschaft. Der Ball, der eine seltsame Flugbahn entwickelte und deshalb den Keeper der Tschechen unglücklich aussehen ließ, beschäftige Petr Kouba noch Jahre später: "Das Tor verfolgt mich immer noch in meinen Träumen."
Deutschland hatte sich zwar nicht wie eine Truppe von "Balletttänzer" wochenlang auf das Turnier vorbereiten können, wie es sich Bundestrainer Berti Vogts am liebsten gewünscht hätte, doch am Ende hatten sie alle Steine - und es waren eine Menge - auf dem Weg zum Titel beiseite geräumt. Zusammen. Gemeinsam als Team. Und wie ernst diese Mannschaft das "Zusammen" damals meinte, zeigt eine kleine Anekdote zum Schluss. Berti Vogts hatte wegen der vielen Verletzten für seine beiden Ersatztorhüter Oliver Kahn und Oliver Reck tatsächlich Feldspieler-Trikots anfertigen lassen. Im Falle aller Fälle wären beide bereit gewesen, sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Und so wurde Deutschland zwar kein glänzender Champion, aber ein Europameister, der sich diesen Titel mit viel Herz und Seele komplett verdient hatte.
Quelle: ntv.de